2
Das House of God wurde 1913 von den American People of Israel gegründet, als deren medizinisch ambitionierte Söhne und Töchter keine Internships in guten amerikanischen Krankenhäusern bekamen, weil sie Juden waren. Dem großen Engagement der Gründer ist es zu danken, daß das House bald ehrgeizige Ärzte anzog und zum Lehrkrankenhaus der weltweit angesehenen BMS – Best Medical School – aufstieg. Nach außen hin zu höchsten Ehren gelangt, zerfiel es innerlich in viele Hierarchie-Ebenen. Auf der untersten befinden sich mittlerweile diejenigen, für die es eigentlich errichtet worden war, die Ärzte des Hauses. Und unter den Ärzten wiederum steht der Intern auf der untersten Stufe.
Das Gefälle vom Gipfel der medizinischen Hierarchie läuft offiziell unten direkt beim Intern aus. Aber auch in den anderen Hierarchien steht der Intern – wenn auch inoffiziell – auf der niedrigsten Stufe. Private Doctors, Hausverwaltung, Schwestern, Patienten, Sozialdienst, Telephon- und Piepserzentrale, Rezeption und Wirtschaftszentrale können ihn jederzeit auf mancherlei trickreiche Weise ausnutzen. Die Wirtschaftszentrale ist zuständig für Betten, Heizung, Toiletten, Wäsche und allgemeine Reparaturen. Von ihrem guten Willen ist ein Intern vollkommen abhängig.
Die medizinische Hierarchie des House of God ist eine Pyramide: viele ganz unten und ein einziger an der Spitze. Wegen der Mentalität, die erforderlich ist, um die Spitze zu erklimmen, gleicht sie allerdings eher einer Eistüte: Man muß sich seinen Weg nach oben lecken. Durch den ständigen Gebrauch der Zunge für den nächsthöheren Arsch sind die Wenigen auf dem Weg zum Gipfel nur noch Zunge. Eine Kartierung ihres sensiblen Kortex würde einen Homunculus mit einer Mammutzunge zeigen, die einen gewaltigen Teil des Gehirns überlappt. Das Gute an dieser Eistüte ist, daß man von unten einen klaren Blick auf die Schleckerei hat: Da sind sie, die Schlecker, gierige, optimistische Kinder in einer Eisdiele im Juli, die lecken und lecken und lecken. Ein phantastischer Anblick.
Das House of God war bekannt für seine Fortschrittlichkeit, besonders was die Behandlung seiner Ärzte anging. Es war eins der ersten Krankenhäuser, die eine kostenlose Eheberatung anboten, und, wenn diese nicht fruchtete, zur Scheidung rieten. Durchschnittlich nahmen achtzig Prozent der verheirateten Söhne und Töchter während ihrer Zeit im House diesen Rat an, trennten sich von ihren Partnern und ließen sich mit irgend jemandem aus den Reihen der Private Doctors, Hausverwaltung, Schwestern, Patienten, Sozialdienst, Telephon- und Piepserzentrale, Rezeption oder Wirtschaftszentrale ein. Ebenfalls in fortschrittlicher Absicht glaubte man, die Interns, die für dieses eine schreckliche Jahr ins House kommen, auf freundliche Weise begrüßen zu müssen.
Man lud uns für Montag, den 30. Juni, einen Tag bevor wir anfangen sollten, zu einem ganztägigen Einführungsgespräch ein, inklusive Mittagessen, das vom BM-Deli ausgerichtet wurde. Bei dieser Veranstaltung sollten wir einigen ausgewählten Mitgliedern aller Hierarchieebenen vorgestellt werden.
Am Sonntagnachmittag vor dem BM-Deli-Montag vor jenem Dienstag, dem schrecklichen ersten Juli, lag ich im Bett. Der Juni ging mit einem letzten Sonnenstrahl zu Ende, aber meine Jalousien waren heruntergelassen. Nixon war mal wieder auf einer Gipfelpartie, um Kossigyn zu wichsen, »Mo« Dean quälte sich mit der Frage, welches Kleid sie bei den Watergate-Anhörungen tragen sollte, und ich litt. Mein Leiden war nicht etwa das moderne Leiden der Entfremdung oder Langeweile, wie es viele Amerikaner häufig befällt, wenn sie die Fernsehdokumentation »Die Louds: Eine kalifornische Familie« ansehen, mit ihrem teuren Landhaus, drei Autos, nierenförmigem Swimmingpool und nicht einem einzigen Buch. Mein Leiden war Angst. Obwohl ich immer ein As gewesen bin, fürchtete ich mich zu Tode. Es graute mir davor, Intern im House of God zu werden.
Ich war nicht allein im Bett. Berry war bei mir. Unsere Beziehung, die das Trauma meiner Jahre an der Best Medical School überlebt hatte, blühte in reichen Farben, war Lebendigkeit, Lachen, Abenteuer und Liebe. Außerdem waren noch zwei Bücher mit im Bett: das eine ein Geschenk meines Vater, dem Zahnarzt, ein Internship-Buch von der Art »Wie rette ich die Welt, ohne mir den Kittel schmutzig zu machen«. Alles über den Intern, der in letzter Minute hereinrauscht, die Dinge in die Hand nimmt und forsche Anweisungen bellt, die im Handumdrehen Leben retten. Das andere Buch hatte ich mir selbst gekauft, zum Thema Wie mache ich was als neuer Intern, ein Handbuch, in dem alles steht, was man wissen muß. Während ich in diesem Handbuch blätterte, war Berry, die Psychologin ist, mit Freud beschäftigt. Nach einigen Minuten Schweigen grunzte ich, ließ das Handbuch fallen und zog mir die Decke über den Kopf.
»Hilfe, Hiiilfe«, stöhnte ich.
»Roy, du bist in einem ganz schön miesen Zustand.«
»Wie schlimm ist es?«
»Ziemlich schlimm. Letzte Woche habe ich einen Patienten, der sich so unter der Bettdecke verkrochen hatte, eingewiesen, und der war nicht mal halb so verängstigt wie du.«
»Kannst du mich nicht auch einweisen?«
»Bist du krankenversichert?«
»Erst, wenn ich offiziell mit dem Internship angefangen habe.«
»Dann mußt du in eine staatliche Anstalt.«
»Was soll ich machen? Ich habe alles versucht, und ich fürchte mich immer noch zu Tode.«
»Versuch es mit Verleugnen.«
»Verleugnen?«
»Ja. Eine primitive Schutzmaßnahme. Leugne, daß es existiert.«
Also versuchte ich zu leugnen, daß es existierte. Obwohl ich damit nicht sehr weit kam, half mir Berry durch die Nacht und den nächsten Morgen. Am BM-Deli-Montag half sie mir, mich zu rasieren, mich anzuziehen und fuhr mich in die Stadt zum House of God. Irgend etwas hinderte mich daran, aus dem Auto zu steigen, also öffnete Berry meine Tür, lockte mich heraus und drückte mir einen Zettel in die Hand, auf dem stand »Warte um 5 Uhr hier auf Dich. Viel Glück. In Liebe, Berry.« Sie küßte mich auf die Wange und fuhr davon.
Ich stand in der dampfenden Hitze vor dem hohen urinfarbenen Gebäude, das ein Schild als The House of God auswies. Eine Abrißbirne zerschmetterte einen der Flügel des Hauses, um, wie auf einem anderen Schild erklärt wurde, Platz für den neuen »Zock-Flügel« zu schaffen. Ich spürte die Abrißbirne in meinem Schädel hin und herschwingen, betrat das House und suchte den »Festsaal«.
Der Chief Resident namens Fishberg, genannt der Fisch, hielt soeben die Begrüßungsansprache, und ich setzte mich. Der Fisch war klein, rundlich, blankgewienert und hatte gerade seine Fachausbildung in Gastroenterologie abgeschlossen, einer Spezialität des House of God. Die Position des Chief Resident befand sich in der Mitte des Eiscremekegels, und der Fisch wußte, wenn er in diesem Jahr gute Arbeit leistete, würde er von den oberen Schleckern mit einer festen Anstellung belohnt, also zum festangestellten Schlecker werden. Er stellte das Verbindungsglied zwischen den Interns und allen anderen dar, und äußerte die Hoffnung, »daß Sie mit all Ihren Problemen zu mir kommen werden«. Dabei glitt sein Blick zu den höheren Schleckern, die am Honoratiorentisch aufgereiht saßen. Schlau und schleimig strahlte er. Zu fröhlich. Ohne Gespür für unsere Angst. Meine Konzentration ließ nach und ich sah mich nach den anderen Interns im Saal um: Ein fescher Schwarzer hing lässig in seinem Stuhl. Gelangweilt bedeckte er mit einer Hand seine Augen. Noch eindrucksvoller war ein riesiger Kerl mit einem buschigen roten Bart. Er trug eine schwarze Lederjacke und eine durchgehende Sonnenbrille, ein schwarzer Motorradhelm baumelte ihm am Finger. Total abgefahren.
»… so bin ich Tag und Nacht erreichbar. Und jetzt ist es mir eine große Freude, Ihnen Dr. Leggo, den Chief of Medicine, vorzustellen.«
Aus einer Ecke kam mit steifen Schritten ein dünner, vertrocknet wirkender kleiner Mann zur Mitte des Rednertisches. Er hatte ein abstoßendes, violettes Muttermal auf einer Seite des Gesichts und trug einen weißen Kittel von Metzgerlänge. Ein langes, altmodisches Stethoskop wand sich über seine Brust, seinen Bauch hinunter und verschwand geheimnisvoll in seinen Hosen. »Wohin mag dieses Stethoskop gehen?« schoß es mir durch den Kopf. Er war Nephrologe: Nieren, Ureter, Blasen, Urethra und Dauerkatheter, des gestauten Harns bester Freund.
»Das House ist etwas Besonderes«, sagte der Chief. »Ein Teil dieser Besonderheit ist seine Anbindung an die BMS. Ich möchte Ihnen eine Geschichte über die BMS erzählen, die mir gezeigt hat, wie besonders die BMS und das House sind. Es ist eine Geschichte über einen BMS-Arzt und eine BMS-Schwester namens Peg. Sie zeigte mir, was es bedeutet, zum …«
Meine Gedanken begannen zu wandern. Der Leggo war eine weniger rundliche Version des Fisches. Es schien, als wäre durch seine zahlreichen Veröffentlichungen nach dem Motto »Wer schreibt, der bleibt« jeder Tropfen Menschlichkeit aus ihm herausgesaugt worden, und nun stünde er völlig trocken, entwässert, ja, urämisch da. So also sah man auf der Spitze der Eistüte aus, wenn man als Chief schließlich selbst nicht mehr schlecken mußte, sondern nur noch geschleckt wurde. »… und so kam Peg mit überraschtem Gesichtsausdruck zu mir und sagte: Dr. Leggo, wie konnten Sie daran zweifeln, daß diese Anordnung ausgeführt würde? Wenn ein BMS-Arzt einer BMS-Schwester eine Anweisung gibt, können Sie sicher sein, daß sie ausgeführt wird, und zwar richtig.«
Er machte eine Pause, als erwartete er Beifall. Alles schwieg. Ich gähnte und bemerkte, daß ich sofort ans Bumsen dachte.
»… und Sie werden sich sicher freuen, daß Peg kommen wird …«
HHRAAK! HHRAAAK!
Eine Hustenexplosion unterbrach den Leggo. Der Intern in der schwarzen Lederjacke krümmte sich, rang auf seinem Sitz nach Atem.
»… sie wird gegen Ende dieses Jahres vom City Hospital zu uns ins House kommen.«
Der Leggo fuhr fort mit einer Erklärung über die Heiligkeit des Lebens. Wie bei den Erklärungen des Papstes lag auch bei ihm die Betonung darauf, daß immer und für jeden in alle Ewigkeit alles getan werden mußte, um den Patienten am Leben zu halten. An jenem Tag wußten wir noch nicht, wie verheerend dies in der Praxis aussah. Dann ging der Leggo in seine Ecke zurück. Weder der Fisch noch der Leggo schienen eine genaue Vorstellung davon zu haben, was ein menschliches Wesen ausmacht.
Die anderen Redner waren natürlicher. Ein Typ von der Hausverwaltung im blauen Blazer mit goldenen Knöpfen belehrte uns darüber, daß eine Krankenakte ein juristisches Dokument sei, und berichtete, die Hausverwaltung sei erst kürzlich verklagt worden, weil irgendein Intern aus Spaß in eine Akte geschrieben habe, man hätte einen Patienten im Pflegeheim so lange auf der Bettpfanne liegen lassen, bis sich ein Druckgeschwür entwickelte, was bei der Überführung ins House of God zum Tod des Patienten geführt habe. Ein ausgemergelter Kardiologe namens Pinkus wies darauf hin, wie wichtig es sei, Hobbys zu haben, um Herzerkrankungen vorzubeugen. Seine beiden Hobbys seien Laufen, um fit zu bleiben, und Angeln, um sich zu entspannen. Und er setzte hinzu, daß jeder Patient, den wir zu sehen bekämen, ein rumpelndes, systolisches Herzgeräusch zu haben scheine. Wir würden aber bald erkennen, daß das Geräusch von den Preßluftbohrern im Zock-Flügel herrühre und wir unsere Stethoskope getrost wegwerfen könnten. Der Psychiater des House of God, ein traurig dreinblickender Mann mit einem Spitzbart, richtete seinen flehenden Blick auf uns und sagte, er sei bereit, uns zu helfen. Dann schockierte er uns mit der Bemerkung:
»Das Intern-Jahr ist nicht wie die Law School, wo es heißt, sieh nach rechts und sieh nach links. Einer von Ihnen wird am Ende dieses Jahres nicht mehr hier sein. Es ist eine harte Prüfung, Sie werden eine schwere Zeit haben. Wenn Sie es zu weit kommen lassen, nun … jedes Jahr müssen Absolventen von mindestens einer Medical School – vielleicht auch von zweien oder dreien – einspringen, um die Kollegen zu ersetzen, die Selbstmord begangen haben …«
HAA-RUMPH! HAAA-REMMM!
Der Fisch räusperte sich. Die Rede über Selbstmord gefiel ihm nicht, und er hustete sie ab.
»… und selbst hier im House of God erleben wir jedes Jahr Selbstmorde …«
»Vielen Dank, Dr. Frank«, sagte der Fisch und übernahm wieder das Steuer, schmierte die Räder der Veranstaltung, damit sie zum letzten medizinischen Redner rollen konnten, zu einem Vertreter der Private Doctors, der Belegärzte des House of God, zu Dr. Pearlstein.
Schon in der BMS hatte ich von Pearl gehört. Als er Chief Resident geworden war, brach er des lieben Geldes wegen seine akademische Laufbahn ab. Das Startkapital für seine eigene Praxis hatte er seinem älteren Partner abgeluchst, als der auf Urlaub in Florida weilte, und war mit der raschen Einführung der Computertechnologie, die seine Praxis vollkommen automatisierte, der reichste der reichen House Privates geworden. Als niedergelassener Gastroenterologe mit eigener Röntgenabteilung bediente er die wohlhabendsten Därme der Stadt. Er war der bevorzugte Arzt der Familie Zock, deren Zock-Flügel-Preßluftbohrer unsere Stethoskope nutzlos machten. Gepflegt, glitzernd vor Brillanten und im eleganten Anzug, wußte er, mit Menschen umzugehen und hatte uns in wenigen Sekunden in der Hand:
»Jeder Intern macht Fehler. Das Wichtigste ist, weder denselben Fehler zweimal zu machen, noch ein ganzes Bündel von Fehlern auf einmal. Während meines Internships hier im House of God starb einem Kollegen, der ehrgeizig dem akademischen Erfolg nachjagte, ein Patient, und die Familie verweigerte die Erlaubnis zur Obduktion. Mitten in der Nacht schob dieser Intern die Leiche in die Leichenhalle hinunter und machte heimlich eine Autopsie. Er wurde erwischt und streng bestraft, indem man ihn in den tiefen Süden schickte, wo er bis zum heutigen Tag in der Versenkung arbeitet. Also, denken Sie daran: Lassen Sie nicht zu, daß Ihre Begeisterung für die Medizin Ihrer Menschlichkeit in den Weg tritt. Es kann ein großartiges Jahr werden. Mir hat es den Start für das ermöglicht, was ich heute bin und was ich heute habe. Ich freue mich darauf, mit Ihnen allen zusammenzuarbeiten. Viel Glück, Jungs, viel Glück.«
Bei meiner Aversion gegenüber Leichen hätte er mich nicht warnen müssen. Andere dachten anders darüber. Hooper zum Beispiel, ein hyperaktiver Intern, der auf der BMS in meiner Klasse gewesen war, schien bei der Vorstellung, selbständig eine Autopsie vorzunehmen, geradezu abzuheben. Seine Augen leuchteten, er schaukelte erregt auf seinem Stuhl hin und her. Nun ja, dachte ich, was einen so anmacht …
Nach den üblichen humanitären Erklärungen kamen die Computer zu ihrem Recht, und der Fisch teilte unsere Arbeitspläne für das Jahr aus. Ein vollbusiges Mädchen erhob sich, um uns durch das Papierlabyrinth zu leiten. Sie sagte: »Das größte Problem, das Sie während Ihres Intern-Jahres haben werden, ist das Parken.«
Nachdem sie mehrere komplizierte Pläne der Parkplätze vom House of God erläutert hatte, gab sie Parkmarken aus und sagte: »Denken Sie daran, wir schleppen ab, und wir tun es gern. Während der Zock-Flügel hochgezogen wird, kleben Sie ihre Marke besser innen an die Windschutzscheibe. In den letzten Monaten haben die Bauarbeiter alle Marken abgerissen, die sie kriegen konnten. Und wenn Sie vorhaben, mit dem Fahrrad zu kommen, vergessen Sie’s. Jede Nacht ziehen hier Jugendbanden mit Bolzenschneidern durch. Kein Rad ist vor ihnen sicher. Und jetzt füllen wir unsere Computerformulare aus, damit wir unser Geld kriegen. Sie haben doch alle Ihre Nr.-2-Bleistifte mitgebracht, nicht wahr?«
Verdammt. Ich hatte sie vergessen. Solange ich lebe, habe ich versucht, daran zu denken, diese Nr.-2-Stifte mitzubringen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals daran gedacht zu haben. Aber irgendeiner hat sie immer dabei. Ich füllte die Formulare aus.
Der Fisch beendete die Veranstaltung mit der Vermutung:
»Sie möchten jetzt bestimmt auf die Stationen gehen, um Ihre Patienten schon einmal kennenzulernen.«
Obwohl es mir dabei kalt über den Rücken lief, da ich immer noch alles verleugnen wollte, verließ ich mit den anderen den Saal. Ich blieb etwas zurück und fand mich schließlich im vierten Stock in einem langen Flur wieder. In etwa zehn Metern Entfernung standen zwei Rollstühle, in denen zwei Patienten saßen. Eine Frau mit hellgelber Hautfarbe, Zeichen einer schweren Lebererkrankung, hing mit offenem Mund im Neonlicht, die Beine weit gespreizt, die Knöchel geschwollen und die Wangen eingefallen. In ihrem Haar steckte ein Reif. Neben ihr saß ein klappriger alter Mann mit einem wilden Strohdach von Haar über dem geäderten Schädel. Er schrie immer und immer wieder:
»He Doktor warten Sie he Doktor …«
Eine Infusionsflasche ließ gelbes Zeug in seinen Arm fließen und ein Dauerkatheter ließ gelbes Zeug aus der zinnoberroten Spitze seines Schwanzes herausfließen, der wie eine Hausschlange auf seinem Schenkel lag. Die Karawane der neuen Interns mußte sich einer nach dem anderen an diesen beiden Verlorenen vorbeischieben. Als ich bei ihnen ankam, hatte sich ein Verkehrsstau gebildet. Ich mußte stehenbleiben und warten. Der Schwarze und der Motorradfahrer warteten mit mir. Der Mann, auf dessen Namensschild »Harry das Pferd« stand, schrie immerzu:
»He Doktor warten Sie he Doktor warten Sie he Dok …«
Ich wandte mich der Frau zu. Auf ihrem Namensschild stand »Jane Doe«. Sie sang mit zunehmender Lautstärke eine chromatisch-phonetische Tonleiter: OOOO-AYYY-EEEE-IYYY-UUUU …
Auf unsere Aufmerksamkeit reagierte Jane Doe mit Bewegungen, als wollte sie uns berühren, und ich dachte, »Faß mich bloß nicht an!« und sie tat es nicht. Aber sie drückte einen langen, saftigen Furz ab. Gerüche haben mich immer umgehauen, und dieser hier erst recht. Ich hatte das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. Oh nein, sie würden mich nicht dazu bringen, mir jetzt meine Patienten anzusehen. Ich drehte mich weg. Der Schwarze, er hieß Chuck, sah mich an.
»Wie findest du das?« fragte ich.
»Mann, das is traurig.«
Über uns ragte der Riese in der schwarzen Motorradkluft. Er zog seine Jacke wieder an und sagte:
»Jungs, in meiner Medical School in Kalifornien habe ich noch nie jemanden gesehen, der so alt war. Ich gehe nach Hause zu meiner Frau.«
Er drehte sich um, ging den Korridor zurück und verschwand im Fahrstuhl nach unten. Auf dem Rücken seiner schwarzen Motorradjacke stand in blanken Messingnieten:
EAT MY DUST
EDDIE
Jane Doe furzte wieder.
»Hast du auch eine Frau?« fragte ich Chuck.
»Nein.«
»Ich auch nicht. Aber das hier halte ich nicht aus. Unmöglich.«
»Gut, Mann, gehen wir einen trinken.«
Chuck und ich hatten dann eine ganze Menge Bourbon und Bier in uns hineingekippt und waren schließlich an dem Punkt angelangt, an dem wir über Jane Does Furzen und die ewige Litanei von Harry dem Pferd lachen konnten. Angefangen hatten wir damit, uns gegenseitig unseren Abscheu zu schildern, dann unsere Angst, und jetzt waren wir dabei, uns unsere Vergangenheit zu erzählen. Chuck war bettelarm in Memphis aufgewachsen. Ich fragte, wie er bei so bescheidener Herkunft bis zum Gipfel der akademischen Medizin, in das House of God gelangt war. »Also, Mann, das war so. Ich war in Memphis auf der High School, und eines Tages kommt diese Postkarte vom Oberlin College, da steht drauf: ›Wollen Sie ins College nach Oberlin? Wenn ja, schicken Sie diese Karte ausgefüllt zurück‹. Das war’s, Mann, das war alles. Keine Bewerbung, keine Aufnahmeprüfung, nichts. Hab ich natürlich zugeschlagen. Dann krieg ich diesen Brief, da heißt es, ich bin aufgenommen, vier Jahre, volles Stipendium. Und die weißen Jungs in meiner Klasse reißen sich den Arsch auf, um das zu kriegen. Also, ich war noch nie im Leben raus aus Tennessee, keine Ahnung von diesem Oberlin, nur einer, den ich frag, erzählt mir, die haben da ’ne Musikhochschule.«
»Hast du ein Instrument gespielt?«
»Spinnss du? Mein alter Herr hat als Nachtwächter Cowboy-Romane gelesen, und meine Alte hat Fußböden geschrubbt.
Das einzige, was ich gespielt hab, war Basketball. Am Tag, an dem ich fahren soll, sagt mein alter Herr: ›Junge, beim Militär bist du besser dran.‹ Also nehm ich den Bus nach Cleveland und dann umsteigen nach Oberlin, und ich weiß nich, ob ich in den richtigen Bus gestiegen bin, aber dann seh ich diese Typen mit den Musikinstrumenten und sag mir, jap, das muß richtig sein. Also, war ich in Oberlin. Hauptfach vorklinische Medizin, muß man nichts für tun, nur zwei Bücher lesen – die Ilias, hab ich nich geschnallt, und dies Wahnsinnsbuch über rote Killerameisen. Weiß du, da wurde dieser Typ gefangen, gefesselt auf die Erde gepackt, und diese Armee von roten Killerameisen kommt anmarschiert. Wahnsinn.«
»Und warum wolltest du dann zur Medical School?«
»Das war so, Mann, genauso. Im Abschlußjahr krieg ich diese Postkarte von der Universität von Chicago: ›Wollen Sie zur Medical School in Chicago? Wenn ja, schicken Sie diese Karte ausgefüllt zurück‹. Das war alles. Keine Aufnahmeprüfung, keine Bewerbung, nichts. Volles Stipendium, vier Jahre. Das war’s, und da bin ich dann hin.«
»Und das House of God, was war damit?«
»Auch so, Mann, genauso. Abschlußjahr, Postkarte: ›Wollen Sie Intern im House of God werden? Wenn ja, schicken Sie diese Karte ausgefüllt zurück‹. Das isses. Sonst noch was?« »Mann, du hast sie alle reingelegt.«
»Dachtich auch, aber weiß du, ich seh diese jammervollen Patienten und das alles, und ich denk, die Typen, die mir diese Postkarten geschickt haben, wußten genau, daß ich sie verarschen will, alles kriegen will. Also haben sie mich reingelegt und mir alles gegeben. Mein alter Herr hat recht: Die erste Postkarte war mein Ruin. Hätte lieber zur Army gehn solln.«
»Wenigstens hast du ’ne gute Geschichte über die Killerameisen gelesen.«
»Jap, nichts gegen zu sagen. Was is mit dir?«
»Mit mir? Auf dem Papier steh ich gut da. Nach der Schule hatte ich für drei Jahre ein Rhodes Stipendium in England.« »Donnerwetter! Du mußt ja ’n Supersportler sein. Was spielst du?«
»Golf.«
»Spinnss du? Mit so kleinen, weißen Bällen?«
»Genau. Oxford hatte offensichtlich genug von den dummen Rhodes-Jockeys. In meinem Jahr wollten sie mehr Köpfchen. Einer von uns spielte Bridge.«
»Wie alt bist du’n eigentlich, Mann?«
»Am 4. Juli werde ich dreißig.«
»Mann, du bis ja älter als wir alle. Steinalt.«
»Ich hätte lieber nicht ins House kommen sollen. Mein ganzes Leben drehte sich um diese verflixten Nr.-2-Bleistifte. Man sollte meinen, inzwischen hätte ich’s kapiert.«
»Also, was ich wirklich sein möchte, Mann, ist Sänger. Ich hab ’ne echt tolle Stimme. Hör zu.«
Im Falsett, Töne und Worte mit seinen Händen formend, sang Chuck: »There’s a … moone out toonight, wo-o-o-oow, and 1 know … if you held me tight, wo-o-o-owww …«
Ein schönes Lied, und er hatte eine schöne Stimme, alles war schön, und ich sagte es ihm. Wir waren beide glücklich. Im Angesicht dessen, was uns bevorstand, war es so ähnlich, als wenn man sich verliebt. Nach einigen weiteren Drinks fanden wir, wir wären glücklich genug, um zu gehen. Ich griff in meine Tasche, um zu bezahlen und fand Berrys Zettel.
»Oh, Scheiße,« sagte ich, »Ich bin zu spät. Gehen wir.«
Wir bezahlten und traten auf die Straße. Die Hitze war von einem Sommerregen fortgespült worden. Bei Donnergrollen und Blitzen wurden wir klatschnaß und sangen durch das Autofenster zu Berry hinein. Chuck verabschiedete sich, und als er zu seinem Wagen ging, rief ich ihm nach:
»He, ich hab vergessen, dich zu fragen, wo du morgen anfängst?«
»Wer weiß, Mann, wer weiß.«
»Warte, ich seh nach.« Ich angelte meinen Computerausdruck heraus und sah, daß Chuck und ich zunächst auf derselben Station sein würden. »He, wir werden zusammen arbeiten.«
»Das iss cool, Mann, iss echt cool. Bis dann.«
Ich mochte ihn. Er war schwarz, und er hatte durchgehalten. Mit ihm zusammen würde auch ich durchhalten. Der erste Juli sah nun nicht mehr ganz so furchterregend aus.
Berry war besorgt, weil ich meine Verleugnungstaktik mit Bourbon angereichert hatte. Ich war albern und sie ernst, und sie meinte, dieses erste Mal, daß ich eine Verabredung mit ihr vergessen hatte, könnte ein Vorzeichen für die Probleme sein, die wir im kommenden Jahr haben würden. Ich versuchte, ihr etwas über das BM-Essen zu berichten und konnte es nicht. Als ich ihr lachend von Harry dem Pferd und der furzenden Jane Doe erzählte, fand sie das gar nicht komisch.
»Wie kannst du darüber lachen? Das klingt bemitleidenswert.«
»Das ist es auch. Ich fürchte, das Verleugnen hat nicht funktioniert.«
Im Briefkasten war ein Brief von meinem Vater. Ein Optimist, ein Meister der Konjunktion. Seine Briefe liefen nach folgendem Muster ab: Satz – Konjunktion – Satz.
… Ich weiß, es gibt viel in der Medizin zu lernen, und alles ist neu. Es ist immer faszinierend, und es gibt nichts Erstaunlicheres als den menschlichen Körper. An den physisch harten Teil des Berufs gewöhnt man sich schnell, und du mußt auf deine Gesundheit achten. Ich hatte Mittwoch beim Golf eine achtzig, und ich putte jetzt besser …
Berry brachte mich früh ins Bett und ging dann in ihre Wohnung. Ich war bald in die samtene Robe des Schlafes eingehüllt und strebte dem Traumkaleidoskop entgegen. Zufrieden, glücklich, gar nicht mehr verängstigt murmelte ich grinsend »Hallo, Traum« und war bald in Oxford, England, beim Mittagessen im Senior Common Room von Balliol College, rechts und links neben mir ein Fellow aus dem 7. Jahrhundert. Wir aßen fades Essen von feinem Porzellan und diskutierten darüber, daß die pingeligen Deutschen nach fünfzig Jahren Arbeit an ihrem umfassenden Lexikon aller jemals benutzten lateinischen Wörter erst beim Buchstaben K angelangt waren. Und dann war ich ein Kind, lief nach dem Abendbrot mit dem Baseballhandschuh in der Hand in den Sommernebel, sprang im warmen Zwielicht hoch und höher, und dann sah ich, in einem Strudel von Angst, einen Wanderzirkus von den Klippen ins Meer stürzen, die Haie zerfleischten den üppigen Hintern eines Beuteltiers, das bemalte Gesicht des ertrunkenen Clowns zerfloß in der kalten, unmenschlichen Salzlake.