5

Am nächsten Morgen weckte ich Chuck. Er sah mitgenommen aus. Sein Kraushaar war auf einer Seite zusammengedrückt, sein Gesicht narbig von den Falten des Lakens, ein Auge blutunterlaufen, das andere zugeschwollen.

»Was ist denn mit deinem Auge passiert?«

»Wanzen. Verdammte Viecher, genau ins Auge gebissen. Gibt ’ne gemeine Sorte Viecher in diesem Dienstzimmer.«

»Dein anderes Auge sieht aber auch scheußlich aus.«

»Mann, du solltest es mal von dieser Seite aus sehen. Hab schon die Wirtschaftszentrale angerufen, wegen frischer Laken, aber du weißt ja wie das is. Bevor ich diese Postkarten krichte, binich auch nie ans Telephon gegangen. Gibt nur eine Art, mit der Wirtschaftszentrale umzugehen, Mann, und das werdich.«

»Nämlich?«

»Liebe. Der Boss der Bettenmacher heißt Hazel. Ist ’ne große Kubanerin. Ich weiß, ich könnte sie lieben.«

Während des Kartenflips fragte Potts Chuck, wie es ihm in der Nacht ergangen sei.

»Spitze. Sechs Aufnahmen, die jüngste vierundsiebzig.«

»Wann hast du dich hingelegt?«

»Mitternacht.«

Staunend fragte Potts: »Was? Wie hast du denn den ganzen Schreibkram erledigt?«

»Ganz einfach, Mann, beschissene Schreibarbeit, Mann, beschissene Schreibarbeit.«

»Ein Schlüsselbegriff«, sagte der Dicke. »Man muß glauben, man macht beschissene Arbeit. Wenn ihr euch damit abfindet, beschissene Arbeit zu tun, kommt ihr voran und kriegt die Arbeit erledigt. Da wir zu den obersten 10 Promille aller Terns gehören, die eins der besten Ternships der Welt absolvieren, wird das, was wir tun, automatisch tolle Arbeit werden, Superarbeit. Vergeßt nicht, daß in Amerika vier von zehn Interns kein Englisch können.«

»Es war also nicht so schlimm, Chuck?« fragte ich voller Hoffnung.

»Schlimm? Oh, es war schlimm. Mann, letzte Nacht ham sie mich echt fertiggemacht.«

Am meisten machte ich mir um den Kleinen Sorgen. Als ich morgens ins House gekommen war, aus einem hellen, gesunden Julitag in das kränkliche Neonlicht und den zeitlosen Geruch des Korridors, war ich am Zimmer des Gelben vorbeigegangen. Plastiksäcke mit der Aufschrift »Vorsicht – hochinfektiös« standen davor, gefüllt mit blutigen Laken, Handtüchern, Arbeitskleidung und Instrumenten. Das Zimmer war voller Blut gewesen. Eine Schwester, wie eine Raumfahrerin in sterile Kleidung gehüllt, saß so weit wie möglich von dem Körper entfernt und las Haus und Garten. Der Gelbe lag still, vollkommen still. Der Kleine war nirgendwo zu sehen.

Erst beim Mittagessen traf ich ihn. Er war aschgrau. Motorrad-Eddie und Hyper Hooper führten ihn zum Tisch wie einen Hund an der Leine. Als er sein Tablett abstellte, war außer dem Besteck nichts drauf. Niemand sprach ihn darauf an.

»Ich werde sterben«, sagte der Kleine und zog seine Tablettenschachtel hervor.

»Du stirbst nicht«, sagte Hooper. »Du wirst nie sterben.«

Der Kleine berichtete uns von der Austauschtransfusion. Wie er das alte Blut aus der einen Vene abgezogen und das neue in die andere Vene injiziert hatte.

»Alles lief ziemlich gut, und dann – ich hatte eine Nadel aus der Leiste gezogen und will sie in die letzte Blutflasche stecken, und Celia, diese Kuh, die Schwester, also, sie hält die andere Nadel, die aus dem Körper des Gelben, hoch und … sticht mir damit in die Hand.«

Tödliches Schweigen. Der Kleine würde sterben.

»Plötzlich wurde mir schwindelig. Ich sah mein Leben an mir vorüberziehen. Celia sagte, Oh, tut mir leid, und ich sagte, Ach was, ist schon in Ordnung, das heißt nur, daß ich sterben werde, und Mellow Yellow hier ist einundzwanzig und ich bin siebenundzwanzig, ich habe also schon sechs Jahre länger gelebt als er und meine letzte Nacht damit zugebracht, etwas zu tun, von dem ich weiß, daß es vollkommen sinnlos ist, und wir werden zusammen sterben, er und ich, aber es ist OK, Celia.«

Der Kleine hielt inne, und dann schrie er: »Hörst du mich, Celia? Es ist OK! Um 4 Uhr bin ich ins Bett gegangen und war sicher, ich würde nie wieder aufwachen.«

»Aber die Inkubationszeit liegt zwischen vier und sechs Monaten.«

»Ja? Dann wird einer von euch mir wohl in vier Monaten das Blut austauschen.«

»Das ist alles meine Schuld«, sagte Potts. »Ich hätte ihm die Steroide verpassen sollen.«

Nachdem die anderen gegangen waren, wandte sich der Kleine an mich und sagte, er müsse mir etwas gestehen.

»Meine dritte Aufnahme letzte Nacht. In dem ganzen Schlamassel mit dem Gelben kommt dieser Kerl in die Notaufnahme und ich … ich wurde einfach nicht fertig damit. Ich hab ihm fünf Dollar geboten, wenn er wieder nach Hause geht. Er hat sie genommen und ist gegangen.«

Beschleunigt von meiner Angst, raste die Zeit meines ersten Nachtdienstes auf mich zu. Potts übergab mir seine Patienten und ging nach Hause zu Otis. Verkrampft saß ich in der Stationszentrale und sah die traurige Sonne untergehen. Ich dachte an Berry und wünschte mir, bei ihr zu sein und Dinge zu tun, die junge Leute wie wir tun müssen, solange wir noch gesund sind. Meine Angst wuchs. Chuck kam vorbei, übergab mir ebenfalls seine Patienten und fragte:

»He, Mann, merkst du was?«

Ich bemerkte nichts.

»Kein Piepser, Mann. Jetzt können sie mich nich mehr kriegen.«

Ich sah ihm nach, wie er den Flur hinunterging, und wollte ihn rufen: »Geh nicht weg, laß mich nicht allein hier«, aber ich tat es nicht. Ich fühlte mich so einsam, ich hätte heulen können. Der Dicke hatte am Nachmittag, als ich immer nervöser wurde, versucht, mich aufzumuntern, indem er mir sagte, wieviel Glück ich hätte, daß er die ganze Nacht mit mir Dienst haben würde.

»Außerdem ist heute eine großartige Nacht«, hatte er gesagt.

»Es gibt The Wizard of Oz und Plintze.«

»The Wizard of Oz und Plintze?« fragte ich. »Was ist das?«

»Du weißt schon, die Geschichte mit dem Tornado, dem gelbgepflasterten Weg und diesem phantastischen Blechmann, der versucht, an Dorothys Höschen ranzukommen. Klassefilm. Und zum Zehn-Uhr-Essen Plintze. Wird ein Fest.«

Das hatte mir nicht sehr geholfen. Als ich mich in das Chaos der Station stürzte, die hydrierte und gewalttätige Ina Goober versorgte und mich über die mittlerweile fiebernde Sophie beugte, die über die LP so außer sich gewesen war, daß sie Putzel beschimpft hatte, zitterte ich vor Angst vor dem, was mir bevorstand. Und dann, als meine Zeit kam, mußte ich würgen. Ich war auf der Toilette, als die Vermittlung aus ihrem Schaltbunker einen direkten Schuß zu mir durchstellte: »Dr. Basch sofort in die Notaufnahme, Dr. Basch …« Jemand lag in der Notaufnahme im Sterben und man verlangte nach mir! Wußten die denn nicht, daß man in der ersten Juliwoche nicht in ein Lehrkrankenhaus ging? Ich geriet in Panik. Olafs Potato schoß mir wieder durch den Kopf, und mit klopfendem Herzen suchte ich den Dicken, der im Fernsehzimmer in The Wizard of Oz vertieft war. An einer Salami knabbernd sang er mit: »Because because because because because of the wonderful things he does. We’re off to see the Wizard, the wonderful Wizard of Ozzz …«

Es war schwierig, ihn zu unterbrechen. Ich fand es merkwürdig, daß er sich für etwas so Verspieltes wie den Zauberer von Oz begeistern konnte, fand aber rasch heraus, daß sein Interesse, wie viele seiner anderen Interessen, ziemlich abgedreht war.

»Mach’s ihr«, murmelte Dickie, »gib’s der Dorothy mit der Ölkanne. Dreh sie auf deinem Hut, Ray, dreh sie auf deinem Hut.«

»Ich muß Ihnen was sagen«, sagte ich.

»Schießen Sie los.«

»In der Notaufnahme ist ein Patient, eine Aufnahme.«

»Gut. Gehen Sie hin. Sie sind jetzt ein Arzt, erinnern Sie sich? Ärzte sehen sich Patienten an. Mach schon, Ray Bolger, mach’s ihr, stat!«

»Ja, ich weiß«, druckste ich herum, »aber ich … verstehen Sie …, da unten stirbt wahrscheinlich jemand, und ich …«

Dickie löste seinen Blick vom Bildschirm, sah mich an und sagte freundlich: »Oh, ich verstehe. Angst, was?«

Ich nickte und sagte, alles, woran ich denken könne, sei Olafs große Kartoffel.

»Richtig. OK, Sie haben also Angst. Wer hat das nicht in seiner ersten Nacht im Dienst. Ich hatte auch Angst. Gehen wir. Wir müssen uns beeilen. Wir haben nur eine halbe Stunde bis zum Zehn-Uhr-Essen. Aus welchem Pflegeheim kommt sie?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich, als wir zum Fahrstuhl gingen.

»Das wissen Sie nicht? Verdammt. Wahrscheinlich hat man ihr Bett schon wieder belegt, so daß wir sie nicht zurückschicken können. Wenn im Pflegeheim das Bett eines Gomers neu belegt wird, ist das ein echter medizinischer Notfall.«

»Woher wissen Sie, daß es ein Gomer ist?«

»Wahrscheinlichkeitsrechnung, ganz einfache Wahrscheinlichkeitsrechnung.«

Der Fahrstuhl ging auf, und Motorrad-Eddie, der Intern von 6-Nord, stand da mit einer Trage, auf der seine erste Notaufnahme aufgetürmt lag: Dreihundert Pfund Fleisch, nackt bis auf eine schmutzige Unterhose. Große Hernien ragten aus der Bauchwand hervor, der Kopf glich einem Medizinball mit kleinen Schlitzen für Augen, Nase und Mund. Der kahle Schädel war mit einem Netz rosafarbener Operationsnarben überzogen und sah aus wie ein Paket Porina Hundefutter. Das Ganze wand sich in Krämpfen.

»Roy«, sagte Motorrad-Eddie, »das ist Max.«

»Hallo, Max«, sagte ich.

»Hallo Jon Hallo Jon Hallo Jon«, sagte Max.

»Max wiederholt sich gern«, sagte Motorrad-Eddie. »Man hat ihm den Frontallappen ausgehakt.«

»Parkinson, seit dreiundsechzig Jahren«, sagte der Dicke. »Ein Rekord im House. Max kommt immer dann zu uns, wenn sich sein Darm verschließt. Seht ihr, wie die Eingeweide sich ihren Weg durch die Narben auf seinem Leib bahnen? Diese Beulen?«

Wir sahen sie.

»Wenn man die röntgt, sieht man, daß da Exkremente drin sind. Als Max das letzte Mal hier war, hat es neun Wochen gedauert, seinen Darm leer zu kriegen. Und das einzige, was schließlich geholfen hat, war eine japanische Cellistin mit sehr kleinen Händen, eine mit besonders langen gynäkologischen Handschuhen ausgestattete BMS, der man das Internship ihrer Wahl versprochen hatte, wenn sie Max manuell ausräumt. Wollt ihr mal, ›Klumpen raus‹ hören?«

Wir wollten.

»Max«, sagte Dickie, »was sollen wir mit Ihnen machen?«

»Klumpen raus Klumpen raus Klumpen raus«, sagte Max. Motorrad-Eddie und sein BMS stemmten sich gegen die Trage, und Max setzte sich in Bewegung, rollte davon in den Neonsonnenuntergang. So zusammengespannt sahen die drei aus, als drängten sie sich um einen Ring des Fegefeuerbergs. Als ich im Fahrstuhl wieder zu mir kam, fragte ich den Dicken, wieso er alle Patienten kannte. Max, Ina, Mr. Rokitansky …

»Es gibt nur eine begrenzte Anzahl House-Gomers«, sagte er.

Und weil Gomers nicht sterben, rotieren sie mehrmals im Jahr durchs House. Es ist fast so, als bekämen sie genau wie wir im Juli ihren Jahresplan. Sie werden irgendwann lernen, sie an ihren speziellen Schreien zu erkennen. Aber, was hat Ihr Gomer?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe sie ja noch nicht gesehen.«

»Macht nichts. Nehmen Sie irgendein Organ.«

Ich war so verängstigt, daß ich Schwierigkeiten hatte, mir irgendein Organ vorzustellen.

»Na, was ist? Wie sind Sie denn hierhergekommen? Auf Quote? Gibt es eine Sonderregelung für Juden? Was sitzt im Brustkorb und klopft?«

»Das Herz.«

»Gut. Ihr Gomer hat ’ne Herzinsuffizienz. Was noch?«

»Lunge.«

»Phantastisch. Das sprudelt ja richtig. Pneumonie. Ihr Gomer hat Herzinsuffizienz und Pneumonie, sie hat eine Sepsis von ihrem Dauerkatheter, will nicht essen, möchte sterben, ist dement und hat einen unhaltbaren Blutdruck. Was ist das Erste, das Wichtigste, was zu tun ist?«

Ich dachte an septischen Schock als Diagnose und schlug eine LP vor.

»Nein. Das ist BMS-Lehrbuch. Vergessen Sie das Lehrbuch. Ich bin Ihr Lehrbuch. Nichts, was Sie auf der BMS gelernt haben, wird Ihnen heute Nacht helfen. Hören Sie zu. Grundwissen, Regel Nr. 5: Zuerst an Verlegung denken.«

»Also, das geht mir doch ein bißchen zu schnell. Ich meine, Sie stellen hier lauter Vermutungen über diese Person an. Sie gehen mit einem Menschen um wie mit einem Gepäckstück.«

»Oh? Ich bin mal wieder grob, grausam und zynisch, ja? Ich habe kein Gefühl für die Kranken? Habe ich doch. Ich weine im Kino. Ich bin siebenundzwanzig Passahfeste von der sanftesten Großmutter, die je ein Junge aus Brooklyn hatte, verwöhnt worden. Aber ein Gomer im House of God ist ganz was anderes. Das werden auch Sie heute nacht herausfinden.«

Wir standen in der Zentrale der Notambulanz. Mehrere Personen saßen dort. Howard Greennspoon, der neue Intern vom Dienst in der Notambulanz, und zwei Polizisten. Ich kannte Howard von der BMS. Er war mit zwei Eigenschaften gesegnet, die sich in der Medizin als außerordentlich nützlich erwiesen: Er war sich seiner selbst nicht bewußt und nahm auch andere Menschen nicht zur Kenntnis. Howard war nicht besonders intelligent, er hatte sich seinen Weg durch die BMS und zum House geschleckt, indem er irgend etwas mit Urin machte. Entweder ließ er Urin durch Computer laufen oder betrieb Computer mit Urin. Das hatte ihm die Zuneigung des Leggo eingebracht, des zweiten kleinen Urin-Liebhabers. Howard war ein Arbeitstier und ein Planer, er neigte dazu, bei medizinischen Entscheidungen Computerdaten als Hilfsmittel einzusetzen. Bereits zu Beginn des Internships hatte er eine phantastische Art entwickelt, mit den Kranken umzugehen, um seine unglaubliche Unentschlossenheit zu verstecken. Howard wollte dem Dicken und mir »den Fall vorstellen«, aber Dickie ignorierte ihn und wandte sich an die beiden Polizisten. Der eine war dick wie ein Faß, mit roten Haaren, die aus und in allen Falten seines fetten, roten Gesichts wucherten. Der andere war dünn wie ein Streichholz mit weißer Gesichtshaut und schwarzem Haar, wachsamen Augen und einem großen, bekümmerten Mund voller schiefer Zähne.

»Ich bin Sergeant Gilheeny«, sagte der Rote, »Finton Gilheeny, und das ist Officer Quick. Dr. Roy Basch, wir wünschen Ihnen einen Guten Tag und Shalom.«

»Sie sehen nicht aus wie ein Jude«, sagte ich.

»Man muß nicht Jude sein, um einen heißen Pumpernickel-Bagel zu mögen, und außerdem sind Juden und Iren in mancher Hinsicht gleich.«

»In welcher?«

»In ihrem Respekt für die Familie und dem damit einhergehenden versauten Zustand ihres Lebens.«

Irritiert, weil er nicht beachtet wurde, versuchte Howard noch einmal, uns etwas über meine Aufnahme zu erzählen. Der Dicke brachte ihn sofort zum Schweigen.

»Aber Sie wissen doch noch gar nichts über sie«, sagte Howard.

»Sagen Sie mir, wie sie kreischt, und ich weiß alles.«

»Wie sie was?«

»Kreischt. Was macht sie für ein Geräusch?«

»Also«, sagte Howard, »sie kreischt nicht. Sie macht so ein ›Ruuuudl‹.«

»Anna O.«, sagte Dickie. »Hebrew House for Incurables. Das dürfte ungefähr ihre sechsundachtzigste Aufnahme sein. Fangen Sie mit 160 mg Lasix an und gehen Sie dann höher.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Howard.

Dickie überhörte ihn, wandte sich an die Polizisten und sagte:«

Offensichtlich hat Howard das Wichtigste in diesem Fall unterlassen. Ich vertraue darauf, daß Sie, meine Herren, daran gedacht haben.«

»In unserer Eigenschaft als Polizisten auf Streife in der Stadt und in der Umgebung des House of God, die oft hier sitzen und mit den großartigen jungen Medizinern schwatzen und Kaffee trinken, tun wir manchmal auch etwas für die Patienten der Notaufnahme«, sagte Gilheeny.

»Wir sind Männer des Gesetzes«, sagte Quick, »und deshalb befolgen wir das Hausgesetz: Zuerst an Verlegung denken. Wir haben im Hebrew House angerufen. Leider ist während der Fahrt mit dem Krankenwagen hierher das Bett von Anna O. belegt worden.«

»Zu schade«, sagte der Dicke. »Nun gut, an Anna O. kann man eine Menge lernen. Sie hat unzähligen House-Interns Medizin beigebracht. Roy, gehen Sie zu ihr. Sie haben zwanzig Minuten bis zum zehn-Uhr-Essen. Ich warte hier und schwatze solange mit unseren Freunden, den Bullen.«

»Prachtvoll!«

sagte der rothaarige Polizist mit einem großen sonnigen Grinsen. »Zwanzig Minuten Schwatz mit dem Dicken sind ein geschenkter Gaul, dem wir sonstwohin sehen sollten, nur nicht ins Maul.«

Ich fragte Gilheeny, wieso er und Quick so gut über diese Notambulanz informiert waren, und seine Antwort verwirrte mich:«

Wären wir sonst Polizisten?«

Ich verließ den Dicken und die beiden Polizisten, die sich in ihr Gespräch vertieften. Ich ging zur Tür von Zimmer 116 und fühlte mich prompt wieder allein und ängstlich. Ich holte tief Atem und ging hinein. Die Wände waren mit grünen Kacheln bekleidet, und das helle Neonlicht wurde vom blanken Stahl der Einrichtung reflektiert. Es war, als hätte ich ein Grab betreten, denn an einem bestand kein Zweifel: Hier kam ich mit dem armen Kerl, dem Tod, in Berührung. In der Mitte des Zimmers stand eine Trage. Auf der Trage lag Anna O. Reglos. Ihre Knie zeigten zur Decke hinauf, ihre Schultern rundeten sich um die Knie, so daß ihr Kopf, steif und ohne Stütze, fast die Oberschenkel berührte. Von der Seite sah sie aus wie der Buchstabe W. War sie tot? Ich rief sie an. Keine Antwort. Ich suchte ihren Puls. Kein Puls. Herzschlag? Keiner. Atem? Nein. Sie war tot. Wie passend, daß sich ihr ganzer Körper im Tod um ihre verfolgte jüdische Nase gekrümmt hatte. Ich war erleichtert, daß sie tot war, daß der Druck, mich um sie kümmern zu müssen, fort war. Ich sah das kleine Büschel ihres weißen Haares, und meine Großmutter fiel mir ein, wie sie im Sarg lag, und wie ich voller Trauer war über diesen Verlust. Ein Kloß bildete sich in meinem Leib, zerrte an meinem Herzen und wanderte hinauf in meinen Hals. Ich kannte dieses seltsame Gefühl von tapferer Wärme, bevor die Tränen kommen. Meine Unterlippe zuckte. Um Fassung bemüht, setzte ich mich.

Der Dicke kam hereingestürzt: »Alles in Ordnung, Basch, Plintze und … he, was haben Sie denn?«

»Sie ist tot.«

»Wer ist tot?«

»Diese arme Frau. Anna O.«

»Unfug. Haben Sie den Verstand verloren?«

Darauf sagte ich nichts. Vielleicht hatte ich ja den Verstand verloren, und die seltsamen Polizisten und die Gomers waren nur Halluzinationen. Der Dicke mußte meine Traurigkeit gespürt haben, denn er setzte sich neben mich.

»Habe ich Sie bisher falsch gesteuert?«

»Sie sind sehr zynisch, aber was Sie auch sagen, es scheint immer zu stimmen. Trotzdem ist es verrückt.«

»Genau. Hören Sie zu, ich sage Ihnen, wann es Zeit ist zu weinen, denn es wird Momente geben in diesem Ternship, in denen Sie weinen müssen. Und wenn Sie dann nicht weinen, springen Sie von diesem Gebäude, und man wird Sie vom Parkplatz kratzen und in einen Plastiksack werfen. Sie werden zu einem Beutel Matsch. Kapiert?«

Ich sagte ja.

»Aber ich sage Ihnen, jetzt ist nicht der Moment, denn diese Anna O. ist ein echter Gomer, und Regel Nr. 1 lautet: Gomers sterben nicht.«

»Aber sie ist tot, bestimmt. Sehen Sie sie sich doch an.«

»Oh, sie sieht tot aus, sicher. Zugegeben.«

»Sie ist tot. Ich habe sie angesprochen und ihren Puls gesucht und ihren Atem. Nichts. Tot.«

»Bei Anna O. braucht man die umgekehrte Stethoskoptechnik. Schauen Sie her.«

Der Dicke nahm sein Stethoskop, steckte den Ohrstöpsel in das Ohr von Anna O. und brüllte, die Glocke als Megaphon benutzend:

»Cochlea, bitte kommen. Cochlea, bitte kommen, hörst du mich, Cochlea, bitte …«

Mit einem Mal explodierte der Raum. Anna O. schwang auf und nieder und kreischte laut und durchdringend: Ruuudl ruuudl ruuuu …

Der Dicke nahm sein Stethoskop aus ihrem Ohr, packte meine Hand und zog mich aus dem Zimmer. Das Kreischen hallte durch die Notambulanz, und Howard in der Zentrale starrte uns an. Als er ihn sah, brüllte der Dicke:

»Herzstillstand! Zimmer 116

Howard sprang auf und kam herausgewetzt, und der Dicke zog mich lachend in den Fahrstuhl und drückte auf den Knopf zur Cafeteria. Strahlend sagte er:

»Wiederholen Sie: Gomers sterben nicht.«

»Gomers sterben nicht.«

»Können Sie Gift drauf nehmen. Gehen wir essen.«

Es gab wenige Dinge, die abstoßender waren, als dem Dicken zuzusehen, wie er sich einen Tag alte Plintze in den Mund schaufelte und dabei die ganze Zeit über so unterschiedliche Dinge redete wie das Pornomotiv in Oz, die Vorteile des fürchterlichen Essens, das wir vorgesetzt bekamen und schließlich, als wir allein waren, über seine Aussichten mit dem, was er immer noch die Große Erfindung der Amerikanischen Medizin nannte. Ich schaltete ab und war bald mit Berry an einem Junistrand, voller Lust und erregt von den Gedanken an all das, was wir miteinander anstellen konnten. Englische Landschaft. Auge in Auge, Seesalz auf unseren küssenden Lippen …

»Basch, vergessen Sie das. Wenn Sie länger wegbleiben und dann in dieses Scheißloch zurück müssen, kippen Sie um.«

Wie konnte er das wissen? Was hatten sie sich dabei gedacht, mich mit diesem Verrückten zusammenzutun?

»Ich bin nicht verrückt«, sagte der Dicke, »ich spreche nur aus, was jeder andere Arzt fühlt, aber die meisten unterdrücken es und lassen sich die Eingeweide zerfressen. Im vorigen Jahr habe ich Gewicht verloren. Ich! Da habe ich zu mir gesagt: Nicht deine Magenschleimhaut, Dickie Baby, nicht für dieses Gehalt. Kein Magengeschwür für dich. Und hier bin ich.« Gesättigt wurde er milder. Er fuhr fort: »Wissen Sie, Roy, diese Gomers haben ein außergewöhnliches Talent: Sie lehren uns Medizin. Wir beide gehen jetzt runter, und Anna O. wird Ihnen in einer Stunde mehr nützliche ärztliche Behandlung beibringen, als Sie von einem zerbrechlichen jungen Patienten in einer Woche lernen können. Regel Nr. 6: Es gibt keine Körperhöhle, die nicht mit einer 14er Kanüle und einem sicheren, starken Arm erreicht werden kann. Sie lernen an den Gomers, damit Sie, wenn ein junger Mensch sterbend ins House of God kommt …«

Mein Herz stolperte.

»… wissen, was zu tun ist. Es gut machen und ihn retten. Dieser Teil der Sache ist aufregend. Warten Sie, bis Sie die Spannung fühlen, wenn Sie eine Nadel blind in einen Brustkorb stechen, um eine Diagnose zu stellen, die einem jungen Menschen das Leben rettet. Ich sage Ihnen, das ist phantastisch. Gehen wir.«

Und das taten wir. Unter der Leitung des Dicken lernte ich, einen Brustkorb zu punktieren, ein Knie zu punktieren, Braunülen zu legen, eine LP korrekt durchzuführen und viele andere invasive Arbeitstechniken. Er hatte recht. Je besser ich mit der Nadel umzugehen lernte, um so besser und sicherer fühlte ich mich, und in mir glomm die Hoffnung auf, daß ich vielleicht doch ein kompetenter Arzt werden könnte. Langsam verließ mich die Angst, und als ich das spürte, durchzog mich tief drinnen ein Strom von Wärme, Ungeduld und Spannung.

»Gut so«, sagte Dickie, »so viel, was die Diagnose angeht. Jetzt die Behandlung. Was tun wir gegen ihre Herzinsuffizienz? Wieviel Lasix?«

Wer sollte das wissen? Auf der BMS hat man mir die empirische Seite der Medizin nicht beigebracht.

»Regel Nr. 7: Alter + Serum-Harnstoff = Lasixdosis.«

Das war glatter Blödsinn. Obwohl Harnstoff ein indirektes Maß für Herzinsuffizienz war, spielte der Dicke mir offensichtlich wieder einen Streich, und ich sagte:

»Diese Gleichung ist Blödsinn.«

»Gewiß ist sie das. Aber sie funktioniert immer. Anna ist fünfundneunzig und ihr Serum-Harnstoff ist achtzig. Das macht hundertfünfundsiebzig Milligramm. Fünfundzwanzig als Zugabe, und es werden runde zweihundert. Tun Sie, was Sie wollen, sie wird erst pinkeln, wenn sie an die zweihundert herankommt. Oh, und denken Sie daran, Basch, frisieren Sie ihre Akte. Ein Rechtsstreit ist lästig, also geben Sie Anna O.s Akte eine hübsche kleine Politur.«

»OK«, sagte ich, »muß ich erst ihre Herzinsuffizienz beheben, bevor ich einen Großen Darmangriff starte?«

»Großer Darmangriff? Sind Sie beknackt? Sie ist kein Privatpatient, sie ist Ihre Patientin. Lassen Sie bloß die Finger von ihrem Darm.«

Ich war dankbar, war froh, daß dieser medizinische Zauberer bei mir war, und sagte:

»Wissen Sie, was Sie sind, Dickie?«

»Was?«

»Sie sind ein Großer Amerikaner.«

»Und mit etwas Glück bald ein reicher Mann. Zeit zum Schlafengehen für Dickie. Und denken Sie daran, Roy, primum non nocere und hasta la vista, muthafucka.«

Natürlich hatte er recht. Während ich die Schreibarbeit für meine Aufnahmen dieses Tages erledigte, hatte ich auch die Akten frisiert. Bei Anna O. hatte ich es zunächst mit kleineren Dosen Lasix versucht, und es war überhaupt nichts passiert. Ich saß in der Stationszentrale und horchte auf die vom Piep-Piep der Herzmonitoren untermalten Geräusche der Gomers. Ein beruhigendes Schlaflied: Piep Piep Klumpen Raus Piep Piep Ruuuudl Ruuuudl Geh Weg Geh Weg Ruuuudl Ruuuudl Klumpen Raus Piep Piep Piep Piep …

Les Brown und seine berühmte Gomer-Band spielten mir auf, während ich auf Anna O.‹s Pipi wartete. Bei 175 tröpfelte es, und bei 200 fing es an zu sprudeln. Es war verrückt, aber ich sah den Urin an wie ein junger Vater, und voller Stolz wölbte sich meine Brust. Ich verkündete Molly das freudige Ereignis.«

Donnerwetter, Roy, das ist toll. Du bringst die liebe, alte Dame schon wieder auf die Beine. Prima. Ich wünsche dir eine gute Nacht. Ich bin hier. Wir werden uns zusammen um alles kümmern. Ich habe großes Vertrauen zu dir. Einen fröhlichen 4. Juli.«

Ich sah auf meine Uhr. Es war 2 Uhr morgens an diesem herrlichen 4. Juli. Ich war stolz, fühlte mich gut und kompetent, und ging den leeren Korridor hinunter zum Dienstzimmer. Energierausch. Ich war für all dies verantwortlich. Ein Schauer lief mir über den Rücken, wie bei dem Intern im Buch. Voll abgehoben!

Das Bett war nicht gemacht, und ich konnte keinen Klinikpyjama finden. Levy, der Verlorene, schnarchte im Oberbett, aber ich war so müde, es war mir egal. Ich tauchte in meine Träume ein, das Piep Piep im Ohr, und dachte an Herzstillstand, und während meine Gedanken alles durchgingen, was ich über Herzstillstand wußte, wurde mir bald klar, was ich alles nicht wußte. Ich machte mir Sorgen, konnte nicht schlafen, denn jede Minute konnte ich zu einem Herzstillstand gerufen werden, und was sollte ich dann tun? Ich spürte einen Stubs. Molly stand neben mir. Sie legte einen Finger auf ihre Lippen. Ich sollte still sein. Sie setzte sich auf das Unterbett und zog ihre weißen Schwesternschuhe aus, ihre weißen Strumpfhosen und das Bikinihöschen. Sie hob das Laken, sagte etwas wie, sie wolle nicht, daß ihre Uniform zerknautscht würde, und setzte sich dann mit gespreizten Beinen auf mich. Sie knöpfte ihre Bluse auf, beugte sich zu mir hinunter und küßte mich voll auf die Lippen, und als ich meine Hand über ihren blanken Hintern gleiten ließ, duftete …

Jemand berührte meine Schulter. Parfümduft. Ich wandte mich der Berührung zu und starrte direkt auf Mollys Oberschenkel. Sie neigte sich zu mir hinunter, um mich zu wecken. Verdammt, es war ein Traum gewesen. Dies hier aber war keiner. Es würde wirklich passieren. Sie legte mir die Hand auf die Schulter. Jesus, sie wollte wirklich zu mir ins Bett springen.

Irrtum. Es ging um eine Patientin, eine von Klein-Ottos Herzpatientinnen, die nicht ruhig liegenbleiben wollte. Ich versuchte, die aufbegehrende steife Manneskraft in meiner weißen Hose zu verbergen, und taumelte in den Flur hinaus, blinzelte in die Helligkeit und folgte dem frechen, hüpfenden Hintern zum Krankenzimmer. Es krachte. Wir stürzten hinein und sahen die Frau, die zu Boden gegangen war, nackt mitten im Zimmer stehen und ihrem eigenen Spiegelbild Obszönitäten entgegenkreischen. Sie griff nach einer Infusionsflasche und warf sie mit dem Schrei: »Da! Da! Die alte Frau da!« in den Spiegel, der in tausend Stücke zerbrach. Als sie mich sah, kniete sie in den Scherben nieder, umfaßte meine Beine und bettelte:

»Bitte, mein Herr, bitte, schicken Sie mich nicht nach Hause.«

Es war jammervoll anzusehen. Sie roch schal. Wir versuchten, sie zu beruhigen und schnallten sie wieder ins Bett.

Das war die erste einer ganzen Reihe von Explosionen. Als ich Klein-Otto anrief, um ihm zu sagen, daß seine Patientin unruhig sei, ging Otto in die Luft und beschuldigte mich, seine Patienten durch unangemessene Aufmerksamkeit zu beunruhigen.

»Sie ist eine nette, freundliche Frau. Sie müssen sie aufgeregt haben. Lassen Sie sie in Ruhe.«

Als nächstes öffnete sich die Fahrstuhltür, und wie aus einem Höllenring geschleudert rollten Motorrad-Eddie und sein BMS heraus, mit einem neuen menschlichen Wrack, das sie ans andere Ende des Ganges schoben. Ein Mann, der aussah wie ein knochiges Weichtier, aus dessen Schädel eine knubbelige, rote Beule heraustrat, saß starr wie ein Leichnam auf der Trage und sang:

»Ruggala Ruggala Ruggala Rugg, Ruggala Ruggala Ruggala Rugg..«

»Das ist meine vierte Aufnahme«, sagte Eddie, »das heißt, gleich bist du dran. Du solltest mal sehen, was sich da in der Notaufnahme zusammenbraut.«

Gleich dran? Unvorstellbar. Ich ging wieder ins Bett und schlief sofort ein. Bis mein Finger vor Schmerz explodierte, als wolle er den 4. Juli auf seine eigene Art feiern. Ich schrie so laut auf, daß Levy vom Oberbett sprang, Molly von der Station hereineilte und mir diese herrlichen Oberschenkel ins Gesicht drückte.

»Es hat mich was gebissen!« wimmerte ich.

»Ehrlich, Dr. Basch«, sagte Levy, »ich schwöre, ich war es nicht.«

Mein Finger schwoll an. Der Schmerz war unerträglich.

»Ich wollte dich sowieso rufen«, sagte Molly. »Da ist eine Aufnahme für dich in der Notambulanz.«

»Oh nein! Ich kann heute nacht keinen Gomer mehr sehen.«

»Kein Gomer. Fünfzig und krank. Er ist selbst Arzt.«

Ich kämpfte gegen meine Panik an und ging in die Notaufnahme. Ich las die Akte: Dr. Sanders. Einundfünfzig. Schwarz. Gehört zum Personal des House of God. Vorgeschichte: Parotis- und Hypophysentumore mit scheußlichen Komplikationen. Er kam mit Schmerzen im Brustkorb, fortschreitendem Gewichtsverlust, Lethargie, Atembeschwerden. Sollte ich den Dicken rufen? Nein. Ich wollte ihn mir erst selbst ansehen. Ich ging hinein.

Dr. Sanders lag flach auf der Liege, ein Schwarzer, der zwanzig Jahre älter aussah, als er war. Er versuchte, mir die Hand zu schütteln, aber er war zu schwach. Ich nahm seine Hand und nannte ihm meinen Namen.

»Freut mich, daß Sie mein Arzt sind«, sagte er.

Bewegt von seiner Hilflosigkeit – seine schwache Hand lag noch hoffnungsvoll in der meinen –, empfand ich Mitleid mit ihm. »Erzählen Sie mir, was geschehen ist.«

Er tat es. Anfangs war ich so nervös, daß ich kaum zuhören konnte. Er spürte es und sagte: »Machen Sie sich keine Sorgen, Sie werden es schon schaffen. Vergessen Sie einfach, daß ich Arzt bin. Ich begebe mich in Ihre Hände. Ich war auch einmal da, wo Sie jetzt sind, genau hier, vor vielen Jahren. Ich war der erste Neger-Intern im House. Damals nannten sie uns noch Neger.«

Nach und nach, an die Worte des Dicken denkend, wurde ich sicherer und hellwach. Nervös, aber gespannt. Ich mochte diesen Mann. Er hatte mich gebeten, mich um ihn zu kümmern, und ich wollte mein Bestes tun. Ich begann mit der Arbeit, und als das Röntgenbild Flüssigkeit im Brustkorb zeigte und ich wußte, daß ich ihn besser punktieren sollte, um zu sehen, was es war, beschloß ich, doch den Dicken zu rufen. Als er kam, war ich gerade dabei, die Befunde zusammenzupuzzeln, gerade dabei zu begreifen, daß die Diagnose wahrscheinlich Krebs lautete. Ein elendes Gefühl sank mir in den Leib. Der Dicke schwebte in seinem OP-Zeug herein wie ein freundlicher grüner Blimp und stellte durch wenige Worte an Dr. Sanders eine wunderbare Atmosphäre her. Wärme erfüllte den Raum, Vertrauen, Hilfsbereitschaft, das Versprechen, alles zu versuchen. Das war es, was Medizin sein konnte. Ich punktierte den Brustkorb. Da ich an Anna O. geübt hatte, fiel es mir leicht. Der Dicke hatte recht: An den Gomers probierte und lernte man, damit man es konnte, wenn es darauf ankam. Und ich verstand, warum die Schlecker des House of God die seltsame Art des Dicken duldeten: Er war ein hervorragender Arzt. Das genaue Gegenteil von Putzel.

Ich war mit der Punktion fertig, und Dr. Sanders, der jetzt leichter atmete, bat:

»Sie werden mir doch sagen, was die Zytologie dieser Flüssigkeit ergibt? Ganz egal, was es sein wird?«

»Wir werden erst in einigen Tagen Bestimmtes wissen«, sagte ich.

»Schön, dann sagen Sie es mir eben in einigen Tagen. Wenn es bösartig ist, muß ich noch etliches erledigen. Ich habe einen Bruder in West Virginia. Unser Vater hat uns etwas Land hinterlassen. Wir wollten schon lange mal wieder zum Fischen, und ich habe den Ausflug immer wieder aufgeschoben.«

Draußen auf dem Flur lief es mir bei dem Gedanken daran, was in den Röhrchen in meiner Tasche sein könnte, kalt über den Rücken. Ich hörte den Dicken fragen:

»Haben Sie sein Gesicht gesehen?«

»Was ist mit seinem Gesicht?«

»Prägen Sie es sich gut ein. Es ist das Gesicht eines Sterbenden. Gute Nacht.«

»He, warten Sie, ich weiß jetzt, warum man Sie hier so herumwirtschaften läßt. Sie sind gut.«

»Gut? Nein, nicht nur gut. Sehr gut. Sogar großartig. Nacht.«

Ich rollte Dr. Sanders zurück auf die Station und ging wieder ins Bett, als der Morgen schon die heiße, böse Nacht zerbrach. Die eifrigen Chirurgen begannen ihre Visiten, bereiteten sich vor auf einen Tag voller netter, ziviler Arbeit, wie zum Beispiel anderen Menschen die Hände wieder an den Arm zu nähen. Die erste Schicht der Wirtschaftszentrale streunte bereits durch die Höhlen des Hauses, als ich mir die Socken anzog, um zum Kartenflip des Dicken zu gehen. Ich bemerkte, daß ich mich selbst genauso anfühlte wie Socken: verschwitzt, schal, stinkend, steif, einen Tag zu lange getragen.

Vom Kartenflip an begannen die Dinge irgendwie zu schmelzen, undeutlich zu werden und zu verschwimmen, und gegen Mittag war ich so benebelt, daß Chuck und Potts mich durch den Gang der Cafeteria zum Tisch führen mußten. Das einzige, was ich mir aufs Tablett gestellt hatte, war ein großes Glas Eiskaffee. Ich war so ataktisch, daß ich mir bei dem Versuch, mich hinzusetzen, das Schienbein am Tisch stieß und den eisigen Kaffee über meine weiße Hose goß. Kalt sickerte es durch meinen Schritt. Ich war irgendwo anders, weit weg.

An diesem Nachmittag hielt der Leggo mit unserem Team die Visite ab. Er kam in seinem üblichen weißen Metzgerkittel, das Stethoskop wand sich seinen Weg über die Brust hinunter in seine Hosen, und er pfiff:

»Daisy, Daisy, give me your answer troooo.«

Als er einen Patienten untersuchte, verspürte ich den Drang, Levy gegen den Leggo zu schubsen, damit beide zu dem Gomer ins Bett fielen, der um jeden Preis gerettet werden sollte. Ich glaubte, daß »Leggo« irgend etwas Kryptographisches für Let my gomers go war, und ich sah den Leggo die Gomers aus dem friedvollen Land des Todes herausführen, hinein in ein verlängertes, erbärmliches, leidvolles Leben, den Sinai hinuntersteigen, ungesäuertes Brot verschlingen und Daisy, Daisy, give me your answer trooo singen.

Chaos. Der Nebel verdichtete sich. Ich glaubte nicht, daß ich diesen Tag durchhalten würde. Die Schwester kam zu mir und sagte, meine italienische Patientin mit dem Spitznamen Boom Boom, die kein Herzleiden hatte, klage über Brustschmerzen. Ich betrat das Krankenzimmer, wo die achtköpfige Familie auf italienisch herumschwatzte. Ich machte ein EKG, das normal ausfiel, und beschloß dann vor einem Publikum von acht Personen Dickie’s Technik vom umgekehrten Stethoskop vorzuführen. Ich stöpselte es bei Boom Boom ein und rief ins Megaphon:

»Cochlea, bitte kommen! Cochlea, kommen! Hörst du mich, Cochlea …«

Boom Boom öffnete die Augen, kreischte, bäumte sich auf, preßte ihre Faust an die Brust, das klassische Zeichen von Herzschmerzen, hörte auf zu atmen und lief blau an. Mir wurde klar, daß ich und acht Italiener gerade einen Herzstillstand miterlebten. Ich schlug Boom Boom auf die Brust, was einen neuen Schrei hervorrief, der immerhin Leben bedeutete. Der Familie versuchte ich vorzumachen, dies sei reine Routine, scheuchte sie hinaus und wählte den Alarmcode. Aus irgendeinem Grund war die Hauswirtschaft mit einem Strauß Lilien zuerst zur Stelle. Dann kam ein pakistanischer Anästhesiologe. Mit dem Chor der italienischen Delegation im Hintergrund kam ich mir vor wie bei den Vereinten Nationen. Noch andere erschienen, aber Boom Boom ging es schon wieder besser. Dickie sah sich das EKG an und sagte:

»Roy, dies ist der größte Tag im Leben dieser Frau, denn sie hat endlich einen bona fide Herzanfall gehabt.«

Ich versuchte den Resident von der Intensivstation davon zu überzeugen, sie von meiner Station zu übernehmen. Aber mit einem Blick auf sie und mit den Worten: »Das meinen Sie doch wohl nicht ernst?« verhinderte er die Abschiebung.

Verlegen versuchte ich, der Familie aus dem Weg zu gehen, und schlich den Korridor hinunter. Der Dicke verkündete Regel Nr. 8: Sie können dich immer noch mehr quälen.

Ich beendete meine Arbeit für diesen Tag und suchte völlig benebelt nach Potts, um ihm meine Patienten zu übergeben. Dabei fragte ich ihn, wie es ihm ginge.

»Schlecht. Ina ist völlig von der Rolle, sie klaut Schuhe und pinkelt rein. Ich hätte ihr das Valium nicht geben sollen. Ein Versuch, ihre Gewalttätigkeit zu zügeln. Das hat beim Kleinen funktioniert, darum dachte ich, versuch es auch mal bei ihr. Hat es nur verschlimmert.«

Während ich mit dem Dicken den Flur zum Fahrstuhl hinunterging, sagte ich:

»Wissen Sie, ich glaube, diese Gomers versuchen, mir richtig wehzutun.«

»Gewiß tun sie das. Sie versuchen, jedem wehzutun.«

»Was macht das für einen Sinn? Ich habe keinem von ihnen etwas getan, aber sie versuchen, mir eins reinzuwürgen.«

»Genau, und das ist moderne Medizin.«

»Sie sind verrückt.«

»Man muß verrückt sein, um das hier zu machen.«

»Aber, wenn das so bleibt, halte ich es nicht aus. Niemals.«

»Doch, das werden Sie, Roy. Werfen Sie Ihre Illusionen weg, und die Welt wird sich einen Pfad zu Ihnen bahnen.«

Und weg war er. Ich wartete auf Berry, die mich vom House abholen wollte. Als sie mich sah, verzog sich ihr Gesicht unwillig.

»Roy, du bist ja ganz grün! Pfui! Du stinkst! Grün und stinkend! Was war los?«

»Sie haben mich geschafft.«

»Geschafft?«

»Ja. Umgebracht.«

»Wer?«

»Die Gomers. Aber der Dicke sagt, sie tun jedem weh, und das sei moderne Medizin. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Er sagt, ich soll meine Illusionen wegwerfen, und die Welt würde sich einen Pfad zu mir bahnen.«

»Das klingt seltsam.«

»Habe ich auch gesagt, aber jetzt bin ich nicht mehr so sicher.«

»Ich könnte dich aufmuntern«, sagte Berry.

»Deck’ mich einfach zu.«

»Was?«

»Bring mich ins Bett und deck’ mich einfach zu.«

»Aber du hast heute Geburtstag. Wir wollten essen gehen, erinnerst du dich?«

»Ich habe es vergessen.«

»Deinen eigenen Geburtstag hast du vergessen?«

»Jap. Ich bin grün und stinke, deck’ mich einfach nur zu.«

Sie brachte mich ins Bett, so grün und stinkig wie ich war, und sagte, sie liebe mich auch so, und ich sagte, ich liebe sie, aber das stimmte nicht, denn sie hatten etwas in mir zerbrochen, und das war etwas Lebendiges gewesen, das mit Liebe zu tun hat, und ich war eingeschlafen, bevor sie die Tür geschlossen hatte.

Das Telephon klingelte und aus dem Hörer tönte ein zweistimmiges: »Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday dear Roy-oiy, happy birthday to you.«

Mein Geburtstag, vergessen, daran erinnert und wieder vergessen. Meine Eltern. Mein Vater sagte:

»Hoffe, du bist nicht zu müde, und es muß aufregend sein, endlich deine eigenen Patienten zu haben.«

Ich wußte, daß er die moderne Medizin für die größte Erfindung seit dem Hochgeschwindigkeitsbohrer hielt, und als ich auflegte, dachte ich an Dr. Sanders, der sterben würde, und an die Gomers, die nicht sterben würden, und ich versuchte herauszufinden, was Illusion war und was nicht. Ich hatte erwartet, daß ich dorthincinrauschen und Menschen im letzten Moment retten würde, genau wie in dem Buch Wie rette ich die Welt, ohne mir den Kittel schmutzig zu machen beschrieben wurde, und nun hatte ich erlebt, wie ein gebrochener Südstaatler von einem Gomer mit einem widderhorngeschmückten Footballhelm verprügelt wurde, und die ganze Zeit erzählte ein dicker Zauberer, der ein großartiger Arzt war, aber auch etwas Unwirkliches, entweder ein Verrückter oder ein Genie, daß der Kern der ärztlichen Versorgung darin bestünde, nichts zu tun außer abzuschieben und zu frisieren. Letzte Nacht in den leeren Gängen und am Tag in den vollen Fahrstühlen hatte ich das Gefühl von Macht empfunden, aber auch das furchtbare Gefühl der Machtlosigkeit angesichts der Gomers und der hilflos unheilbaren Jüngeren. Sicher, es gab die sauberen weißen Hosen und Putzels sauberen weißen Continental, aber diese weißen Hosen waren von Erbrochenem und Blut und Pisse und Kot beschmutzt worden, in den schmutzigen Laken der Dienstzimmer brütete Ungeziefer, das einem in den Finger und ins Auge biß, und Putzel war ein Blödmann. In einigen Monaten würde Dr. Sanders tot sein. Wenn ich wüßte, daß ich in einem Monat sterben müßte, würde ich dann meine Zeit so verbringen? Niemals. Mein sterblicher, gesunder Körper, mein lächerliches, krankes Leben. Darauf warten, daß der Baseball zischend auf mich zufliegt, auf das Aneurysma in meinem Hirnstamm, das mit aller Macht versucht, aufzuplatzen und mein Blut über meine Hirnrinde zu spritzen, bis es vorbei ist. Und es gab keinen Weg mehr zurück. Ich war ein Intern auf der stinkenden Galeere im Haus der blutigen Anfänger, im House of God.