6

Nach drei Wochen wurde der Dicke aus dem House of God abgeschoben, um turnusgemäß in einem der umliegenden Gemeindekrankenhäuser, die er alle »St. Irgendwo« genannt hatte, Dienst zu tun. Obwohl er noch jede dritte Nacht der diensthabende Resident neben mir war, segelte in seinem fetten Kielwasser der neue Resident der Station heran, jene Frau namens Jo, deren Paps kürzlich von einer Brücke in den Tod gesprungen war. Wie so viele Ärzte in der Inneren, war Jo ein Opfer des Erfolgs. Sie war klein und drahtig, flach und robust, hatte als junges Mädchen alle Versuche ihrer Mutter abgewiesen, sie als Debütantin in die feine Gesellschaft einzuführen, und sich statt dessen auf die Biologie konzentriert. Sie sezierte die Männchen lieber, als daß sie mit ihnen tanzte. Ihren Zwillingsbruder ließ sie im Regen stehen, weil sie den Sprung nach Radcliffe schaffte, während er als Posaunist im Spielmannszug zu irgendeinem versoffenen Football-College im Mittelwesten zog. Auf dem College lief sie zu akademischer Höchstform auf und schwang sich in fast noch pubertärem Alter in die BMS. Ihr kometenhafter Aufstieg verzögerte sich nur kurz durch die typisch amerikanische Menopausen-Psychose ihrer Mutter, in deren Folge ihr Paps zu einer glibbernden, geleeartigen Masse reduziert wurde. Der Zerfall ihrer Familie spornte ihren Ehrgeiz in der Medizin noch weiter an, als glaubte sie, den psychologischen Krebs in ihrer Familie erkennen zu können, indem sie lernte, wie man eine perfekte Endoskopie macht. So war Jo ins House of God gekommen und der umtriebigste aller Residents geworden, stets auf der Suche nach Konkurrenz.

Schon als Jo zum ersten Mal vor uns stand, breitbeinig, die Hände in den Hüften wie der Kapitän eines Schiffes, und »Willkommen an Bord« sagte, wurde deutlich, daß sie ganz anders war als der Dicke, daß sie zur Bedrohung für alles werden würde, was er uns beigebracht hatte. Sie war eine kleine, stramme Frau mit kurzem, schwarzen Haar, vorspringendem Kinn und dunklen Ringen unter den Augen und trug einen weißen Rock und eine weiße Jacke. In einem besonderen Halfter an ihrem Gürtel steckte ein ca. 5 cm dickes, schwarzes Notizbuch mit ihren eigenen Exzerpten aus dem Dreitausend-Seiten-Wälzer Grundlagen der Inneren Medizin. Was sie nicht im Kopf hatte, hing an ihrer Hüfte. Sie sprach seltsam monoton, mit einem völligen Mangel an Gefühl. Sobald es bei irgendeiner Sache nicht um Fakten ging, konnte sie nichts damit anfangen. Humor verstand sie nicht.

»Tut mir leid, daß ich nicht zu der Zeit hier sein konnte, für die ich eingeteilt war«, sagte sie an jenem ersten Tag zu Chuck, Potts, den BMS und mir. »Ich hatte persönliche Gründe für meine Abwesenheit.«

»Ja, wir haben davon gehört«, sagte Potts. »Wie geht es Ihnen jetzt?«

»Alles in Ordnung. So etwas kann vorkommen. Ich hab das jetzt im Griff. Ich bin froh, daß ich wieder bei der Arbeit bin und nicht mehr daran denken muß. Es ist mir bekannt, daß in den ersten drei Wochen der Dicke hier war, und Sie sollen gleich wissen, daß ich einen anderen Stil habe. Erledigen Sie die Arbeit auf meine Weise, und wir werden gut miteinander auskommen. Bei meiner Art, eine Station zu führen, gibt es keine Schlamperei. Keine unerledigten Sachen. OK, Jungs, machen wir Visite. Bringen Sie mir den Aktenwagen, ja?«

Beglückt sprang Levy, der Verlorene, auf, um den Aktenwagen zu holen.

»Mit Dickie haben wir hier gesessen und Visite gemacht«, sagte ich, »das war effektiv und gemütlich.«

»Und schlampig. Ich sehe mir jeden Patienten jeden Tag an. Es gibt keine Entschuldigung dafür, nicht jeden Tag jeden Patienten zu sehen. Sie werden bald erkennen, daß Sie in der Medizin eine um so bessere Versorgung leisten, je mehr Sie tun. Ich tue immer soviel wie nur möglich. Es dauert ein wenig länger, aber es lohnt sich. Oh, à propos, das bedeutet, die Visite wird früher anfangen, sechs Uhr dreißig. Klar? Gut. Ich führe ein straffes Regiment. Keine Schlaffheiten. Mein Spezialgebiet ist Kardiologie. Für das nächste Jahr habe ich ein NIH Fellowship bekommen. Wir werden also viele Herzen abhorchen. Wenn Sie Klagen haben, möchte ich sie bitte hören. Offen heraus. Klar? OK, Jungs, gehen wir.«

Es kam überhaupt nicht in Frage, daß Chuck und ich eine Stunde früher als bisher zur Visite erschienen. Wir folgten Jo, die mit jenem Fanatismus aus dem Raum marschierte, den man nur bei Leuten beobachtet, die ständig Höchstleistungen bringen und dabei mit der Furcht leben, irgendein dahergelaufener Stümper könnte in einem brillanten Augenblick mehr leisten als sie.

Während wir den Aktenwagen durch die Zimmer der fünfundfünfzig Patienten der Station schoben, Jo jeden untersuchte und dann aus dem Halfter an ihrer Hüfte eine Vorlesung abfeuerte und jedem von uns aufzählte, was wir alles zu tun vergessen hatten, wurde ich immer besorgter. Wie sollten wir diese Frau überstehen? Sie war gegen alles, was der Dicke uns beigebracht hatte. Sie stampfte uns in Grund und Boden.

Wir kamen in das Zimmer, wo Anna O. lag. Jo sah die Akte durch und untersuchte trotz der Preßlufthämmer im Zockflügel Anna O.‹s Herz. Während sie abhorchte und drückte und klopfte, wurde Anna O. immer unruhiger und schrie:

»Ruudl Ruudl Ruuuuuudl!«

Als sie fertig war, fragte Jo mich, was bei Annas Behandlung das Wichtigste sei. Ich dachte an die Gebote des Dicken und sagte: »Verlegung.«

»Wer hat Ihnen denn das beigebracht?«

»Der Dicke.«

»Unfug«, sagte Jo. »Diese Frau leidet an schwerer seniler Demenz. Sie ist weder bezüglich Ort, Zeit noch Person orientiert, alles, was sie sagt ist Ruuuuudl, sie ist inkontinent und verwirrt. Es gibt mehrere behandelbare Ursachen für Demenz, eine davon ist der operable Hirntumor. Wir müssen das ganz genau untersuchen. Lassen Sie mich Folgendes dazu sagen …«

Jo hielt einen Vortrag über die behandelbaren Ursachen von Demenz, gespickt mit obskuren neuroanatomischen Verweisen. Ich mußte an eine Geschichte denken, die ich über sie gehört hatte, von einer Anatomieprüfung in der BMS. Die Prüfung war sehr schwer gewesen, die durchschnittlich erreichte Punktzahl lag bei zweiundvierzig, aber Jo hatte neunundneunzig Punkte. Die einzige Frage, die sie nicht beantworten konnte, war: »Identifizieren Sie den Polgi Kreisel«. Das war eine Fangfrage gewesen, denn der Polgi Kreisel war die Verkehrsinsel direkt vor der Tür des BMS Wohnheims.

Jos Vorlesung über Anna war knapp, komplett und kohärent. Am Ende sah sie aus, als hätte sie gerade einen äußerst befriedigenden Stuhlgang hinter sich.

»Fangen Sie mit den Untersuchungen an«, sagte Jo zu mir, »wir werden allem ganz genau nachgehen. Komplett. Niemand soll uns nachsagen können, daß wir schlampige Arbeit leisten.«

»Aber der Dicke sagt, Anna O. ist immer so, und bei einem fünfundneunzig Jahre alten Gehirn sei Demenz normal.«

»Demenz ist nie normal,« sagte Jo, »niemals.«

»Vielleicht nicht«, sagte ich, »aber der Dicke sagt, die beste Art, sie zu behandeln, sei, nichts zu tun, außer Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um ein Bett im Pflegeheim für sie zu kriegen.«

»Ich tue niemals nichts. Ich bin Ärztin, ich leiste ärztliche Hilfe.«

»Der Dicke sagt, die beste ärztliche Behandlung für Gomers sei gar keine Behandlung. Wenn man etwas tut, sagt er, macht man alles nur noch schlimmer. Wie Potts, als er Ina Goober hydriert hat. Sie hat sich davon nicht wieder erholt.«

»Und Sie glauben ihm?« fragte Jo.

»Nun, bei Anna scheint seine Behandlungsweise anzuschlagen«, sagte ich.

»Hören Sie mal zu, Sie Schlaukopf«, sagte Jo überrascht und irritiert. »Erstens: Der Dicke hat nicht alle Tassen im Schrank. Zweitens: Wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie irgend jemanden anderen im House. Drittens: Genau deshalb will man nicht, daß er mit den neuen Interns anfängt. Viertens: Ich bin hier der Kapitän, und ich leiste ärztliche Hilfe, was, zu eurer Information, nicht bedeutet, nichts zu tun, sondern etwas zu tun. Und zwar, alles zu tun, was wir können.«

»Aber der Dicke sagt, das sei das Schlimmste …«

»Schluß! Ich will das nicht hören. Machen Sie die Diagnostik für die behandelbaren Ursachen von Demenz: LP, Hirnszintigrafie, Blutuntersuchungen, Schädel-Röntgen. Machen Sie das alles, und wenn alles negativ ist, dann können wir über Verlegung reden. Lächerlich. In Ordnung, Jungs, gehen wir weiter. Der Nächste?«

Wir segelten vorbei an Rokitansky, Sophie, Ina, der Jo den Footballhelm abnahm, dem kranken Dr. Sanders und all den anderen. Fast alle hatten plötzlich irgendwelche bis jetzt unentdeckten Herzleiden, Jos Spezialität. Wir landeten schließlich direkt vor der Tür des Gelben, an der Grenze zu den Hoheitsgewässern von Station 6-Nord. Obwohl er nicht unser Patient war, mußte Jo ihn sich unbedingt ansehen. Als sie wieder herauskam, wandte sie sich an Potts und sagte: »Ich habe von diesem Fall gehört. Fulminante Hepatitis. Tödlich, außer man packt es früh an und gibt Steroide. Lassen Sie mich Folgendes dazu sagen …«

Sie legte los mit einem Vortrag über die Krankheit, blind für die Qual auf Potts Gesicht. Am Ende sagte sie, sie würde Literaturangaben für uns kopieren und ging dann los, um dem Fisch und dem Leggo Bericht über unsere Visite zu erstatten. Irgendwie hatte sie es geschafft, uns die Luft rauszulassen. Etwas von ihr blieb zurück, etwas Straffes und Schweres und Graues, ein Magenumdrehen beim Sprung von der Brücke hinunter ins Wasser.

»Also, die is schon was andres als Dickie«, sagte Chuck.

»Ich vermisse ihn jetzt schon«, sagte ich.

»Sieht aus, als wüßten alle über den Gelben Bescheid«, sagte Potts.

»Meinst du, ich soll die ganzen Demenz-Untersuchungen an Anna O. durchziehen?«

»Sieht nich aus, als hätts du ’ne Wahl, Mann.«

»Der Dicke hat sich nie geirrt, nicht einmal,« sagte ich.

»Ich glaube, es gibt in der ganzen Welt keinen, der mehr über Gomers weiß als Dickie«, sagte Chuck. »Der is ’n cooler Typ, was diese Gomers angeht. Bleib cool, Roy, bleib cool.«

Getrieben von meiner Angst, irgend etwas zu übersehen und davon verfolgt zu werden wie Potts von dem Gelben, tat ich in den ersten Wochen mit Jo alles, was sie wollte. Ich ließ an jedem meiner Patienten jede erdenkliche Untersuchung machen, und ich trug sorgfältig alles in die Krankenakten ein. Mit Jos Hilfe schrieb ich sogar Referenzen als Fußnoten. Die Akten sahen bald großartig aus, auf Hochglanz poliert. Die Schlecker des House of God, der Fisch und der Leggo warfen einen Blick auf die blankgewienerten Akten, und ihre Gesichter erhellten sich in einem schönen, blanken Lächeln. Poliere die Akte, und du polierst automatisch die Schlecker. Und nicht nur das, bald merkte ich, daß die Untersuchungen immer komplizierter wurden, je mehr ich machen ließ, und die Patienten um so länger im House blieben. Entsprechend mehr Geld kassierten die Belegärzte. Poliere die Krankenakte, und du polierst automatisch die Belegärzte. Jo hatte recht: Je mehr du tust, um so mehr polierst du die Ärzte.

Die Dummen dabei waren die Patienten, vor allem die Gomers. Was die Gomers betraf, lag Jo vollkommen falsch. Je mehr ich unternahm, um so schlechter ging es ihnen. Als Jo ihren Dienst antrat, war Anna O.s Elektrolythaushalt im Gleichgewicht, jedes ihrer Organsysteme arbeitete so perfekt wie es bei einem 1878er Modell nur möglich war. Das galt meines Erachtens auch für das Gehirn, denn war Demenz nicht ein normaler und sanfter Übergang der Maschine in ihren Verfall? Sie hätte bald wieder ins Hebrew House of Incurables abgeschoben werden können. Nun wurde sie in den heißen Augustwochen im ganzen House herumgeschubst, Schädeluntersuchungen hier, LP dort. Es ging ihr immer schlechter, viel schlechter. Unter dem Stress der Demenz-Untersuchungen klappten ihre Organe eins nach dem anderen zusammen wie bei einem Dominospiel. Die radioaktive Kontrastflüssigkeit für ihre Hirnszintigrafie ließ ihre Nieren versagen, und die Kontrastflüssigkeit für die Untersuchung ihrer Nieren überlastete ihr Herz. Die Medikamente für ihr Herz ließen sie erbrechen, wodurch ihr Elektrolyt-Haushalt auf lebensgefährliche Weise gestört wurde. Dadurch verstärkte sich die Demenz, und ihr Verdauungssystem setzte aus. Eine Kolonpassage war angezeigt, aber die dafür notwendige Darmreinigung dehydrierte sie und ließ ihre gequälten Nieren vollständig versagen. Das führte zur Infektion, zur Dialyse und zu Riesenkomplikationen bei all diesen Riesenerkrankungen. Sie und ich waren erschöpft, und sie wurde sehr krank. Wie der Gelbe mußte sie durch eine Phase heftiger Krämpfe und zappelte wie ein Thunfisch am Haken. Darauf folgte eine Phase, die noch unheimlicher war, in der sie totenstill, wie sterbend in ihrem Bett lag. Ich war traurig, denn inzwischen mochte ich sie. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich fing an, lange an Annas Bett zu sitzen und nachzudenken.

Der Dicke hatte jede dritte Nacht als verantwortlicher Resident mit mir Dienst, und eines Nachts, als er nach mir suchte, um mit mir zum Zehn-Uhr-Essen zu gehen, fand er mich bei Anna, der ich bei ihrem Versuch zu sterben zusah.

»Was, zum Teufel, machen Sie hier?« fragte er.

Ich erzählte es ihm.

»Anna war schon auf dem Weg zurück ins Hebrew House! Was ist passiert – Moment, sagen Sie nichts. Jo hat beschlossen, allen Ursachen für ihre Demenz nachzugehen, richtig?«

»Richtig. Sie sieht aus, als würde sie sterben.«

»Sie stirbt nur, wenn Sie sie mit all dem umbringen, was Jo Sie machen läßt.«

»Aber was soll ich denn tun, wenn Jo mir im Nacken sitzt?«

»Ganz einfach. Tun Sie gar nichts mit Anna und verheimlichen es vor Jo.«

»Vor Jo verheimlichen?«

»Klar. Rein theoretisch setzen Sie die Untersuchungen fort, frisieren die Akte mit imaginären Ergebnissen imaginärer Untersuchungen, und Anna wird sich zu ihrem ursprünglichen verwirrten Zustand erholen, es sind keine heilbaren Ursachen dafür gefunden worden, und jeder ist glücklich. Und damit hat es sich.«

»Ich bin nicht sicher, ob das anständig ist.«

»Ist es anständig, diesen liebenswürdigen Gomer mit Ihren Untersuchungen umzubringen?«

Darauf konnte ich nichts mehr sagen.

»Also dann, gehen wir essen.«

Während wir aßen, fragte ich den Dicken über Jo aus. Er wurde ernst und sagte, Jo sei furchtbar deprimiert. Er dachte über sie genauso wie über den Fisch und über den Leggo und viele andere Schlecker: unglaubliches Lehrbuchwissen, aber kein gesunder Menschenverstand. Sie glaubten alle, Krankheit sei ein haariges, wildes Monster, das in saubere medizinische Käfige aus Differentialdiagnose und Behandlung eingesperrt werden muß. Nur ein bißchen übermenschliche Anstrengung, und alles würde wieder gut werden. Jo widmete ihr ganzes Leben dieser Anstrengung und hatte so für alles andere nur wenig Kraft übrig. Ihr Leben sei die Medizin, sagte Dickie.

»Es ist wirklich traurig, und jeder weiß es. Seit Jahren hat Jo sich auf diesen Augenblick, Resident einer Station zu werden, vorbereitet. Nun ist er da, und natürlich geht alles in die Hosen. Sie braucht diese Patienten so sehr, um die Leere in ihrem Leben auszufüllen, daß sie auch sonntags und in ihren freien Nächten herkommt. Sie fühlt sich unnütz, außer sie stellt sich vor, ihre Interns oder ihre Patienten brauchten sie. Leider ist das aber nicht der Fall, weil sie so ein klutz ist, wenn es um praktische Medizin und menschliche Kontakte geht. Die wichtigste Behandlung für Anna O. wäre, ihre verlorene Brille wiederzufinden. Jo sollte in die Forschung gehen. Aber sie weiß, sobald sie das täte, würde sich bestätigen, was alle wissen: Sie kann nicht mit Menschen umgehen.«

Ich mußte an Berry denken und sagte: »Sie hören sich an wie ein Chauvinist.«

»Ich?« fragte Dickie ehrlich überrascht. »Wieso?«

»Sie sagen, Frauen wie Jo sind lausige Ärzte, weil sie Frauen sind.«

»Nein. Ich sage, Frauen wie Jo sind lausige Menschen, weil sie Ärzte sind, genau wie viele Männer. Dieser Beruf ist eine Krankheit. Egal welchen Geschlechts wir sind, wir können sie alle kriegen, jeder von uns. Und eins ist sonnenklar, Jo ist davon befallen. Schlimm. Sie sollten mal ihre Wohnung sehen. Die sieht aus, als wohnte da niemand. Seit über einem Jahr ist sie jetzt hier und hat ihre Stereoanlage noch immer nicht ausgepackt.«

Wir saßen im Schatten von Jos erkranktem Leben, und wir kauten daran, bis Dickie schließlich wieder strahlte und sagte:

»He, hab ich Ihnen eigentlich schon von meinem Traum erzählt, der Erfindung?«

»Nein.«

»Dr. Jung’s Analspiegel: Die Große Erfindung der Amerikanischen Medizin.«

»Dr. Jung’s Analspiegel? Was, zum Teufel, ist das?«

»Erinnern Sie sich daran, wie man Ihnen im Gastroenterologie-Kurs sagte, Sie sollten mit Hilfe eines kleinen Spiegels den eigenen Anus untersuchen?«

»Ja.«

»Konnten Sie das?«

»Nein.«

»Natürlich nicht. Es ist unmöglich. Aber nicht mit Dr. Jung’s. Jeder kann in der Behaglichkeit des eigenen Heims seinen ureigenen Anus untersuchen.«

»Wie, zum Teufel, soll das gehen?« fragte ich, auf den Scherz eingehend.

Er zeigte es mir. Auf einer Serviette zeichnete er die komplexe und ausgeklügelte Kombination von zwei reflektierenden Spiegeln und einer Sammellinse, alles von einem verstellbaren Gestänge aus rostfreiem Stahl zusammengehalten. Er lenkte die Bahn des Lichts vom Anus zu den Augen und zurück, spaltete die Strahlen in farbenfrohe Regenbogen und phantastische Spektren, die er mit den verschiedensten komplexen Gleichungen und Zeichnungen ausarbeitete. Schließlich fragte er:

»Wissen Sie, wie viele Amerikaner jeden Tag schmerzhafte Darmkrämpfe und Blut an ihrem Toilettenpapier oder in der Schüssel haben? Millionen.«

»Warum nur Amerikaner?« scherzte ich. »Warum nicht gleich die Welt?«

»Genau. Sie brauchen es nur hochzurechnen. Wenn es Millionen in Amerika sind, sind es Milliarden in der ganzen Welt. Der Anus macht fast alle Menschen neugierig. Jeder würde ihn gern sehen, aber niemand kann es. Wie das finstere Afrika, bevor die Missionare kamen. Der Kongo des Körpers.«

Bei der Ahnung, dies könnte am Ende doch kein Scherz sein, kribbelte es mir im Nacken, und ich sagte: »Sie machen Witze.«

Der Dicke gab keine Antwort.

»Das ist die lächerlichste Idee, von der ich je gehört habe.«

»Ist es nicht. Und außerdem sagt man das immer über große Erfindungen. Das ist wie diese Vaginalspiegel der Gynäkologen. Übrigens kann man den Analspiegel so einstellen, daß man auch da reinsehen kann. Frauen benutzen den Vaginalspiegel, um ihre Vagina kennenzulernen. Dies ist ein Gerät für beide Geschlechter: LERNEN SIE IHR ARSCHLOCH KENNEN.« Mit ausgestreckten Händen, als läse er einen Autoaufkleber oder einen Werbeslogan, sagte Dickie:

»ARSCHLÖCHER SIND SCHÖN. BEFREIT DIE ARSCHLÖCHER. In menschlicher und finanzieller Hinsicht ein enormes Potential. Das ganz große Geld.«

»Das ist ja ungeheuerlich.«

»Genau darum wird es sich gut verkaufen.«

»Aber das ist doch ein Scherz, ja? Sie haben doch nicht wirklich einen Analspiegel fabriziert.«

Der Dicke sah abwesend in die Luft.

»Kommen Sie schon, Dickie«, sagte ich mit einem komischen Gefühl, »hören Sie auf.«

Ich wollte ihn drängen, mir die Wahrheit zu sagen. Diese Geschichte war so absurd, daß sie auch hätte wahr sein können. Und ich hatte mich in den letzten zehn Jahren immer gehörig geirrt, wenn ich in Amerika etwas für reine Phantasie gehalten hatte, angefangen bei Jack Ruby, der Lee Harvey Oswalds Gedärme über Amerikas Fernsehschirme verspritzte, bis hin zu den braunen Umschlägen mit Geld, die man Spiro Agnew in sein Vizepräsidentenbüro brachte. Ich hatte mich jedesmal geirrt und hatte all das für völlig absurd gehalten, was sich dann stets als handfeste Realität erwies.

»Kommen Sie schon, Dickie«, rief ich, »sagen Sie mir verdammt noch mal die Wahrheit! Meinen Sie das nun ernst oder nicht?«

»Ob ich was tue?« Dickie schien aus seinen Träumereien aufzuwachen, riß sich zusammen und sagte: »Oh, natürlich nicht, oder? Ich meine, niemand wird sich ernsthaft etwas so Verrücktes ausdenken, oder? Vergessen Sie nicht, Basch, was Anna und die anderen Gomers angeht: Frisieren Sie die Akten, und sehen Sie zu, daß Jo es nicht merkt. Bis später.«

Ich versuchte es. Ich beschloß, mit Anna O. alles menschenmögliche durchzuziehen und dabei möglichst nichts zu tun. Und Anna, die auf dem schmalen Grat über dem tiefen Abgrund in den Tod schwankte, landete tatsächlich wieder in der Warteschleife, die durch Regel Nr. 1 bestimmt wurde: Gomers sterben nicht.

Eines Tages, als ich an ihrem Zimmer vorbeikam, hörte ich schließlich wieder ein gesundes, verrücktes »Ruuudle«, und mein Herz überschlug sich vor Stolz. Ich wußte, Anna O. war wieder da, und ich hatte wissengerissenschaftlich bewiesen, daß Dickie im Recht war: Tat man nichts für die Gomers, tat man ihnen Gutes, und je gewissenhafter ich nichts tat, desto besser ging es ihnen. Ich beschloß, von nun an rigoros nichts zu tun, rigoroser als jeder andere Tern des House.

Irgendwie gelang es mir auch, dieses Nichtstun vor Jo zu verbergen.

Wie Jos orthodoxe Vorgehensweise bei den Nichtgomers, den Jungen, wirkte, von denen der Dicke gesagt hatte, sie könnten sterben, war bisher noch nicht zu erkennen. Während die schweren, grünen und stickigen Sommermonate uns fertigmachten, ganz Amerika sich über die Meldung eines Schmalspurbürokraten aus dem Weißen Haus namens Butterfield lustig machte – Nixon hätte sich so darüber gefreut, Präsident zu sein, daß er Tonbandsysteme installieren ließ, um jedes einzelne unsterbliche präsidiale Wort aufzuzeichnen, Worte, die er nun mit einem besonderen Trick, »Privileg des Präsidenten« genannt, Sirika und Cox vorzuenthalten versuchte –, ergaben Chuck und ich uns am Tage Jos Fanatismus, mit dem sie den sterbenden Jungen begegnete und ließen uns zeigen, wie man »immer alles« für diese nicht gomerösen Patienten tut. Wir quälten uns durch die Tage mit ihr, und wir benutzten sie als wandelndes Lehrbuch. Da es ihr eh unmöglich war, uns irgendwas allein machen zu lassen, täuschten wir Unfähigkeit vor und ließen sie all das tun, was ekelhaft war, wie zum Beispiel das Ausräumen. Ich hatte Chuck und Potts erzählt, wie der Dicke Jo einschätzte, darum hielten wir uns anfangs schwer zurück und behandelten sie wie ein rohes Ei. Wir enthielten uns jeder Kritik, und Chuck und ich verbargen unser Nichtstun vor ihr, was die Gomers betraf.

Ich schleppte mich also durch die langen, öden, doppelzüngigen Tage mit Jo und hielt den Dicken in mir lebendig, bis wir, jede dritte Nacht, wieder zusammen Nachtdienst hatten. Ich dachte daran, was er über sich selbst gesagt hatte: »Ich spreche aus, was jeder Arzt fühlt, was aber die meisten unterdrücken, so daß es ihnen die Eingeweide zerfrißt.« Ich beobachtete Jo, um die Symptome eines Magengeschwürs zu entdecken, und ich beobachtete den Fisch wegen seines großen und den Leggo wegen seines riesigen Magengeschwürs. Immer deutlicher, ja fast greifbar, begleitete mich in Gedanken jene tröstliche, fette Gestalt.

 

Während ich den Dicken hatte und Chuck sich selbst – was ihm, da er Schlimmeres durchgestanden hatte als die Gomers, genug zu sein schien –, hatte Potts nicht viel und ging durch die Hölle. Er war ein gebranntes Kind, weil er dem Dicken nichts über die Leberwerte des Gelben gesagt hatte, und entsprechend schwer fiel es ihm, irgendwelche Daten vor Jo zu verbergen. Sie hatte immer mit Potts zusammen Dienst, und so war jede Nacht für ihn genauso schlimm wie der Tag. Jo nörgelte ständig an ihm herum, er solle »die Katze füttern«, wie sie es nannte, immer alles für alle fünfundfünfzig Patienten tun. Selbst wenn er versucht hätte, bei dem einen oder anderen Gomer nichts zu tun, hätte Potts das nicht verbergen können, da Jo in ihrer Unfähigkeit, irgendjemandem zu trauen, mehr oder weniger Potts Rolle als Intern übernahm, praktisch seine Arbeit für ihn tat. Wie ein übereifriger BMS, der eine Eins zu bekommen versucht, blieb Jo die ganze Nacht auf und schrieb obskure, mit Verweisen gespickte Abhandlungen über »faszinierende Fälle« in die Krankenblätter. Jeder Piep und jeder Aufschrei, jede Frage einer Schwester, die von den öden Kachelwänden widerhallten, gaben Jo das Gefühl, wirklich zu sein und gebraucht zu werden, während sie sich außerhalb des House of God unvollständig und unnütz vorkam.

Potts war in einem miserabelen Zustand. Dank Jos aggressiver Behandlung der Gomers, ging es ihnen immer schlechter, und sie konnten nicht abgeschoben werden. Die sterbenden Jungen brauchten länger, um zu sterben, und Potts Patientenliste wurde immer umfangreicher. Bald mußte er von den fünfundfünfzig Patienten fünfundzwanzig selbst betreuen. Da Jo ihm ständig neue Arbeit aufdrückte, konnte er in den Nächten, in denen er Dienst hatte, überhaupt nicht schlafen, und am Tage mußte er härter und länger arbeiten, um auf dem Laufenden zu bleiben. Chuck und ich hatten oft dieselbe Nacht dienstfrei und wurden immer engere Freunde. Potts konnte nie etwas mit uns außerhalb des House of God unternehmen und wurde immer stiller und in sich gekehrt. Seine Frau, angeregt von der Folter ihres Internship als Chirurgin im Mans Best Hospital, wo sie fast jede zweite Nacht Dienst hatte, war praktisch aus seinem Leben verschwunden. Wir sahen, wie Potts versank, und je tiefer er sank, desto weniger konnten wir ihn erreichen. Selbst sein Hund fing an, trübsinnig zu werden.

Während eines Gewitters im späten August schließlich begann der Gelbe zu schreien, und nach Potts Gesichtsausdruck zu urteilen, war es seine eigene Leber, die da vor Schmerz brüllte. Zufällig hatte sich ein weiterer Patient mit einem Leberleiden bei Potts vorgestellt. Lazarus war ein Nachtwächter mittleren Alters, der die schlechte Idee und das gute Geschick gehabt hatte, sein Leben lang Nachtarbeit zu machen, was ihm erlaubt hatte, herumzusitzen und seine Leber mit billigem Fusel zugrundezurichten. Lazarus’ Lebererkrankung war alles andere als nobel, es war die Standard-Variante einer Zirrhose, wie man sie an jeder Straßenecke der Welt an irgendeiner Flasche hängen sieht. Er würde sterben und versuchte vehement, dies zu beschleunigen. Jo und Potts standen ihm dabei im Weg. Sie unternahmen heldenhafte Anstrengungen, die bald selbst im House of God zur Legende wurden. Von Zeit zu Zeit versuchten Chuck und ich, Potts ein bißchen zu trösten, was den Zustand von Lazarus betraf. Wie schrecklich es sei, daß er eine Zirrhose hätte und sterben würde.

»Ja«, sagte Potts, »seine verdammte Leber macht mich völlig fertig.«

»Warum läßt du ihn nicht einfach sterben?« fragte ich.

Jo sagt, er kann es schaffen.«

»Was schaffen, Mann, sich ’ne neue Leber wachsen lassen?« fragte Chuck.

»Jo sagt, ich müßte das volle Programm durchziehen, alles für ihn tun.«

»Willst du das denn?« fragte ich

»Nein. Es gibt keine Heilung für Zirrhose, und außerdem, ich sage euch was, Lazarus hat, als er das letzte Mal bei Bewußtsein war, zu mir gesagt, daß er lieber tot sein möchte. Er hat schon solche Höllenqualen ausstehen müssen, daß er mich anflehte, ihn sterben zu lassen. Diese letzte Varizenblutung, als er fast in seinem eigenen Blut ertrunken wäre, hat ihn zu Tode erschreckt. Ich würde ihn ja gern einfach sterben lassen, aber ich fürchte mich, Jo das zu sagen.«

»Mann, weißt du denn nicht mehr? Sie will unsere Klagen hören.«

»Richtig«, sagte Potts, »es hieß, offen heraus mit allen Klagen. Ich werde ihr sagen, daß ich ihn nicht länger am Leben erhalten will.«

Ich rechnete damit, daß Jo auf den Gelben anspielen würde und schlug deshalb vor: »Sag ihr nichts. Sie wird dich in Stücke reißen.«

»Sie will es hören«, sagte Potts, »sie hat gesagt, sie will es hören.«

»Sie will es gar nicht hören«, antwortete ich, »bestimmt nicht.«

»Ich will es hören«, hatte Jo gesagt, »offen heraus, klar?«

»Sie will es hören, das hat sie gesagt«, sagte Potts.

»Will sie nicht. Wenn du es ihr sagst, wird sie dich in Stücke reißen.«

Potts sagte Jo, daß er glaube, es wäre nicht richtig, von ihm zu verlangen, daß er Lazarus am Leben erhielt, und Jo riß ihn in Stücke. Das Beispiel, das sie anführte, um ihn ins Unrecht zu setzen, war der Gelbe.