20
Gegen Ende der ersten beiden Wochen lief ich vier Meilen am Tag. Zu meiner Erleichterung war das, was ich für Angina pectoris gehalten hatte, laut Pinkus ein fortgeleiteter Schmerz, der bei Dehnung der interkostalen Bänder entsteht, wenn der Brustkorb sich weitet, was bei Anfängern ganz normal sei. Ich lief die vier Meilen zur Arbeit, glitt den Fahrradweg am Fluß entlang, der nach einem berühmten marathonlaufenden Kardiologen benannt worden war, der in hohem Alter gestorben war. Die Dämmerung brach über der erwachenden Stadt an, und mein PLONKA, PLONKA klang wie der beruhigende Rhythmus meines Lebens.
Aber noch war ich nicht wie Pinkus. Im Gegensatz zu ihm mußte ich noch mit der Station zurecht kommen. Ein Teil von mir war voller Entsetzen über das menschliche Elend und die Hilflosigkeit, der andere Teil war zufrieden. Ich war König in einem kranken, erotischen Königreich, fähig Maschinen zu bedienen. Jede zweite Nacht im Dienst bedeutete, daß es keine Zeit gab, über die Welt außerhalb des House nachzudenken. Die Konflikte auf der Station wurden die wichtigsten Konflikte des Lebens. Die Schwestern? Wie bei Vermeers Dame mit Gitarre, wo das leere Schwarz des Hintergrundes das Kerzenlicht auf den zarten Fingern hervorhebt, so brachte die Krankheit den Sex hervor.
Oft war ich in Variationen desselben erotischen Themas verschlungen: Spät nachts wird das gruselige, künstliche Licht der Station nur von dem grün aufblitzenden Pliep Pliep der Herzmonitoren punktiert. Die Schwester ruft mich aus meinem Bett, damit ich nach einem komatösen Patienten sehe, dessen Körper von einer Maschine betrieben wird, bei der ein Parameter nicht stimmt. Ich folge ihr zu dem Bett und bemerke, daß sie weder BH noch Höschen trägt. Ich setze mein Stethoskop auf den Körper. Ich muß die Brust abhorchen und bitte die Schwester, mir zu helfen. Sie beugt sich vor, beide wuchten wir den Körper in eine sitzende Haltung, die Schläuche baumeln herunter, ich horche die verstopften Lungen ab, die vom Beatmungsgerät aufgebläht werden, meine Finger liegen auf der wächsernen Haut, und ich kämpfe gegen den Gestank der chronischen Krankheit an. Ich rieche ihr Parfüm, Kokosnuß. Unsere Köpfe sind nah beieinander. Ich lasse mein Stethoskop fallen, lege meine freie Hand um ihren Hals, küsse sie. Unsere Zungen gleiten übereinander. Ich lehne meine Schulter gegen den Körper des Patienten und befreie so meine andere Hand. Der Kuß dauert an, ich streichle ihre Brust durch das Baumwollkleid und spüre wie das rauhe Material über ihre Haut kratzt und die Brustwarzen sich aufrichten. Wir trennen uns, der Körper fällt, plumps, zurück aufs Bett. Später, in ihrer Pause, kommt sie zu meinem Bett im Dienstzimmer, hebt ihren grünen OP-Rock, denn zum Ausziehen bleibt keine Zeit. Wir fangen an, unseren Haß, unsere Einsamkeit, unseren Horror vor dem menschlichen Elend und unsere Verzweiflung über das menschliche Ende in dem zärtlichsten, menschlichsten Akt, im Liebesakt, auszuagieren. Ich weiß, daß sie mich haßt, weil ich Arzt bin, weil ich während dieser Schicht dreimal ihren Namen vergessen habe, weil ich Jude bin, der die Verkündigungen ihres Eunuchen-Papstes über »das menschliche Leben« bestenfalls komisch findet, weil ich ihre Station führe, weil sie von Männern wie mir ausgenutzt wird, weil ich immer der Beste in der Klasse war. Wegen all dieses Hasses und wegen der aus Haß geborenen Erregung rammeln wir wild aufeinander los, Haut an Haut, Schwanz in Möse, mit der Verzweiflung zweier Raumfahrer auf einer Reise von Lichtjahren, den Tod am anderen Ende und kein Weg zurück, gefangen in einem Raumschiff aus Chrom und Licht und Computern und Musikberieselung. Sie wird mir nichts von ihrem Haß erzählen, sie wird nicht einmal über ihren Haß gestikulieren, sie wird mich nur ficken wegen dieses Hasses und es damit bewenden lassen. Stöhnend lassen wir die Sprungfedern des Bettes rasseln, abgesichert durch zwei wachsame Mechanismen: ihr IUP und unser beider Fähigkeit, am nächsten Morgen alles vergessen zu haben. Kalifornien, ich komme! Wir kommen. Sie geht wieder an ihre Arbeit, mit einer Röte im Gesicht, die von ihrer Klitoris kommt, nicht vom Herzen.
Im Einklang mit diesem Frühlingsthema von Sex und Tod, stießen die Tage des Passafestes wie acht Aasgeier auf das House of God herunter. Trotz der von Karfreitag und Ostersonntag angebotenen falschen Hoffnung auf Pfingsten, bestand kein Zweifel über Gottes Absicht: Tod. Trotz des technokratischen Vorstoßes in das Leben, spannte Gott seinen Bizeps und Trizeps und vermutlich auch seinen Infiniomnizeps und machte sich mit dem Tod über uns lustig. Während der Feiertage starben die Patienten wie die Fliegen.
Es war unheimlich. Wir arbeiteten wie wahnsinnig an einem Patienten. Es sah aus, als hätte er es geschafft, und dann, bliep, Herzstillstand und Tod. Ich nahm einen Patienten in der Notaufnahme auf, und als ich mein Stethoskop aufsetzte, griff er sich an die Brust, lief blau an und starb. Ich schlief friedlich, und plötzlich, ssss, der Reanimationsalarm. Ich rannte blinzelnd in helles Neonlicht und Musikberieselung hinaus, versuchte meine Schlaferektion zu verbergen und suchte das Zimmer, wo die Panik regierte. Doch natürlich hatte Gott seinen Zug bereits getan und wieder einen kalt gemacht. Nachher, als wir die von Ollie gesammelten Berichte durchgingen, fanden wir, daß trotz all unserer Vorkehrungen ein aberranter Schlag in die vulnerable Phase gefallen war und, pliep – geifernd und arrogant kam der Tod hereinstolziert.
Wir waren alle schockiert. Die Familien der Toten, erst von Hoffnung aufgebaut und dann von Verzweiflung niedergeschlagen, litten jenseits aller Worte. Überrumpelt taumelten und dümpelten ihre von den Ankertauen geschnittenen Herzen in ihrer Brust wie Wollknäuel in leeren Taschen. Sie badeten uns in ihren Tränen. Jo, die Perfektionistin, war schwer angeschlagen. Am vierten Tag des Passafestes war sie außer sich vor Zorn. Sie wehrte sich gegen die entsetzliche Vorstellung, sie persönlich könne dabei versagt haben, die Patienten am Leben zu erhalten. Sie hielt sich an eine Art Phlogiston-Theorie und behauptete, auf der Station sei irgend etwas vergiftet. Als Pinkus kam, überfiel sie ihn mit dieser Idee und bestand darauf, die Station von oben bis unten auseinanderzunehmen, bis das schädliche Agens gefunden sei, das ihre Patienten umbrachte. Pinkus sagte phlegmatisch, sie könne tun, was sie wollte, wenngleich er nicht glaube, daß das der Grund sei. Er ließ mich seine Beine anfassen, und ich sagte:
»Erstaunlich.«
»Der Marathon ist in sechs Tagen. Ab heute pumpe ich mich mit Kohlehydraten voll.«
»Pinkus«, sagte Jo mit großem Nachdruck, die Ringe unter ihren Augen noch schwärzer als sonst, »eins möchte ich hier mal vollkommen klarstellen: Wir werden diesen Krieg gegen den Tod gewinnen.«
Der vorletzte Rückschlag für Jo kam in der fünften Nacht um vier Uhr. Sie blieb gewöhnlich praktisch die ganze Nacht auf, aber der Druck, als erster weiblicher Resident direkt mit dem Todesengel ringen zu müssen, hatte sie ausgelaugt, und da alles unter Kontrolle zu sein schien, hatte sie sich in dieser Nacht für eine Stunde hingelegt. Kurz darauf brach die Hölle los, mit einem Mann namens Gogarty. Ein massiver, funkelnagelneuer Herzinfarkt mit Herzstillstand. Jo wurde gerufen, und mit einem Fanatismus, den die Station noch nie gesehen hatte, verbrachte sie eine Stunde damit, das Opfer mit einer Vier-Sterne-Therapie ins Leben zurückzuzwingen. Unglücklicherweise erwies sich Gogarty als Ablenkungsmanöver, denn als Jo und die Schwestern sein Zimmer verließen, was erblickten da ihre müden Augen? Die alte Lady Zock lag mausetot, Arme und Beine von sich gestreckt, mit der Nase auf den Fliesen der Station. Was war passiert? Die alte Lady Zock hatte den Aufruhr in Gogartys Zimmer gehört und wollte in einer letzten philanthropischen Geste hilfreich bei der Reanimation einspringen. Der herzzerreißendsten Regel des House of God entsprechend: Gomers gehen zu Boden, hatte sie genau dies getan, dabei ihren Herzschrittmacher, der ihr großzügiges Herz in Bewegung hielt, abgerissen und war gestorben. Die letzte Ironie, typisch für Jos Leben, war, daß sie selbst darauf bestanden hatte, alle Schwestern zu Gogarty hinzuzuziehen, so daß sich niemand um Lady Zock kümmern konnte. Wenn aber ein Zock vernachlässigt wird, so erbebt Gottes Haus.
Am nächsten Morgen gab es einen Riesenwirbel. Die Zocks erhoben sich gegen die Medizin. Schuldzuweisung war angesagt. Der Leggo unterließ es, bei der Gegenüberstellung um eine Obduktionserlaubnis zu bitten. Nicht so Jo, und die Lage wurde prekär. Der Leggo schickte Jo, zum Teufel noch mal, zurück auf Station. Wir sahen, wie er die Herde der Zocks zu dem grünen »Funktionsraum« trieb, einem von den Zocks gestifteten, mit viel Plüsch ausgestatteten Saal, der ausschließlich zum Streicheln der Gönner des Hauses genutzt wurde.
Ich hatte genug von Jos Vergiftungstheorie und verkündete, ich würde einen anderen Weg einschlagen. Jo fragte welchen, und ich sagte:
»Feuer mit Feuer bekämpfen.«
Ich nahm das Telephon und bat die Vermittlung, den diensthabenden Rabbi anzupiepsen, stat. Erschrocken, daß sein Piepser tatsächlich losgegangen war, und dazu noch stat, kam keuchend und schnaufend der junge Rabbi Fuchs angerannt. Ich erzählte ihm von der Herrschaft des Todes und davon, daß ich überzeugt sei, dies müsse eine Heimsuchung unseres Herrgotts zum Passafest sein, der uns wohl irrtümlich für Ägypter hielt.
»Ich verstehe nicht«, sagte Rabbi Fuchs.
»Wäre es nicht möglich, daß Gott uns mit diesen Todesfällen bestraft, und daß wir alles uns Mögliche tun sollten, um seine Passa-Gesetze zu befolgen? Die Türpfosten der Station anstreichen, besonderes Passa-Geschirr benutzen, ein Glas Wein für den Propheten Elia hinstellen und so weiter?«
Der schwarzbärtige Intellektuelle Fuchs sah verwirrt drein, blinzelte durch seine dicke Brille auf Ollies immerwährendes Blinken und sagte:
»Haggadah, die Geschichte des Passa-Festes, auf die Sie sich beziehen, ist nicht wörtlich, sie ist homiletisch. Ja, so ist es: Die Exegese der Haggadah hat seit dem elften Jahrhundert unzählige Kommentare hervorgebracht, die meistens homiletisch sind, wenngleich sie auch bisweilen mystischen Charakter haben.«
»Haben Sie das verstanden, Pinkus?« fragte ich.
»Nein.«
»Ich auch nicht. Was meinen Sie damit, Rabbi?«
»Nehmen Sie es nicht wörtlich. Es ist ein Mythos. Gott arbeitet nicht mehr so. Diese Todesfälle haben etwas mit physiologischen Fakten zu tun, nicht mit einer Laune Gottes. Hier stirbt der Körper, nicht die Seele.«
So etwas kommt wohl dabei heraus, wenn man es dem Hause Gottes überläßt, einen Theologiestudenten zum Rabbi aufzubauen.
»Welcher Kirche gehören Sie an, Rabbi Fuchs?«
»Ich? Ich bin Reformist, warum?«
»Habe ich mir gedacht«, sagte ich und nahm den Telephonhörer auf. »Ich danke Ihnen vielmals. Jetzt rufe ich die orthodoxen Jungs, die Hasidim.«
Der orthodoxe Rabbi war ein betagter, weißbärtiger Patriarch aus einer halbverlassenen Synagoge im schwarzen Ghetto. Begeistert von meiner Idee zitierte er kabalistische Schriften über »die Häuser der Kranken während des Exodus« und sprach über die Zeitlosigkeit der Passa-Lehren, wie in der Mishnah: »In jeder Generation soll jedermann sich so sehen, als käme er gerade aus Ägypten.« Unglücklicherweise litt dieser Rabbi an chronischer Herzinsuffizienz, und bevor wir zu den Gesängen und Malereien fortschreiten konnten, wollte er erst einmal ärztlichen Rat, gratis. Das beschäftigte uns bis zum Mittagessen, und der Rabbi mußte nun eine Pause machen und essen. Er holte einen kleinen Napf mit Schraubverschluß hervor und setzte sich zu den Schwestern und mir. Als er ihn aufmachte, wußte ich, was drin war.
»Hering«, sagte er zu den Schwestern, »Stick Hering.«
»Ich dachte, Sie äßen nur salzarme Kost?« fragte ich.
»Ja, richtig. Känne Se es glaube, das ganze Salz für einen Tag is in diese Stick Hering?«
Schließlich besorgte die Hausverwaltung eine Dose blutroter Farbe, und während der Rabbi seinen Hering hochrülpste und sich beim Beten und Singen vor- und zurückwiegte, kleckste ich die rote Farbe herum. Ich wünschte dem Rabbi Glück, gab eine kleine Spende für seine shul und betrat wieder die Raumstation. Am Abend, als ich dem Gelaber des Kleinen über sein ökumenisches Gebumse mit Angel zuhörte, bei dem offenbar anläßlich der Feiertage Menstruationsblut in Strömen geflossen war, horchte ich gleichzeitig auf die Flügelschläge des Todesengels, der über meine Station flog.
Eine Nacht lang funktionierte es. Der Hauptschrecken dieser Nacht war Dr. Binsky, ein Private mittleren Alters, der einen schweren MI hatte. Ich wußte, daß er wußte, daß er vielleicht daran sterben würde, und obwohl ich mich als Kollege zu ihm hingezogen fühlte, hielt mich meine Angst, zu weit da hineingezogen zu werden, von ihm fern. In dieser Nacht machte Dr. Binsky die meisten der beim Menschen bekannten Herzarrhythmien durch. Glücklicherweise, wunderbarerweise reagierten sie alle auf meine Maßnahmen, und der Morgen sah Dr. Binsky und umgekehrt. Die orthodoxen Jungs hatten es geschafft.
Am nächsten Tag, dem siebten Tag, war Jo in Ekstase. Kein Toter. Sie strahlte von einem Ohr zum anderen, tätschelte meine Hand und behauptete:
»Bei Gott, wir gewinnen, und wenn wir die Türpfosten anmalen müssen, dann malen wir eben die Türpfosten an, wenn es den Patienten hilft.«
Wir gingen zu Dr. Binsky, und Pinkus, ein alter Freund von ihm, begrüßte ihn:
»Hallo, Morris, wie geht es Morris heute?«
»Ich bin OK, Pinkus. Wie lange hat es gedauert? Vierzig Stunden?«
»Ungefähr.«
»Wie sieht mein Rhythmusstreifen heute aus?«
»Dr. Binsky«, sagte Jo mit bewegter Stimme und legte ihm wie eine ältere Schwester die Hand auf die Schulter, »es ist wieder ein normaler Sinusrhythmus. Endlich wieder NSR.«
»Was für eine Erleichterung«, sagte Dr. Binsky. »Welch riesige Erleichterung.«
Zehn Sekunden später hatte er einen Herzstillstand und war, trotz aller unserer Bemühungen, nach einer halben Stunde tot.
Jo brach völlig zusammen. Sie saß mit Pinkus und mir im Personalzimmer, weinte und wiederholte ein über das andere Mal:
»Er konnte doch gar nicht sterben, er war im normalen Sinus. Normaler Sinusrhythmus und jetzt ist er tot? Das gibt statistisch überhaupt keinen Sinn. Ich kann diese Absurdität nicht mehr ertragen.«
»Es gibt Menschen, die im NSR sterben«, sagte Pinkus ruhig.
»Das zeigt, daß wir alles getan haben, was wir konnten, nicht wahr, Roy?«
Ich nickte zustimmend. Natürlich hatte Pinkus recht.
»Sehen Sie, Jo«, sagte Pinkus, »er ist in vollkommen normalem Sinusrhythmus abgetreten. Mit Stil. Ja, er ist nach Art des House of God gegangen.«
Ich dachte an eine Hausregel: Der Patient ist derjenige, der krank ist. Es war sein Herz, nicht meins. Ich war immun gegen Betroffenheit. In meiner Welt ging es darum, zu laufen, richtig zu essen und ruhig zu bleiben. Ich überließ es Jo, damit klarzukommen und kümmerte mich um die anderen auf der Station. Später, am Nachmittag verabschiedete ich mich, wünschte Jo Glück und dachte auf meinem Vier-Meilen-Lauf nach Hause an Pinkus und an Gott. Ich hatte getan, was ich konnte, und Dr. Binsky war gestorben. Mich deswegen zu sorgen, mich selbst zu quälen, würde nur meinen Streß erhöhen, und ich wußte verdammt genug über den Risikofaktor Streß. Persönlichkeitstyp A, die Herzgranate. Nein danke.
Nach dem Abendessen gingen Berry und ich zu Fuß nach Hause. Sie war überrascht über meine Energie, schließlich hatte ich, seit ich auf der Station war, durchschnittlich nur drei Stunden pro Nacht geschlafen.
»Pinkus sagt, daß Müdigkeit in gewissen Grenzen eine mentale Sache ist, keine physiologische. Jede zweite Nacht ist nicht übel. Irgendwie mag ich das.«
»Du magst es? Ich dachte, du haßt es, nachts im House zu sein.«
»Außerhalb der Intensiv, ja. Da drinnen mag ich es. Ja, ich möchte fast sagen, ich liebe es. Wie die Chirurgen sagen: Der einzige Nachteil, wenn du jede zweite Nacht im Dienst bist, ist, daß du nur die Hälfte der Patienten aufnehmen kannst. Das finde ich auch. Vielleicht werde ich Kardiologe.«
Berry blieb stehen, packte mich an den Schultern und zwang mich, sie anzusehen. Sie schien weit weg zu sein, als sie sagte: »Roy, was ist los mit dir? Seit neun Monaten erzählst du mir, wie sehr das Internship dein Leben zerstört, deine Kreativität, deine Menschlichkeit, deine Leidenschaft. Was, zum Teufel, geht auf dieser Intensivstation vor?«
»Keine Ahnung. Viele Tote. Jo ist zusammengebrochen. Hat geweint. Hoher Angstpegel. Typ A. Selbst mit Östrogen hat sie schlechte Karten.«
»Jo ist zusammengebrochen? Und wie reagierst du auf die Todesfälle?«
»Die Todesfälle? Wieso?«
»Wieso?« wiederholte Berry in einem Ton, der von ganz unten aus einem Brunnen kam, von weit weg, und der nach Entsetzen und Bedauern klang. »Ich sage dir, mit jedem Toten wirst du unmenschlicher.«
»Mach dir keine Sorgen. Pinkus sagt, Angst ist ein Killer.«
Nachts, als ich mich im Bett zu ihr umdrehte und ihre Schulter berührte, spürte ich ihre Spannung. Sie hielt mich zurück und sagte:
»Roy, ich mache mir große Sorgen. Ich konnte verstehen, daß du dich gegen die Trauer um Potts abschottest, aber das hier ist zu viel. Du bist total isoliert. Du triffst dich mit keinen Freunden mehr, du erwähnst nicht einmal mehr den Dicken oder Chuck oder die Polizisten.«
»Stimmt. Ich glaube, ich habe sie alle hinter mir gelassen.«
»Hör zu, du magst die Intensivstation nicht, das ist Abwehr. Du magst Pinkus nicht, das ist eine Verteidigungsmaßnahme. Du bist hypomanisch, identifizierst dich mit dem Aggressor, idolisierst Pinkus, um dich selbst davor zu bewahren, kaputtzugehen. Das mag ja im House funktionieren, aber nicht mit mir. Für mich bist du im Moment ein toter Mann. Kein Fünkchen Leben.«
»Oh, ich weiß nicht, Berry. Ich fühle mich gesund und lebendig.« Ich dachte an Hal, den Computer in 2001 und sagte: »Alles läuft außerordentlich gut.«
»Wie lange dauert dieser IIS-Turnus noch?«
»Zehn Tage«, sagte ich und streichelte ihr Haar und dachte friedlich an unsere uranfängliche Beschäftigung, an Sex. Sie entzog sich jedoch und ich fragte, warum.
»Ich kann nicht mit dir schlafen, solange diese große Distanz zwischen uns besteht.«
»Du meinst, du kannst den Gedanken an eine andere Frau nicht ertragen? Das ist doch alles vor …«
»Nein! Ich kann dich nicht ertragen! Ich habe es satt, ständig zu versuchen, zu dir durchzukommen. Ich muß anfangen, auch mal an mich zu denken. Ich werde dir Zeit lassen. Beende diesen Turnus, und wir werden sehen, ob du da wieder raus kommst. Wenn nicht, ist Schluß. Nach dieser ganzen Zeit ist es dann aus mit uns. Mit deinen Worten, es ist BK, Roy, BK.«
Wie von sehr weit her hörte ich mich sagen:
»Besser BK als Angst, Berry. Besser das als Typ A.«
»Verdammt, Roy!« schrie sie unter Tränen. »Du bist ein Idiot! Merkst du gar nicht, was mit dir passiert? Antworte mir!«
»Im Augenblick«, sagte ich und versuchte, dem Durcheinander von Gefühlen und Spannung gegenüber ruhig zu bleiben, »ist das alles, was ich dazu sagen kann.«
Berry stieß ein zischendes Geräusch aus, wie ein Zug, der in einen Bahnhof einfährt, und sagte:
»Du bist kein Idiot, Roy, du bist eine Maschine.«
»Eine Maschine?«
»Eine Maschine.«
»Na und?«