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Der Dicke dürfte der erste gewesen sein, der mir zeigte, was ein Gomer ist. Er war mein erster Resident und half mir, von einem BMS-Studenten zu einem Intern im House of God zu werden. Er war wundervoll und ein Wunder an sich. In Brooklyn geboren, in New York City aufgewachsen, vital, unerschütterlich, brillant, tüchtig. Angefangen bei seinem glatten, schwarzen Haar, seinen scharfen, schwarzen Augen, dem wulstigen Kinn, dem enormen Bauch, der seine Gürtelschnalle wie einen blanken Fisch auf seinem Leib auf und ab gleiten ließ, bis hinunter zu seinen breiten, schwarzen Schuhen war der Dicke einfach phantastisch. Nur New York City konnte ein solches Geschöpf hervorbringen. Als Dank betrachtete der Dicke die Wildnis westlich des großen Grenzstreifens, dem Riverside Drive, mit äußerstem Mißtrauen. Die einzige Ausnahme, die er in seinem städtischen Provinzlertum gelten ließ, war Hollywood, das Hollywood der Filmstars.
Am Morgen des ersten Juli, um 6 Uhr 30, verschlang mich das House of God, und ich stand in einem langen, giftgrünen Korridor im sechsten Stock. Das war Station 6-Süd, wo ich anfangen sollte. Eine Schwester mit herrlich behaarten Unterarmen wies mir den Weg zum Dienstzimmer des House Officers, wo die Visite stattfand. Ich öffnete die Tür und trat ein. Ich bestand nur noch aus Angst. Wie Freud via Berry gesagt hatte, kam meine Angst »auf direktem Wege vom Es«.
Um den Tisch herum saßen fünf Personen. Der Dicke und ein Intern, Wayne Potts, ein Südstaatler, den ich von der BMS kannte, ein netter Junge, aber depressiv, gehemmt und irgendwie zusammengesackt. Er war strahlend weiß gekleidet, und seine Taschen beulten sich aus vor lauter Instrumenten. Die drei anderen glühten vor Eifer, und daraus schloß ich, daß es BMS-Studenten waren, die ihr medizinisches Praktikum machten. Jeder Intern bekam für das ganze Jahr einen BMS aufgedrückt. »Wird auch Zeit«, sagte der Dicke und biß in ein Brötchen. »Wo bleibt der andere Vogel?«
Ich nahm an, er meinte Chuck, und sagte: »Ich weiß es nicht.«
»Dämlicher Vogel«, sagte der Dicke. »Wegen dem komme ich noch zu spät zum Frühstück.«
Ein Piepser ging los, und Potts und ich erstarrten. Es war der des Dicken: »Zentrale für den Dicken, ein Gespräch von außerhalb, Zentrale für den Dicken, ein Gespräch von außerhalb, sofort.«
»Hallo, Murray, was gibt’s?« sagte der Dicke in den Apparat. »Ah, gut. Was? Ein Name? Sicher, ja, kein Problem, Moment mal.« Zu uns gewandt fragte er: »Sagt mir einen griffigen Arztnamen, ihr komischen Vögel.«
Ich dachte an Berry und sagte: »Freud.«
»Freud? Nein. Einen anderen. Schnell.«
»Jung.«
»Jung? Jung. Murray? Ich hab’s. Nenn’ es Dr. Jung’s. Sehr gut. Denk dran, Murray, wir werden reich. Millionen. Wiedersehen.« Der Dicke wandte sich wieder zu uns und sagte mit zufriedenem Grinsen: »Ein Vermögen. Ha! OK, fangen wir die Visite ohne den andren Intern an.«
»Gut«, sagte einer der Studenten und stand auf. »Ich hole den Aktenwagen. An welchem Ende der Station beginnen wir?«
»Setzen Sie sich!« sagte der Dicke. »Was reden Sie da?«
»Wollen wir nicht Visite machen?« fragte der BMS.
»Das wollen wir, und zwar genau hier.«
»Aber … aber sehen wir uns die Patienten nicht an?«
»In der Inneren Medizin muß man sich die Patienten nicht ansehen. Allen Patienten geht es besser, wenn man sie nicht sieht. Sehen Sie diese Finger?«
Wir sahen uns die kurzen fetten Finger des Dicken aufmerksam an.
»Diese Finger berühren den Körper eines Patienten nur, wenn es sein muß. Sie wollen Körper sehen, gut, gehen Sie, sehen Sie sie sich an. Ich habe genügend Körper gesehen, vor allem von Gomers, das reicht mir fürs ganze Leben.«
»Was ist ein Gomer?« fragte ich.
»Was ein Gomer ist?« sagte der Dicke. Mit einem kleinen Grinsen buchstabierte er: »G-O …«
Er hielt inne, den Mund zum O geformt, und starrte zur Tür. Da stand Chuck in einem bis zu den Schuhen reichenden braunen Ledermantel mit braunen Fellkanten, Sonnenbrille und einem braunen Lederhut mit breiter Krempe und einer roten Feder. Er ging schwerfällig auf Plateausohlen und sah aus, als hätte er die Nacht durchgetanzt.
»He, Mann, was liegt an?« sagte Chuck, glitt auf den nächststehenden Stuhl, sackte zusammen und bedeckte die Augen mit einer matten Hand. Mit einstudierter Geste knöpfte er seinen Mantel auf und warf sein Stethoskop auf den Tisch. Es war kaputt. Er sah es an und sagte: »Oh, hab wohl mein ›skop kaputtgemacht. Harter Tag.«
»Du siehst aus wie ein Straßengangster,« sagte ein BMS. »Genau, Mann. In Chicago, wo ich herkomm’, gibt’s nur zwei Typen, die Klauer und die Beklauten. Mann, du wirst automatisch beklaut, wenn du nich’ wie ’n Klauer aussiehst. Kapiert?«
»Laßt gut sein«, sagte der Dicke. »Hören Sie zu. Ich war für heute eigentlich nicht als Ihr Resident vorgesehen. Eine Frau namens Jo sollte es sein, aber ihr Vater ist gestern von einer Brücke gesprungen und ist tot. Das House hat unsere Dienstpläne getauscht, und so bin ich jetzt für die nächsten drei Wochen Ihr Resident. Nach allem, was ich im letzten Jahr als Inlern angestellt habe, wollte man mir eigentlich die neuen Interns nicht ausliefern, aber sie hatten keine Wahl. Und warum wollten sie nicht, daß Sie an Ihrem ersten Tag als Ärzte ausgerechnet auf mich stoßen? Weil ich alles sage, wie es ist – keine Quatschologie. Der Fisch und der Leggo wollen nicht, daß Sie zu schnell entmutigt werden. Und sie haben recht. Wenn Sie jetzt schon genauso deprimiert beginnen, wie Sie im Februar sein werden, springen Sie im Februar von einer Brücke, genau wie der Paps von Jo. Der Fisch und der Leggo wollen, daß Sie sich Ihre Illusionen erhalten, damit Sie nicht in Panik geraten. Ich weiß genau, wieviel Angst Sie drei heute haben.«
Ich liebte ihn. Er war der erste, der zugab, daß er unsere Angst kannte.
»Weswegen muß man denn deprimiert sein?« fragte Potts.
»Die Gomers«, sagte der Dicke.
»Was ist ein Gomer?«
Von draußen kam ein anhaltender, schriller Schrei: »Geh weg geh weg geh weg …«
»Wer hat heute Dienst? Ihr drei Interns wechselt euch ab, und Sie nehmen nur Patienten auf, wenn Sie Dienst haben. Wer ist heute dran?«
»Ich«, sagte Potts.
»Gut. Dieses gräßliche Geschrei kommt von einem Gomer. Wenn ich mich nicht irre, von einer gewissen Ina Goober, die ich letztes Jahr sechsmal aufgenommen habe. Gomer ist ein Akronym: Get Out of My Emergency Room – raus aus meiner Notaufnahme. Das möchten Sie nämlich sagen, wenn Ihnen um 3 Uhr nachts so einer aus dem Pflegeheim hergeschickt wird.«
»Ich finde das ziemlich hart«, sagte Potts. »Nicht jeder denkt so über alte Leute.«
»Glauben Sie vielleicht, ich hätte keine Großmutter?« fragte der Dicke ärgerlich. »Ich habe eine, und sie ist eine nette, freundliche, wundervolle alte Dame. Ihre Matze-Klöße sind so leicht, sie schweben richtig. Man muß sie festnageln, um sie essen zu können. Durch ihre Leichtigkeit schwebt sogar die Suppe. Wir pflegen auf Leitern zu essen und kratzen das Essen von der Decke. Ich liebe …« Der Dicke mußte innehalten und sich Tränen aus den Augen wischen. Dann fuhr er leise fort: »Ich liebe sie sehr.«
Ich dachte an meinen Großvater. Ich liebte ihn auch.
»Aber Gomers sind keine netten, alten Leute,« sagte der Dicke.
»Gomers sind Wesen, die das verloren haben, was ein menschliches Wesen ausmacht. Sie wollen sterben, und wir lassen sie nicht sterben. Wir sind grausam zu den Gomers, und sie sind grausam zu uns, indem sie mit Zähnen und Klauen gegen unsere Versuche ankämpfen, sie zu retten. Sie quälen uns, wir quälen sie.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Potts.
»Wenn Sie Ina gesehen haben, werden Sie es verstehen. Hören Sie zu, ich habe zwar gesagt, ich sehe mir keine Patienten an, aber ich bin hier, wenn Sie mich brauchen. Wenn Sie klug sind, machen Sie Gebrauch von mir. Denken Sie an diese aufgedonnerten Jets, die die Gomers nach Miami bringen: Ich bin der Dicke, fliegen Sie mit mir. So, und jetzt lassen Sie uns Karten legen.«
Die Effizienz der Welt des Dicken beruhte auf dem Konzept der DIN-A5-Karteikarte. Er liebte DIN-A5-Karten. Mit den Worten, »es gibt kein menschliches Wesen, dessen medizinische Daten nicht auf einer DIN-A5-Karte aufgelistet werden könnten«, legte er zwei dicke Stapel auf den Tisch. Der eine war für ihn, den anderen, die Duplikate, teilte er in drei gleiche Teile und händigte jedem von uns neuen Interns einen aus. Auf jeder Karte standen die Daten eines Patienten, unseres Patienten, meines Patienten. Der Dicke erklärte uns, wie er bei seinen Visiten die Karten aufdeckte und von dem zuständigen Intern erwartete, daß er über alle Maßnahmen an seinen Patienten berichtet. Nicht, daß er unbedingt Erfolge erwartete, aber wenigstens einige Daten, damit er am späteren Vormittag beim darauf folgenden Kartenflip, einer komprimierten Version des Kartenlegens mit dem Fisch und dem Leggo, »irgendeinen Quatsch« berichten könne. Die Neuaufnahmen des Intern, der in der Nacht Dienst gehabt hatte, sollten immer die ersten des Stapels sein. Er sei nicht an blumigen Ausarbeitungen akademischer Theorien über die jeweilige Krankheit interessiert, erklärte der Dicke. Nicht, daß er unakademisch vorgehe, im Gegenteil, er sei der einzige Resident, der seine eigene Referenzkartei aller Krankheiten besaß: auf DIN-A5-Karten. Er liebte Verweise auf DIN-A5-Karten. Er liebte alles, was auf DIN-A5-Karten stand. Aber er hatte strenge Prioritäten, und an allererster Stelle stand das Essen. Bevor dieser ehrfurchtgebietende Panzer, in dem sein Verstand saß, durch den gierigen Stutzen seines Mundes vollgetankt war, hatte der Dicke keine Geduld für die Medizin, weder für die akademische noch für eine andere, oder für sonst irgend etwas.
Als die Visite vorbei war, ging der Dicke zum Frühstück und wir auf die Station, um die Patienten auf unseren Karten kennenzulernen. Potts, grün im Gesicht, sagte:
»Roy, ich bin so nervös wie eine Hure in der Kirche.«
Levy, mein BMS-Student, wollte mich zu meinen Patienten begleiten, aber ich scheuchte ihn weg zur Bibliothek, wo sich alle BMS-Studenten gern aufhalten. Chuck, Potts und ich standen in der Stationszentrale, und die Schwester mit den behaarten Unterarmen sagte zu Potts, die Frau auf der Trage sei seine erste Aufnahme für heute und sie heiße Ina Goober. Ina war ein großer Fleischklops, der aufrecht auf einer Trage saß. Sie trug ein Hemd, das wie eine Art Uniform aussah und quer über ihrer Brust die Aufschrift trug: »Das Neue Masada Pflegeheim«. Böse umklammerte sie ihre Handtasche und schrie schrill und durchdringend:
»Geh weg geh weg geh weg …«
Potts tat, was im Lehrbuch steht. Er stellte sich vor: »Hallo, Mrs. Goober, ich bin Dr. Potts. Ich werde mich um Sie kümmern.«
Ina kreischte noch lauter: »Geh weg geh weg geh weg …«
Potts versuchte es mit der anderen im Lehrbuch empfohlenen Methode und griff nach ihrer rechten Hand. Blitzschnell versetzte Ina ihm mit ihrer Tasche einen linken Haken, der ihn gegen den Aufnahmetresen zurückstieß. Diese Bösartigkeit erschreckte uns. Potts rieb sich den Kopf und fragte Maxine, die Schwester, ob Ina einen Private Doctor habe, der ihm Informationen geben könne.
»Ja«, sagte Maxine, »Dr. Kreinberg. Der kleine Otto Kreinberg. Das ist der dahinten, der die Anordnungen in Inas Akte einträgt.«
»Belegärzte dürfen nichts verordnen«, sagte Potts, »das ist gegen die Vorschrift. Nur Interns und Residents verordnen.«
»Der kleine Otto ist anders. Er will nicht, daß Sie für seine Patienten etwas verordnen.«
»Darüber werde ich sofort mit ihm reden.«
»Bitte sehr. Klein-Otto spricht nicht mit Interns. Er haßt Sie.«
»Er haßt mich?«
»Er haßt jeden. Sehen Sie, er hat vor dreißig Jahren etwas erfunden, das mit dem Herzen zu tun hat, und hat erwartet, dafür den Nobelpreis zu bekommen. Hat er aber nicht. Darum ist er verbittert. Er haßt jeden, vor allem Interns.«
»He, Mann«, sagte Chuck, »is bestimmt ’ne große Sache. Bis später.«
Ich hatte solche Angst, meinen Patienten gegenüberzutreten, daß ich Durchfall bekam und mit meinem Wie-mache-ich-was-Handbuch auf den Knien auf der Toilette saß. Mein Piepser ging los: »Dr. Basch bitte sofort nach Station 6-Süd, Dr. Basch …«
Das schlug mir direkt auf den Schließmuskel. Jetzt hatte ich keine Wahl mehr. Ich konnte nicht länger weglaufen. Also ging ich raus auf die Station und versuchte, mir meine Patienten anzusehen. Ich nahm meine schwarze Tasche und betrat in meinem Arztkittel die Krankenzimmer. Und mit meiner schwarzen Tasche kam ich wieder aus den Krankenzimmern raus. Das totale Chaos. Da waren die Patienten, und alles, was ich wußte, stand gedruckt in den Bibliotheken. Ich versuchte, ihre Akten zu lesen. Die Wörter verschwammen mir vor den Augen, und meine Gedanken hüpften von Wie verhalte ich mich bei Herzstillstand direkt zu Berry, zu diesem seltsamen Dicken, zu Inas brutaler Attacke gegen den armen Potts und zu Klein-Otto, dessen Name in Stockholm keinem ein Begriff war. Wie eine ständige Hintergrundmusik ging mir immer und immer wieder eine Merkhilfe für die Zweige der Arteria carotis externa durch den Kopf: As She Lay Extended Olafs Potato Slipped In. Und trotzdem war Olaf, für Occipital, der einzige, an den ich mich erinnern konnte. Was zum Teufel nützte einem das?
Ich geriet in Panik. Aber dann rettete mich das Geschrei, das aus den verschiedenen Zimmern schallte. Ein Zoo, dachte ich plötzlich. Das war ein Zoo, und die Patienten waren die Tiere. Ein kleiner alter Mann mit einem weißen Schopf stand mit einer Krücke auf einem Bein und stieß scharfe, besorgte Piepser aus. Ein Reiher. Eine riesige Polin von der Bauernsorte, mit Händen wie Vorschlaghämmer und zwei aus ihrem höhlenartigen Mund hervorstehenden Reißzähnen, sah aus wie ein Nilpferd. Viele verschiedene Affenarten gab es und auch Säue in großer Zahl. Aber weder majestätische Löwen noch niedliche Koalabären, weder Hasen noch Schwäne.
Zwei Patienten hoben sich von der Menge ab. Da war eine Färse namens Sophie, die von ihrem Private Doctor gebracht worden war. Sie klagte:
»Ich bin deprimiert, ich habe ständig Kopfschmerzen.«
Aus irgendeinem Grund hatte Dr. Putzel, ihr Arzt, eine komplette Magen-Darm-Untersuchung angeordnet. Das hieß: Bariumeinlauf, Ösophagusbreischluck mit Sellink, Sigmoidoskopie und Leberszintigrafie. Mir war nicht klar, was das mit Depressionen und Kopfschmerzen zu tun hatte. Als ich ihr Zimmer betrat, sah ich einen kleinen Mann mit Glatze am Bett der alten Frau sitzen, der ihr zärtlich die Hand streichelte. Wie rührend, dachte ich, ihr Sohn besucht sie. Es war aber nicht ihr Sohn, es war Dr. Bob Putzel, den der Dicke als den »Händchenhalter aus der Vorstadt« bezeichnete. Ich stellte mich vor, und als ich Dr. Putzel nach dem Grund für die Bauch-Diagnostik bei Depressionen fragte, sah er mich verlegen an, zog seine Krawatte zurecht, murmelte etwas von »Flatulenz«, küßte Sophie zum Abschied auf die Wange und eilte hinaus. Verwirrt rief ich den Dicken.
»Was soll diese Bauch-Diagnostik?« fragte ich. »Sie sagt, sie sei deprimiert und habe Kopfschmerzen.«
»Das ist die Spezialität des Hauses«, sagte der Dicke. »Der Große Darmangriff. TBB, Therapeutische Barium Behandlung.«
»An Barium ist nichts Therapeutisches. Es ist wirkungslos.«
»Gewiß ist es das. Aber Kontrasteinlauf und Endoskopie sind die großen Gleichmacher.«
»Sie hat Depressionen. Mit ihrer Bauchhöhle ist alles in Ordnung.«
»Sicher. Mit ihr ist auch sonst alles in Ordnung. Sie ist es nur leid, zu Putzel in die Praxis zu kommen, und er ist es leid, sie zu Hause zu besuchen. Also sind sie beide in seinen weißen Continental gestiegen und zu uns ins House gekommen. Ihr geht es gut, sie ist eine LAD in GAZ, eine Liebe Alte Dame in Gutem Allgemeinzustand. Glauben Sie, Putzel wüßte das nicht auch? Aber jedes Mal, wenn er Sophies Hand hält, sind das vierzig ihrer Versicherungsdollars. Millionen. Kennen Sie das neue Gebäude, den Zock-Flügel? Wissen Sie, wofür es gedacht ist? Für den Großen Darmangriff auf die Reichen. Teppiche, eigene Umkleideräume in der Radiologie mit Farbfernseher und Quadrophonie. Mit Scheiße ist ’ne Menge Geld zu machen. Ich selbst bemühe mich auch um ein Forschungsstipendium in der Gastroenterologie.«
»Aber bei Sophie ist das Betrug.«
»Richtig. Aber nicht nur das, es bedeutet Arbeit für Sie, und Geld für Putzel. Da kommt was zusammen.«
»Das ist verrückt«, sagte ich.
»Das ist Medizin nach Art des House of God.«
»Und was kann ich machen?«
»Sprechen Sie nicht mit ihr. Wenn Sie mit solchen Patienten sprechen, werden Sie sie nie wieder los. Hetzen Sie Ihren BMS auf sie. Das wird sie nicht mögen.«
»Ist sie ein Gomer?«
»Benimmt sie sich menschlich?«
»Aber sicher. Sie ist eine nette alte Dame.«
»Richtig. Eine LAD in GAZ. Kein Gomer. Aber Sie haben sicher auch einen Gomer unter Ihren Patienten. Lassen Sie mal sehen. Hier, Rokitansky. Kommen Sie.«
Rokitansky war ein alter Dachshund. Er war Lehrer am College gewesen und hatte einen schweren Schlaganfall erlitten. Er lag festgeschnallt auf seinem Bett, intravenöse Zugänge führten in ihn hinein, Katheter heraus. Regungslos, paralysiert, die Augen geschlossen, ruhig atmend, träumte er vielleicht von einem Knochen oder von einem Jungen oder von einem Jungen, der einen Knochen warf.
»Mr. Rokitansky, wie geht es Ihnen?« fragte ich.
Nach fünfzehn Sekunden sagte er, ohne die Augen zu öffnen mit rauhem, undeutlichem Knurren tief aus seinem lädierten Hirn heraus:
»Prrachvell.«
Zufrieden fragte ich: »Mr. Rokitansky, welches Datum haben wir heute?«
»Prrachvell.«
Auf alle meine Fragen war seine Antwort immer gleich. Ich war traurig. Ein Lehrer. Jetzt vegetierte er nur noch dahin. Wieder dachte ich an meinen Großvater und bekam einen Kloß im Hals. Ich wandte mich zum Dicken und sagte:
»Das ist doch schrecklich. Er wird sterben.«
»Nein, wird er nicht«, sagte der Dicke. »Er möchte gern, aber er wird nicht.«
»Er kann doch nicht so weitermachen!«
»Kann er doch. Hören Sie zu, Basch, es gibt eine Reihe von Regeln im House of God. Regel Nummer 1: Gomers sterben nicht.«
»Das ist lächerlich. Natürlich sterben sie.«
»In meinem Jahr hier habe ich keinen einzigen sterben sehen«, sagte der Dicke.
»Sie müssen doch sterben.«
»Nein. Sie machen immer weiter. Junge Leute wie Sie und ich sterben, Gomers nicht. Hab noch keinen gesehen. Nicht einen einzigen.«
»Wieso nicht?«
»Ich weiß nicht. Niemand weiß das. Es ist erstaunlich. Vielleicht sind sie drüber weg. Bemitleidenswert. Das ist das Schlimmste.«
Potts kam herein, er sah verwirrt und betroffen aus. Er brauchte die Hilfe des Dicken bei Ina Goober. Sie gingen, und ich wandte mich wieder Rokitansky zu. Im schwachen Dämmerlicht schien es mir, als liefen dem alten Mann Tränen über die Wangen. Scham überkam mich. Mein Magen drehte sich um. Hatte er gehört, was wir gesagt hatten?
»Mr. Rokitansky, weinen Sie?« fragte ich und wartete, während die langen Sekunden vorbeitickten und Schuldgefühle in mir rumorten.
»Prrachvell.«
»Aber, haben Sie gehört, was wir über Gomers gesagt haben?«
»Prrachvell.«
Ich verließ das Zimmer und blieb bei den anderen stehen, um zu hören, was der Dicke über Ina Goober kundtat.
»Aber es gibt keine Indikation für einen Kontrasteinlauf«, sagte Potts.
»Keine medizinische Indikation«, sagte der Dicke.
»Also, was für einen Grund gibt es dann?«
»Für die House Privates einen großen. Sagen Sie es ihm, Basch.«
»Geld«, sagte ich, »mit Scheiße ist ’ne Menge Geld zu machen.«
»Und was immer Sie auch tun, Potts«, sagte der Dicke, »Ina wird noch Wochen hier bleiben. Ich sehe Sie in fünfzehn Minuten bei der Visite.«
»Das ist das Deprimierendste, was ich je gemacht habe«, sagte Potts und hob eine von Inas schlaffen Brüsten an, während sie kreischend versuchte, mit ihrer angeschnallten linken Hand nach ihm zu schlagen.
Unter der Brust war eine grünliche, schaumige Masse, und als der faulige Geruch uns anfiel, dachte ich, daß dieser erste Tag für Potts noch schlimmer sein mußte als für mich. Er war aus Charleston, South Carolina, in den Norden verpflanzt worden. Er kam aus einer reichen, alten Familie, die ein Traumhaus an der Legare Street besaß, inmitten von Magnolien und gelbem Jasmin, ein Sommerhaus auf Pawley’s Island, wo nur Wind und Wellen es miteinander aufnahmen, und eine Plantage flußaufwärts, wo er und seine Brüder an kühlen Sommerabenden auf der Veranda saßen und Molière lasen. Potts hatte den tödlichen Fehler begangen, nach Princeton in den Norden zu gehen, und hatte diesen Fehler dadurch, daß er zur BMS ging, noch größer gemacht. Dort, bei den Leichen in der Pathologie, lernte er eine rassige BMS-Studentin aus Boston kennen. Und da Potts sexuelle Erfahrungen sich bis dahin auf »gelegentliche Pausentreffs mit einer Lehrerin aus North Charleston beschränkte, die es auf meinen Stahlhammer abgesehen hatte«, war er sowohl sexuell wie intellektuell von dem BMS-Mädchen überwältigt. So wie an einem falschen Frühlingstag im Februar alle Bienen ausschwärmen, um dann vom nächsten Frost getötet zu werden, so war in diesen beiden BMS-Studenten etwas aufgeblüht, das beide Liebe genannt hatten. Die Hochzeit fand unmittelbar vor Beginn ihrer Internships statt, seines in Innerer Medizin im House of God, ihres in Chirurgie im MBH, dem renommierten WASP-Krankenhaus am anderen Ende der Stadt, das an die BMS angeschlossen war. Ihre Dienstpläne stimmten selten überein, und ihr Sexvergnügen verkümmerte zum Pflichtsex, denn welches erigierende Gewebe hielt schon zwei Internships aus? Armer Potts. Ein Goldfisch im falschen Glas. Schon in der BMS wirkte er deprimiert, und jede seiner Entscheidungen hatte seither seine Depression vertieft.
»Oh, übrigens«, sagte der Dicke und steckte seinen Kopf noch einmal herein, einen Footballhelm der Los Angeles Rams in der Hand. »Ich habe ihr das hier verschrieben.«
»Wofür ist der?« fragte Potts.
»Für Ina«, sagte der Dicke und stülpte ihn ihr über den Kopf.
»Regel Nummer 2: Gomers gehen zu Boden.«
»Was heißt das?« fragte ich.
»Sie fallen aus dem Bett. Ich kenne Ina vom letzten Jahr. Sie ist ein vollkommen verrückter, ausgetrockneter Gomer. Egal wie sicher sie auch angeschnallt ist, sie wird immer wieder rausfallen. Im letzten Jahr hat sie sich zweimal den Schädel gebrochen und war monatelang hier. Deshalb kamen wir auf die Idee mit dem Helm. Oh, übrigens, obwohl sie dehydriert ist: Was auch immer Sie mit ihr machen, Potts, hydrieren Sie sie nicht. Ihre Dehydration hat nichts mit ihrer Demenz zu tun, auch wenn es so im Lehrbuch steht. Wenn Sie sie hydrieren, bleibt sie verrückt, wird aber unglaublich aggressiv.«
Potts sah den Dicken an, und kaum war Inas linke Hand frei, schlug sie wieder zu. Instinktiv hob Potts die Hand, um zurückzuschlagen, hielt aber inne. Der Dicke bog sich vor Lachen.
»Ho, ho, habt ihr das gesehen? Ich liebe sie, ich liebe diese Gomers, wirklich …« Und lachend ging er aus der Tür.
Der Helm auf ihrem Kopf machte, daß Ina noch lauter kreischte: »Geh weg geh weg geh weg …«
Wir ließen sie sorgfältig angeschnallt allein, über ihren Ohren die gedrehten Widderhörner, und gingen zur Visite.
Im House of God, einem der BMS angeschlossenen Lehrkrankenhaus, gab es eine Visite für jedes Stationsteam: jeden Tag hielt ein Mitglied der Privates oder der Schlecker diese Lehrvisite ab. An unserem ersten Tag erschien George Donowitz, ein Private, der vor dem Zeitalter des Penicilin ziemlich gut gewesen war. Vorgestellt wurde ein gesunder junger Mann in gutem Allgemeinzustand, der zu einer Routineuntersuchung seiner Nierenfunktion aufgenommen worden war. Levy, mein BMS, stellte den Fall vor, und als Donowitz ihn drängte, eine Diagnose zu stellen, tippte er rasch aus der Liste obskurer Diagnosen auf »Amyloidose«.
»Typisch«, brummte der Dicke, als wir uns um das Krankenbett versammelten, »typisch BMS. Ein BMS hört draußen vor seinem Fenster Hufschläge und denkt als erstes an ein Zebra. Der Junge ist urämisch. Häufige Infektionen in seiner Kindheit haben seine Nieren geschädigt. Außerdem gibt es keine Behandlung für Amyloidose.«
»Amyloid?« fragte Donowitz. »Guter Gedanke. Lassen Sie mich Ihnen einen Nachweis für Amyloidose zeigen. Wie Sie wissen, bekommen Menschen mit diesem Leiden leicht Blutergüsse, sehr leicht, wirklich.«
Donowitz zwickte die Haut am Unterarm des Patienten. Nichts passierte. Verwirrt sagte er etwas wie: »Manchmal muß man ein bißchen fester zugreifen«, und er packte die Haut, drehte sie zusammen und kniff mit aller Kraft hinein. Der Patient schrie auf, fuhr hoch und begann vor Schmerz zu weinen. Donowitz sah hinunter und stellte fest, daß er ein großes Stück Haut vom Arm des Jungen gerissen hatte. Blut spritzte aus der Wunde. Donowitz wurde blaß und wußte nicht, was er tun sollte. Beschämt versuchte er, das Stück Haut wieder an seinen Platz zu bringen, drückte es auf die Wunde, als könnte er es wieder ankleben. Schließlich murmelte er: »Es … es tut mir leid«, und lief aus dem Zimmer.
Kühl und gelassen legte der Dicke einen Druckverband an. Dann gingen wir.
»Was haben Sie heute gelernt?« fragte der Dicke. »Sie haben gelernt, daß urämische Haut dünn und verletzlich ist und daß House Privates nichts taugen. Was noch? Worauf müssen wir jetzt bei dem armen Kerl achten?«
Der BMS versuchte es mit verschiedenen Zebras, und der Dicke hieß ihn schweigen. Potts und ich hatten keine Ahnung.
»Infektion«, sagte Chuck. »Bei Urämie muß man auf Infektionen achten.«
»Genau«, sagte der Dicke. »Bacteria-City, Infektionen angesagt. Wir müssen an alles denken. Ohne Donowitz wäre der Junge morgen nach Hause gegangen. Jetzt wird es Wochen dauern, wenn er am Leben bleibt. Und wenn er Bescheid wüßte, hieße das hier ärztlicher Kunstfehler.«
Bei diesem Gedanken muckte der BMS wieder auf, er wolle den Patienten aufklären, damit er klagen könne.
»Das wird nicht klappen«, sagte der Dicke, »denn je schlechter der Private, desto mehr kümmert er sich und wird von den Patienten geschätzt. Wenn schon ein Arzt auf das Fernsehklischee eines Arztes reinfällt, dann erst recht der Patient. Kann er denn wissen, welches die 00-Privates sind? Natürlich nicht.«
»00?« fragte ich.
»Mit der Lizenz zum Töten«, sagte der Dicke. »Zeit zum Essen. Wir werden an den Bakterienkulturen sehen, wo Donowitz seine Finger zuletzt drin hatte, bevor er versucht hat, diesen armen urämischen Schlump umzubringen.«
Der Dicke hatte recht. Farbenfrohe und auserlesene Bakterien wuchsen in der Wunde, darunter eine Sorte, die nur im Darm unserer heimischen Enten vorkommt. Begeistert wollte der Dicke den »Fall Entenarsch-Donowitz« publizieren. Der Patient flirtete heftig mit dem Tod, kam aber durch. Er wurde einen Monat später entlassen und hielt es für einen normalen, ja notwendigen Teil seiner erfolgreichen Behandlung im House of God, daß ihm von seinem geliebten Arzt ein Stück Haut aus dem Arm gerissen worden war.
Als der Dicke zum Essen ging, kam die Angst zurück. Maxine bat mich, ein Rezept für Aspirin gegen Sophies Kopfschmerzen auszuschreiben, und als ich gerade meinen Namen daruntersetzen wollte, fiel mir ein, daß ich für jede Komplikation verantwortlich war, und hielt inne. Hatte ich Sophie gefragt, ob sie auf Aspirin allergisch war? Nein. Ich tat es. Sie war es nicht. Ich schrieb das Rezept und hielt wieder inne. Aspirin fördert Magengeschwüre. Wollte ich riskieren, daß diese arme LAD in GAZ verblutete und an Magengeschwüren starb? Ich wartete auf den Dicken.
»Ich habe eine Frage, Dickie.«
»Ich habe eine Antwort. Ich habe immer eine Antwort.«
»Ist es in Ordnung, Sophie zwei Aspirin gegen ihre Kopfschmerzen zu geben?«
Er sah mich an, als sei ich von einem anderen Stern und sagte:
»Haben Sie gehört, was Sie mich gerade gefragt haben?«
»Ja.«
»Roy, hören Sie zu. Mütter geben ihren Babys Aspirin. Sie nehmen selbst Aspirin. Was soll das also?«
»Ich glaube, ich habe einfach Angst, meinen Namen unter das Rezept zu setzen.«
»Sie ist unzerstörbar. Immer ruhig bleiben, ich bin hier, OK?« Er legte die Füße auf den Tresen und schlug das Wall Street Journal auf. Ich schrieb das Rezept für Aspirin, kam mir blöd vor und ging zu einem Gorilla namens Zeiss. Er war zweiundvierzig, bösartig, hatte ein schweres Herzleiden und benötigte einen neuen Zugang. Ich stellte mich vor und versuchte mein Bestes. Meine Hände zitterten, und in dem warmen Zimmer begann ich zu schwitzen; Schweißtropfen fielen auf das sterile Feld. Ich fand die Vene nicht, und Zeiss stöhnte auf. Ein zweites Mal ging ich langsamer vor, und er grunzte, stöhnte und schrie:
»Hilfe, Schwester! Schmerzen in der Brust! Geben Sie mir mein Nitroglyzerin!«
Na prima, Basch, dein erster Herzpatient und du verhilfst ihm gerade zu einem Anfall.
»Ich habe einen Herzanfall!«
Wunderbar. Ruf einen Arzt. Halt – du bist ja der Arzt.
»Sind Sie nun ein richtiger Arzt, oder was? Mein Nitro! Schnell!«
Ich legte ihm eine Pille unter die Zunge. Er sagte, ich sollte mich verziehen. Vernichtet wünschte ich, ich könnte es. Angefüllt mit Sternstunden der Medizin ging der Tag weiter. Potts und ich klebten an dem Dicken wie Entenkücken an der Mutterente. Dickie saß da und las, die Füße hochgelegt, sichtlich in die Welt der Aktien, Bonds und Vermögenswerte vertieft, und doch schien er ein Gespür für jedes Problem auf der Station zu haben. Wie ein König, der sein Reich kennt wie seine Westentasche, der das Rauschen einer fernen Flut im Pulsieren der eigenen Nieren spürt und eine gute Ernte im eigenen vollen Leib. Er gab uns Anweisungen, warnte uns, half uns. Und einmal, nur einmal, bewegte er sich schnell, ganz und gar ein Held.
Eine planmäßige Aufnahme namens Leo war für Potts angekommen. Hager, weißhaarig, freundlich, ein wenig atemlos stand Leo vor dem Aufnahmetresen, seinen Koffer neben sich. Potts und ich stellten uns vor und plauderten mit ihm. Potts war erleichtert, daß hier endlich ein Patient kam, der mit ihm sprechen konnte, der nicht todkrank war und der ihn nicht schlagen würde. Was Potts und ich nicht wußten: Leo war im Begriff zu sterben. Während er über einen Scherz von Potts lachte, lief er plötzlich blau an und fiel zu Boden. Potts und ich standen stumm da, erstarrt, unfähig, uns zu rühren. Mein einziger Gedanke war: »Wie peinlich für den armen Leo.«
Dickie sah zu uns herüber, sprang auf die Füße und schrie:
»Faustschlag!«
Wir waren dazu viel zu erschrocken, und ich glaubte, es wäre auch viel zu melodramatisch. Er kam angerannt, schlug Leo auf die Brust, beatmete Leo, gab Leo eine extrathorakale Herzmassage, legte Leo einen Zugang und dirigierte mit kühler Virtuosität Leos Herzstillstand und Leos Rückkehr aus der Welt des Todes. Viele Leute waren hinzugekommen, um zu helfen. Potts und mich hatte man zur Seite geschoben. Ich fühlte mich beschämt und unfähig. Leo hatte über unsere Scherze gelacht, sein Versuch zu sterben war surreal, und ich hatte mich geweigert, ihn zu erkennen. Dickie war großartig, sein Umgang mit dem Herzstillstand ein Meisterwerk.
Als Leo ins Leben zurückgekehrt war, begleitete Dickie uns zurück zur Stationszentrale, legte seine Füße hoch, öffnete die Zeitung und sagte:
»Alles in Ordnung, auch wenn Sie in Panik geraten sind und sich beschissen fühlen. Ich kenne das. Es ist furchtbar, und es wird nicht das letzte Mal sein. Aber vergessen Sie nicht, was Sie gesehen haben. Regel Nr. 3: Bei Herzstillstand zuerst den eigenen Puls fühlen.«
»Ich habe überhaupt nicht damit gerechnet, weil er eine geplante Aufnahme war, keine Notaufnahme«, sagte Potts.
»Geplant bedeutet hier gar nichts«, sagte Dickie. »Leo wäre gestorben. Er ist jung genug, um zu sterben, verstehen Sie?«
»Jung?« fragte ich. »Er sieht aus wie fünfundsiebzig.«
»Zweiundfünfzig. Herzinsuffizienz ist schlimmer als die meisten Krebsfälle. Leute in seinem Alter sterben. Der wird nie ein Gomer, nicht mit einem solchen Leiden. Und da liegt die Herausforderung für die Medizin: Gomers, Gomers, Gomers, für die du nichts tun kannst, und dann, PENG! kommt plötzlich Leo, ein netter Kerl, der sterben kann, und du mußt dich ranhalten, um ihn zu retten. Das ist genau, was Joe Garagiola gestern abend über Luis Tiant gesagt hat: Er zeigt dir seinen ganzen Dribble-Zirkus und dann, wenn er mit seinem Hammer kommt, sieht das einen ganzen Zahn schneller aus.«
»Mit seinem Hammer?« fragte Potts.
»Oh, Jesus«, sagte Dickie. »Sein Schuß, sein Schuß! Woher kommt ihr beiden eigentlich?«
Damals dachten Potts und ich dasselbe. Wir fühlten uns beide unfähig. Aus irgendeinem Grund war Chuck anders. Er brauchte keine Hilfe. Er wußte, was zu tun war. Später am Nachmittag fragte ich ihn, wieso er sich schon so gut auskannte.
»Ganz einfach, Mann. Ich hab nix gelesen. Einfach nur alles gemacht.«
»Du hast nie etwas gelesen?«
»Nur über diese roten Ameisen. Aber ich weiß, wie man ’ne große Braunüle legt, ’nen Brustkorb punktiert, was du willst, hab’s alles gemacht. Du nich?«
»Nein, nichts«, sagte ich und dachte an meine Anstellerei wegen Sophies Aspirin.
»He, Mann, was habt ihr denn auf der BMS gemacht?«
»Bücher gelesen. Ich weiß alles, was man über Medizin wissen muß, aus Büchern.«
»He, sieht so aus, als wäre das dein Fehler, genau das. Meiner war, nich zur Armee zu gehn. Vielleicht …«
Eine Schwester stand im strahlenden Sommerlicht, die Schwester der Nachmittag- und Abendschicht. Sie stand breitbeinig da, die Hände in den Hüften, und las die Krankenakten, dabei erst den einen Fuß zur Seite wiegend, dann den anderen. Das helle Sonnenlicht machte ihre Uniform nahezu durchsichtig, und ihre Beine flossen in weichen Linien von ihren schmalen Knöcheln und Waden den ganzen Weg nach oben, wo alles in einer geheimnisvollen Naht zusammentraf. Sie trug keinen Slip, und durch ihr gestärktes weißes Kleid konnte ich die hellen Muster auf ihrer Strumpfhose sehen. Sie wußte, daß man sie sehen konnte. Man sah auch das Gummiband ihres BHs mit diesem verführerischen, unaufhakbaren Verschluß. Sie stand mit dem Rücken zu uns. Wie sie wohl von vorne aussah? Ich wünschte beinahe, sie würde sich niemals umdrehen, um meine Vorstellungen von ihren Brüsten, von ihrem Gesicht nicht zu verderben.
»He, Mann, das is was!«
»Ich liebe Krankenschwestern«, sagte ich.
»He, Mann, was is nur dran an Schwestern?«
»Es muß das viele Weiß sein.«
Sie drehte sich um. Ich schnappte nach Luft. Wurde rot. Von ihrer zerknitterten Vorderseite, die über die Kerbe zwischen den claviculae hinaus aufgeknöpft war und tiefe Einblicke gewährte, bis zu den vollen, eng zusammengehaltenen Brüsten, vom Rot ihres Nagellacks und ihres Lippenstifts bis zum Blau ihrer Lider und dem Schwarz ihrer Wimpern, sogar bis zu dem glitzernden Gold des kleinen Kreuzes von der katholischen Schwesternschule, war sie wie ein Regenbogen in einem Wasserfall. Nach einem Tag in dem heißen, stinkenden House, nach einem Tag, an dem uns Privates und Schlecker und Gomers geschunden hatten, war sie wie eine saftige Orangenscheibe, die einem in den Mund spritzt. Sie kam zu uns herüber.
»Ich bin Molly.«
»Mädchen, mein Name is Chuck.«
Ich dachte, es ist doch alles wahr, was über Schwestern und Interns erzählt wird und sagte:
»Ich bin Roy.«
»Euer erster Tag, Jungs?«
»Ja. Hab mir grade überlecht, ob ich lieber zur Armee geh.«
»Ich bin auch neu«, sagte Molly. »Habe erst letzten Monat angefangen. Ganz schön gruselig, was?«
»Kamman wohl sagen«, meinte Chuck.
»Kopf hoch, Jungs, wir schaffen es schon. Bis dann.«
Chuck sah mich an, und ich sah ihn an, und er sagte:
»Macht Spaß, hier mit den Gomers rumzumachen, oder?«
Wir sahen Molly nach, wie sie den Korridor hinunterging. Sie blieb stehen, um Potts zu begrüßen, der mit einem jungen tschechischen Patienten sprach, einem von einem Leberleiden ganz gelben Mann. Der Gelbe flirtete mit Molly und musterte sie, als sie sich kichernd weiter den Korridor hinunterwiegte. Potts kam zu uns und sah sich die Laborwerte vom Morgen an.
»Lazlows Leberfunktionen werden schlechter«, sagte er.
»Sieht mächtig gelb aus«, sagte Chuck. »Laß mal sehn. Zu hoch. Wenn ich du wäre, Potts, ich würde ihm Roide geben.«
»Roide?«
»Steroide, Mann, Steroide. Wessen Patient is er denn?«
»Meiner. Er ist zu arm, um sich einen Private Doctor leisten zu können.«
»Also, ich würde ihm Roide geben. Kann sein, daß er ’ne fulminante Hepatitis hat. Dann stirbt er dir, außer, du pumpst ihn jetzt mit Roiden voll.«
»Ja«, sagte Potts, »aber so hoch sind die Werte auch wieder nicht, und Steroide haben viele Nebenwirkungen. Ich warte lieber noch einen Tag.«
»Wie du willst. Sieht aber verdammt gelb aus, oder?«
Ich dachte daran, was der Dicke über die Jungen, die sterben, gesagt hatte und stand auf, um etwas zu tun. Als ich zur Stationszentrale zurückkam, sah ich zwei LAD in GAZ, die durch ihre dicken Brillengläser das Schwarze Brett beäugten, auf dem die Namen der neuen Interns der Station standen. Sie nannten meinen Namen, und ich fragte sie, ob sie mich suchten. Klein, einen ganzen Kopf unter mir aneinander gedrängt, äugten sie zu mir herauf.
»Oh ja«, sagte die eine.
»Oh, sind Sie nicht dieser große, junge Arzt?«
»Gutaussehend und groß«, sagte die andere. »Ja, wir wollten hören, wie es unserem Bruder Itzak geht.«
»Itzak Rokitansky. Der Lehrer. Brillant ist er gewesen.«
»Wie geht es ihm, Dr. Basch?«
Ich fühlte mich wie in einer Falle, wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich widerstand dem Impuls, »prrachvell« zu sagen:
»Nun … ich bin erst einen Tag hier. Es ist zu früh, um etwas zu sagen. Wir werden abwarten müssen.«
»Es ist sein Gehirn«, sagte die eine. »Sein wundervolles Gehirn. Wir sind froh, daß Sie sich um ihn kümmern werden. Wir kommen morgen wieder. Wir besuchen ihn jeden Tag.«
»Wir verbringen viel Zeit damit, die zu besuchen, die krank sind. Auf Wiedersehen, Dr. Basch. Vielen Dank.«
Ich ging und hörte noch, daß sie über mich sprachen, zufrieden darüber, daß ich der Arzt ihres Bruders sein würde. Ich war gerührt. Ich war ein Arzt. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlte ich Begeisterung, Stolz. Sie glaubten an mich, an mein Können. Ich würde mich um ihren Bruder und um sie kümmern. Um die ganze Welt. Warum nicht? Stolz ging ich den Gang entlang. Mit einem gewissen Sachverstand befühlte ich die Chromteile meines Stethoskops, als wüßte ich, was ich hier tat. Weit gefehlt.
Das Gefühl hielt nicht lange an. Ich wurde immer müder, verstrickte mich mehr und mehr in die zahllosen Kontrasteinläufe und Laboruntersuchungen. Die Abrißbirne des Zock-Flügels hatte seit zwölf Stunden meine Gehörknöchelchen vibrieren lassen. Ich hatte keine Zeit für Frühstück, Mittag- oder Abendessen gehabt. Ich hatte nicht einmal Zeit gehabt, zur Toilette zu gehen. Jedes Mal, wenn ich ging, rief mich der erbarmungslose Piepser zurück. Ich war entmutigt, zermürbt. Bevor er nach Hause ging, kam der Dicke zu mir und fragte, ob ich noch irgend etwas mit ihm besprechen wollte.
»Ich kapiere das nicht«, sagte ich. »Das hat doch nichts mit Medizin zu tun. Dafür habe ich nicht studiert. Nicht, um Einläufe anzuordnen.«
»Der Große Darmangriff ist wichtig«, sagte Dickie.
»Gibt es hier denn keine normalen Patienten?«
»Das sind normale Patienten.«
»Das kann nicht sein. Hier sind doch fast nur alte Leute!«
»Sophie ist noch jung. Sie ist achtundsechzig.«
»Alte Leute und Kontrasteinläufe, das ist doch verrückt. So hatte ich mir das nicht vorgestellt, als ich heute morgen hierherkam.«
»Ich weiß. Ich hatte das auch nicht erwartet. Wir alle erwarten den Amerikanischen Traum von der Medizin. Weiße Hosen, Behandlung, Heilung. Moderne Medizin ist anders. Schauen Sie sich Ina an, die Potts geschlagen hat. Ina, die man vor acht Jahren hätte sterben lassen sollen, als sie in ihrer New Masada-Akte schriftlich darum gebeten hat. Moderne Medizin ist ›Bettruhe, bis Komplikationen auftreten‹, Versicherungszahlungen fürs Händchenhalten und alles, was Sie heute gesehen haben, zum Beispiel den alten Leo, der hier hereinkommt, um zu sterben.«
Ich dachte an die Rokitansky-Schwestern und sagte: »Sie sind zu zynisch.«
»Ist Potts von Ina verkloppt worden oder nicht?«
»Ist er, aber das ist doch nicht normal.«
»Richtig. Unserer Erfahrung nach sterben die Menschen in unserem Alter.«
»Zyniker.«
»Also«, sagte Dickie und zwinkerte mit den Augen, »man wollte verhindern, daß Sie das jetzt schon wissen. Deshalb sollten Sie mit Jo anfangen und nicht mit mir. Ich wünschte, ich könnte lügen. Aber egal, es wird mir sowieso nicht gelingen, Sie zu entmutigen. Es ist wie beim Sex, Sie müssen es selbst rausfinden. Warum gehen Sie nicht nach Hause?«
»Ich habe noch zu tun.«
»Nun, auch das werden Sie mir nicht glauben, aber das meiste, was Sie hier tun, ist ohne jede Bedeutung. Diesen Gomers ist es jedenfalls scheißegal. Aber wissen Sie eigentlich, von wem Sie sich gerade verabschieden?«
Ich wußte es nicht.
»Vom potentiellen Vater von ›Dr. Jung’s Großer Erfindung der Amerikanischen Medizin‹. Damit ist mehr Geld zu machen als mit dem Großen Darmangriff auf Filmstars, das können Sie mir glauben!«
»Was zum Teufel ist das für eine Erfindung?«
»Sie werden es sehen«, sagte Dickie, »Sie werden es sehen.«
Er ging. Ich hatte Angst ohne ihn und war verwirrt über das, was er gesagt hatte. Es selbst herausfinden? In der fünften
Klasse antwortete mir ein italienischer Junge, den ich gefragt hatte, warum er Sex so toll fand: »Weil es sich gut anfühlt.« Ich konnte nicht begreifen, daß jemand etwas tat, weil es sich gut anfühlt. Was für einen Sinn hatte das?
Bevor ich ging, wollte ich mich von Molly verabschieden. Ich traf sie mit einer Bettpfanne auf dem Weg zum Spülraum. Ich begleitete sie. Die Scheiße schwappte in der Pfanne.
»Das ist keine sehr romantische Art, jemanden kennenzulernen«, sagte ich.
»Die romantische Art hat mich in der Vergangenheit in alle möglichen Schwierigkeiten gebracht«, sagte sie. »Das hier ist realistischer.«
Ich sagte Gute Nacht und fuhr nach Hause. Die Sonne war ein fremdes, krankes Ding, das die Stadt mit seinem heißen, roten Glühen ansteckte. Ich war so müde, daß mir das Fahren schwer fiel. Die weißen Streifen bewegten sich im Zickzack über die Straße, wie die visuelle Aura bei einem epileptischen Anfall. Alle Leute, die ich sah, kamen mir seltsam vor, als hätten sie eine Krankheit, die ich diagnostizieren sollte. Niemand hatte das Recht, gesund zu sein, denn meine Welt bestand nur aus Krankheit. Selbst die Frauen ohne BH, zwischen deren Brüsten sich der Schweiß sammelte, und deren Brustwarzen in Erwartung einer üppigen und schwülen Sommernacht hervorstanden und damit die erotischen Düfte der Juliblüten und ihrer erregten Körper unterstrichen, ließen mich nicht an Sex denken, sondern an anatomische Exempel. Brusterkrankungen. Dazu ging mir ein Bossanova durch den Kopf: »Schuld ist nur das Karzinoma, hey, hey, hey …«
In meinem Briefkasten war eine Nachricht:
»Ich denke die ganze Nacht an Dich. Ich denke an Dich in Weiß. Es ist schwer, Intern zu sein, aber ich weiß, daß du es schaffst. In Liebe, Berry.«
Während ich mich auszog, dachte ich an Berry. Ich dachte an Molly, ich dachte an Potts und seinen Stahlhammer. Mein eigener war in dieser Nacht ohne Saft und Kraft, denn sie hatten mich geschafft, ich konnte an jenem Tag nichts mehr fühlen, weder Sex noch Liebe. Ich legte mich auf das kühle Laken, das sich so weich anfühlte wie ein Babyfüßchen, so weich wie die Innenseite eines Babymundes, und ich dachte an den seltsamen Dicken, und daß selbst im Sommer, wenn alles grünt und blüht, der Tod eine perverse Nummer ist, eine echt perverse Nummer.