12
Überall standen Weihnachtsmänner, sie durchsetzten die harte Realität der Sozialhilfe und Kriminalität mit Zeichen der Phantasie und der Erinnerungen. Es gab einen militanten Weihnachtsmann der Heilsarmee, der seine Glocke vor dem obligatorischen, tuberkulösen Posaunisten schwang. Zur Hauptverkehrszeit gab es einen reichen, fülligen Pascha-Weihnachtsmann in einem Caddy mit Chauffeur. Es gab sogar einen Weihnachtsmann, der ziemlich schizoid aussah, aber immerhin ein Weihnachtsmann war. Er ritt auf einem fröstelnden Elefanten durch den Park. Und natürlich gabe es eienen Weihnachtsmann in House of God, der Fröhlichkeit inmitten des Schreckens und der Schmerzen versprühte.
Der beste Weihnachtsmann war der Dicke. Mitten im Geschnatter seiner Ambulanzpatienten stand er da wie ein fetter Messias. Bei seiner brüsken Art und seinem rauhen Lachen überraschte es mich, wie sehr seine Patienten ihn liebten. An einem Nachmittag vor Weihnachten ging ich mit ihm zur Ambulanz.
»Natürlich lieben sie mich«, sagte der Dicke, »tut das nicht jeder? Solange ich lebe, haben mich immer alle geliebt, ausgenommen die Neider. Sie kennen doch das Kind, das auf dem Spielplatz von anderen Kindern umringt ist? Das Kind, zu dem die anderen nach Hause kommen? Das war Dickie in Flatbush. Jetzt sind diese Kinder die Patienten. Ist dasselbe. Sie lieben mich alle. Das ist wunderbar!«
»So grob und zynisch, wie Sie sind?«
»Wer sagt das? Und wenn schon?«
»Warum lieben sie Sie dann?«
»Darum. Ich bin ehrlich mit ihnen und bringe sie dazu, über sich selbst zu lachen. Statt der grimmigen Selbstgerechtigkeit à la Leggo oder statt Putzels weinerlichem Händchenhalten, das ihnen das Gefühl gibt, sie müßten bald sterben, gebe ich ihnen das Gefühl, immer noch ein Teil des Lebens zu sein, ein Teil des großen, verrückten Systems. Sie sind nicht allein mit ihren Krankheiten, die meistens gar nicht existieren. Bei mir gehören sie noch zur menschlichen Spezies.«
»Und Ihr Sarkasmus?«
»Wer ist denn nicht sarkastisch? Ärzte sind ganz gewöhnliche Menschen, sie tun nur so, als wären sie etwas anderes, um sich gut zu fühlen. Jesus, ich mache mir Sorgen um dieses Forschungsprojekt, obwohl – können Sie sich denken, welches Problem ich habe?«
»Nein, welches denn?«
»Mein Gewissen. Können Sie sich das vorstellen? Daß ich im VA Hospital die Bundesregierung betrüge, läßt mich erzittern. Das ist bekloppt. Ich mache schließlich nur vierzig Prozent von dem, was ich könnte. Es ist furchtbar.«
»Schrecklich«, sagte ich, und als wir uns der Ambulanz näherten, überkam mich wieder diese niederdrückende Vorstellung, mich mit hypertensiven, alleinstehenden LAD in GAZ und ihren mörderischen Forderungen an mich beschäftigen zu müssen, und ich stöhnte.
»Was ist los?« fragte Dickie.
»Ich weiß nicht, ob ich es durchhalte, mir für alle diese Frauen in meiner Ambulanz etwas einfallen zu lassen.«
»Was? Sie versuchen, etwas für sie zu tun?«
»Natürlich, Sie denn nicht?«
»So gut wie nie. Ich tu überhaupt nichts in meiner Ambulanz. Warten Sie, gehen Sie noch nicht hinein«, sagte er und zog mich hinter die Tür. »Sehen Sie die Leute da?«
Ich sah sie. Im Warteraum war eine richtige Menschenansammlung, eine Mischung wie auf einem Bar Mitzvah bei den Vereinten Nationen.
»Meine Ambulanzpatienten. Ich tue medizinisch nichts für sie, und sie lieben mich. Wissen Sie, wieviel Schnaps, heiße Ware und Lebensmittel ich von denen zu Hannukah und Weihnachten geschenkt bekomme? Und das nur, weil ich medizinisch nichts mit ihnen mache.«
»Schon wieder sagen Sie, die Behandlung sei schlimmer als die Krankheit.«
»Nein. Ich sage, die Behandlung ist die Krankheit. Die Hauptquelle der Krankheit in dieser Welt ist diese Krankheit der Ärzte, ihr Drang, helfen zu wollen, und ihr trügerischer Glaube, sie könnten es schaffen. Es ist nicht leicht, nichts zu tun, wenn die Gesellschaft jedem erzählt, daß der Körper an allen Ecken und Enden Mängel hat und zur Selbstzerstörung neigt. Die Leute fürchten ständig, sie stünden schon am Rand des Grabes und sollten lieber gleich zu einer Routineuntersuchung laufen. Untersuchungen! Wieviel haben Sie jemals bei einer Untersuchung rausgekriegt?«
»Nicht besonders viel«, sagte ich und dachte: Er hat recht.
»Natürlich nicht. Die Leute erwarten vollkommene Gesundheit. Das ist eine flotte, nagelneue Madison-Avenue-Erwartung. Und es ist unser Job, ihnen zu sagen, daß die unvollkommene Gesundheit die vollkommene Gesundheit war und ist und daß wir gegen die meisten Sachen, die mit ihrem Körper nicht stimmen, nicht sehr viel tun können. Vielleicht stellen wir eine Diagnose – tolle Sache. Aber wir heilen so gut wie nie.«
»Da bin ich mir eben nicht so sicher.«
»Was wollen Sie damit sagen? Haben Sie schon irgend jemanden geheilt? In den sechs Monaten?«
»Eine Remission.«
»Wahnsinn. Wir heilen uns selbst, und damit hat es sich. Gehen wir. Wir werden uns in der Menge verlieren, Basch, darum Frooohe Weihnachten und passen Sie immer gut auf, wo Sie Ihre Finger reinstecken.«
Wieder einmal verwirrt und mit dem Gefühl, als habe er wie gewöhnlich mein Gehirn durchgeschüttelt, und mit dem Gedanken, daß er wahrscheinlich recht hatte, blieb ich noch einen Augenblick stehen und beobachtete, wie er auf die Menge zuging. Die Patienten kreischten vor Freude, als sie den Dicken sahen und umringten ihn. Viele von ihnen kamen seit eineinhalb Jahren jede Woche zu ihm, und fast alle kannten sich untereinander. Sie waren eine große glückliche Familie, und dieser Arzt war ihr Oberhaupt. Man lächelte, überreichte Geschenke, und Dickie setzte sich mitten in den Warteraum und amüsierte sich. Gelegentlich nahm er ein Kind auf die Knie und fragte, was es sich zu Weihnachten wünschte. Ich war gerührt. Hier sah ich, was Medizin sein konnte: Menschlichkeit für Menschen. Wie in unseren zerschlagenen Träumen. Traurig ging ich in mein Dienstzimmer, wie ein Kind, das nicht zum Spielen bei dem Dicken eingeladen worden war.
Und doch hatte ich, vom Dicken entsprechend präpariert, überraschenderweise plötzlich Spaß an meiner Ambulanz. Der Gedanke, daß mein Wunsch zu heilen die einzig echte Krankheit meiner Patienten sei, entspannte mich, und ich lehnte mich zurück und ließ mich von ihnen als Menschen in ihr Leben holen. Welch ein Unterschied! Als ich die schmerzenden Knie meiner arthritischen, Basketball spielenden schwarzen Patientin ignorierte und sie statt dessen nach ihren Kindern fragte, öffnete sie sich, schwatzte fröhlich und holte ihre Kinder herein, damit sie mich begrüßten. Als sie ging, vergaß sie zum ersten Mal, ein Pamphlet der Zeugen Jehowas dazulassen. Viele meiner anderen Patienten brachten mir Geschenke. Meine LAD in GAZ mit den angeklebten Augenlidern brachte mir ihre Nichte, eine umwerfende Sabra mit braungebranntem Gesicht und Schultern wie ein Footballspieler und dem Lächeln einer saftigen Jaffa-Orange. Meine künstliche Brust brachte eine Flasche Whiskey und mein portugiesischer künstlicher Fuß eine Flasche Wein. Die Geschenke waren der Dank dafür, daß ich ihnen »geholfen hatte«. Das einzige, womit ich ihnen jedoch tatsächlich geholfen hatte, war, sie nicht irgendwohin abgeschoben zu haben. Durch die ärztliche Drehtür-Versorgung, bei der jeder Arzt des Planeten bestrebt ist, zu frisieren und abzuschieben, waren diese Menschen Experten geworden, wenn es darum ging, ein statisches Zentrum zu finden, an dem sie sich verankern konnten. Einen Dicken konnten sie auf eine Meile riechen. Diesen Leuten ging es nicht um Krankheit oder Heilung. Sie wollten, was jeder will, die Hand in ihrer Hand, das Gefühl, daß ihr Arzt sich um sie kümmert.
Ich kümmerte mich. Ich begann meine Patienten mit den Augen des Dicken zu sehen.
Auch in der Notaufnahme verflog der Rausch dieses menschlichen Empfindens nicht. Ich fühlte mich gut, war stolz auf meine Fähigkeiten, erregt. Ich fand es nicht schlimm, wenn ich zur Arbeit gehen mußte, und außerhalb des House konnte ich es ertragen, daran zu denken, was innerhalb des House war. In der Notaufnahme saß ich wie auf einer Bank im Louvre: Eine menschliche Tapisserie entfaltete sich vor meinen Augen. Genau wie Paris war die Notaufnahme ein Ort unbegrenzter Zeit: Ich konnte fortgehen, und sie würde ohne mich weiterbestehen, bis ich wiederkam. Die unendliche, demütige Ewigkeit der Krankheit. Mit dem Kunstgriff des Abschiebens schlüpfte ich in die Rolle des Arztes, die mein Vater in seinen Briefen entwarf. Ich war in der Lage, mit allem fertig zu werden, was sich da abspielte, wo die Fahrt des Krankenwagens endete, und was durch die Tür auf mich zugerollt kam.
An einem Samstagnachmittag vor Weihnachten, in der Ruhe vor dem Sturm der Samstagnacht, saßen Gath und ich in der Stationszentrale. Der irre Abe war seit zwei Nächten verschwunden, und alle waren ein wenig verstimmt wegen seiner Abwesenheit. Die Schwestern waren schnippischer als sonst, und selbst Flash war gereizt und schien nur sein Stammhirn zu benutzen. Schwerer, nasser Schnee war gefallen, und ich hatte bereits die ersten der zahlreich erwarteten Herzinfarkte behandelt, jetzt, da die untrainierten Vorstadtväter mittleren Alters ihre Einfahrten freischaufelten. Ich sagte zu Gath, er wirke niedergeschlagen, und er meinte:
»Jah, das bin ich auch. Es ist wegen Elihu, er kann seinen Arsch nicht von seinem Ellenbogen unterscheiden. Also muß ich ständig seine Arbeit überwachen. Wundversorgung. Ein Mann mit meinen Fähigkeiten muß Schnittwunden nähen! Aber wenn ich Elihu machen lasse, wird das hier ein Schlachthaus. Wir kriegen hier keine großen Sachen mehr rein. Keine Schußverletzungen, keine Unfälle, immer nur Bauchschmerzen, Schnittwunden und Punzen. Macht mich ganz krank.«
Die Schwestern reichten jedem von uns eine Klemmappe. Gath sah darauf und bedeckte dann in einer gequälten Geste seine Augen.
»Wissen Sie, was das ist, Junge? Ne Punze. Ne kranke Punze. Ich bin zwar nur ein rassistischer Südstaatler aus Alabama, aber um Christi Willen, HERR, gib mir doch mal was Vernünftiges. Diese kranken Punzen ruinieren einem armen Jungen noch das ganze Liebesleben.«
Auf meinem Klemmbrett steckte ein Weißer, ein spindeldürrer Mann, dreiunddreißig Jahre alt. Man hatte ihn auf der Straße vor der Bibliothek gefunden, wo er die Toilette benutzt hatte. Zalman war einen Meter zweiundneunzig groß und wog siebenunddreißig Kilo. Er sah aus wie aus dem Konzentrationslager, war nur Hinterbacken, Rippen und Unterkiefer, zu träge, um irgend etwas zu tun, außer zu reden. Er aß kein Fleisch, weil die Seele der Tiere wie die der Menschen wandere, er sei ein arbeitsloser Philosoph, die Welt voll von Inkompetenz, und sein typisches Abendessen bestand aus einer einzigen kernlosen Weintraube. Faszinierend. Abschiebung in die Psychiatrie. Mein Gespräch mit dem Psychiater wurde vom zweiten schneeschippenden Herzinfarkt unterbrochen, der im Sterben lag. Gath, Elihu und ich boxten ihn ins Leben zurück.
In der Zeit, die wir brauchten, um den Schneeschipper zu retten, hatten sich die Klemmappen gestapelt. Die ersten Nichtschwimmer, die mit der steigenden Samstagnacht-Flut angeschwemmt worden waren. Als ich einige Mappen nahm und in die Untersuchungszimmer zurückgehen wollte, wurde ich von einem kahl werdenden Mann in meinem Alter in Jeans und schwarzem Rollkragenpullover angesprochen.
»Dr. Basch, ich bin Jeff Cohen, Resident in der Psychiatrie. Ich habe gerade Ihren anorektischen Patienten Zalman begrüßt.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen. Die Polizisten haben mir schon viel von Ihnen erzählt. Ja, Zalman, er ist unglaublich. Er braucht Ihre Behandlung.«
»Erzählen Sie mir von ihm«, sagte Cohen und setzte sich mit interessiertem Gesichtsausdruck.
»Ich habe jetzt leider keine Zeit«, sagte ich.
»OK, später. Wir nehmen ihn, aber nicht gleich. Wir nehmen Patienten erst, wenn sie medizinisch durchgecheckt sind. Wir fassen unsere Patienten niemals in physischem Sinne an.«
»Niemals? Sie fassen niemals Körper an?«
»Sie sind überrascht? Körperlicher Kontakt läßt die Übertragung aufflammen. Nun, ich sehe, Sie sind in Eile, und ich bin auf dem Weg nach oben, um etwas nachzulesen. Lassen Sie uns später über ihn sprechen, wenn Sie Zeit haben. Männliche Anorektiker sind selten und faszinierend. Rufen Sie mich an, OK? Bis später.«
Ich sah ihm nach, als er ging. Er war anders: Er hörte zu. Im House of God hörte, wie in anderen jüdischen Häusern, niemand zu, wenn einer sprach. Ich hatte das Gefühl, Cohen war daran interessiert, was ich zu sagen hatte. Wie der Dicke, aber ohne dessen Zynismus. Und er war wirklich an seinen Patienten interessiert! Das konnte ich sehen. Zalmans Knochen waren nicht im entferntesten so interessant wie die Geschichte, die er zu erzählen hatte. Selbst ich hatte gespannt zugehört. Und Cohen hatte während des Dienstes Zeit zum Lesen?
Total scheißabgefahren!
Ich stürzte mich wieder in die Samstagnacht, die langsam auf Touren kam. Eine junge Frau wurde auf den Schultern ihres Freundes von einer Party angeschleppt. Sie atmete nicht mehr und wurde blau und immer blauer. In blitzartigem presto verwandelten Gath und ich sie aus einer beinahe toten Überdosis in eine kotzende, hysterische Unterdosis, die zu Cohen abgeschoben wurde. Als ich gerade einen Weihnachtsmann mit säurebedingter Magenverstimmung behandelte, sah ich wie Gath einen jungen Mann durch die Tür hereinlockte. Der Mann blieb stehen und beäugte uns mißtrauisch unter einem lilafarbenen Damenhöschen hervor, das er auf dem Kopf trug. Cohen erschien abermals und versuchte, mit ihm zu sprechen. Aber er gab es bald auf, und als ich fragte, warum, sagte er:
»Paranoide homosexuelle Panik. Lassen Sie die Finger davon. Wir behandeln mit Zeit-Tinktur. Wir warten.«
Cohen begab sich zu einem »Jesus Christus« und ich zu einem »Sohn von Charlie Chaplin«, der unerträgliche Kopfschmerzen hatte und nach Codein verlangte. Ich schob ihn ab, zurück auf die Straße. Mir wurde klar, wie viele dieser Menschen eher Cohen brauchten als mich. In der Pause beobachtete ich Elihu dabei, wie er einen hünenhaften, betrunkenen Norweger mit der »Standardmethode« wach machte: Er verpackte ihm die Eier in Eiswürfel. Die Schwester kam und sagte, da sei ein Mann, den ich mir sofort ansehen müßte, sein Blutdruck sei über 150: »Patent angemeldet«.
»Patent angemeldet? Was zum Teufel ist das?«
»Ganz oben an der Skala, wo das Quecksilber aufhört, steht auf dem Gerät ›Patent angemeldet‹. Höher geht’s nicht.«
Ein neuer Rekord im House of God. Der Norweger wachte aus seinem Rausch auf, schrie:
»Du Schwein, leck mir meinen königlich-norwegischen Arsch!« und jagte Elihu durch die Stationszentrale. Gath und ich hofften, er würde ihn kriegen. Ich ging und sah mir den Mann mit dem hohen Blutdruck an. Er war ein fetter, schwarzer Typ mit unruhigem Blick, geschwollenen Fußgelenken, feuchten Lungen und schrecklichen Kopfschmerzen. Er ließ mich einen Zugang legen, und als ich ihm sagte, jeden Augenblick könnten seine Hirnstammarterien platzen, willigte er ein, sich ins House aufnehmen zu lassen. Dann riß er den Zugang raus und sagte, Blut um sich spritzend, erst müsse er »einige Geschäfte erledigen«, zu denen ein silberner Cadillac und zwei Frauen gehörten, und taumelte hinaus. Den höchsten Blutdruck, den das House of God je hatte, auf die Straße abgeschoben zu haben, förderte meinen Ruf als »Wand« ungemein.
Gegen elf Uhr kam etwas Wundervolles: Eine erotische Strähne. Eins der wenigen echten Vergnügen des Arztlebens: unter dem Vorwand, seinen Beruf auszuüben, durfte man attraktive Frauen ausziehen – etwas, was man sonst nur in der Phantasie tat. Ich begann mit einer persischen Prinzessin und endete mit einer einsamen, oralen Studentin, die, unfähig, sich zwischen ihrem Vater und ihrem Freund zu entscheiden, plötzlich Schluckbeschwerden bekommen hatte, was ihr in dieser einsamen Samstagnacht einen jungen jüdischen Arzt bescherte, der bona fide medizinisch-erotischen Kontakt zu ihrem Mund aufnahm, zu Zunge, Rachenring, Naso-Oro-Pharynx, Hals, Kehle, Schlüsselbein, Brustkorb und sogar Brustwarzen, warum auch nicht?
Die bemerkenswerteste Frau war eine Dänin, mit strahlend weißen Zähnen, blondem Haar und blonden Wimpern – was auch blondes Schamhaar bedeutete – mit rosigen, winterkalten Wangen und Augen so blau wie ein Fjord. Sie trug ein hautenges, goldenes Wickelkleid, das eine Schulter freiließ und ihre Brustwarzen abzeichnete. Perfekt bis zu den i-Tüpfelchen. Sie klagte über »einen Krampf im Nacken, der bis in die Brust hineinzieht«. Oh, Freude, Freude. Ich scherzte und flirtete, fragte sie über den Krampf und diese Brust aus. Ich mußte mich entscheiden, ob sie sich für mich ausziehen sollte oder nicht. Ich zögerte. Die Spannung wuchs. Sie sah mich spöttisch an, während ich schwieg. Jetzt hatte ich es verpatzt. Ich wurde rot, sagte dann aber:
»Ich sollte mir das genauer ansehen. Würden Sie bitte diesen Untersuchungskittel anziehen?«
Sie sah mir in die Augen und rührte sich nicht, und ich dachte, oh, nein, das gibt Ärger, jetzt ist es passiert, sie wird mich verpfeifen. Und ich sah schon die Schlagzeilen von morgen: NORWEGISCHER SEEMANN ERSCHLÄGT TERN IM HOUSE OF GOD – DÄNISCHE SCHÖNHEIT ANLASS FÜR VERBRECHEN AUS LEIDENSCHAFT.
»Aber sicher«, sagte sie und lächelte ein blau-blondes Lächeln.
Sie wußte Bescheid und spielte mit! Ich ging auf die andere Seite des Vorhangs. Zu einer anderen jungen Frau und einer Schwester.
»Überdosis an Hundefutter«, sagte die Schwester.
»Oh?« fragte ich aufgedreht. »Und was ist die normale Dosis Hundefutter?«
Ich begann die Hundefutterfresserin zu untersuchen, die einen ganz anderen erotischen Aspekt verkörperte: träge, schamlos, nackt bis zur Taille, übergab sie sich. Als ich ihr mein Stethoskop auf die Brust setzte, fing eine Bewegung im Spiegel zwischen den Vorhängen meinen Blick ein. Ich konnte in die andere Kabine sehen, wo die Dänin sich gerade auszog. Vorsichtig hakte sie ihr schmiegsames goldenes Kleid auf und wickelte sich aus. Sie saß auf der Liege, nackt bis auf ein goldenes Höschen, und reckte sich mit einem Gähnen. Das Hämmern in meinen Schläfenarterien schien von den gekachelten Wänden widerzuhallen. Sie fröstelte und schlang die Arme um sich selbst. Ihre Brustwarzen waren feste, braune Knöpfe in der weichen, fließenden Seide ihrer Brüste. In dem Augenblick, als sie nach dem Untersuchungskittel griff, sah sie auf ihre Brüste hinunter, der Blick eines Kindes auf zwei aufregende Spielzeuge, und mit einer leichten, kreisenden Bewegung streichelte sie kurz beide Brustwarzen: Die langsame, kreisende Bewegung eines Beckens, eines Schenkels. Bei dieser Berührung stellte sich alles auf, wie hungrige Juden beim letzten Fastengebet von Yom Kippur, ihre Brustwarzen, mein putz, das Stethoskop. Von der Vorfreude eines Liebhabers durchflutet, verlängerte ich die Hundefutter-Untersuchung, ging dann in die Kabine der Dänin und stellte die lächerliche Frage:
»Wie geht es ihnen?«
»Wem?«
»Den Schmerzen im Nacken?«
»Ach so. Gleichbleibend.«
»Lassen Sie mich das aufmachen«, sagte ich, band ihren Kittel auf und ließ ihn auf ihre Hüfte hinunterfallen.
»Ich möchte Sie untersuchen.«
Meine Hände und meine Gedanken wanderten, während ich mich an ihr erfreute. Ich spürte die erotische Spannung zwischen uns knistern, wie riesige Seifenblasen um uns herumschwimmen, glitzern und gleiten, sich spannen und in einem Liebesakt platzen. Meine Handfläche an ihrer rosigen Wange, um den Schmerz zu prüfen, wenn der Trapezius sich kontrahierte, ihre Hand auf meinem Unterarm, während ich die Gelenkkapsel untersuchte. Ich tastete die wundervoll weiche Höhlung am Ansatz des Deltoideus nach einer schmerzhaften Bursitis ab. Meine Finger auf ihren Rippen, ihren Brüsten, ja, ich streifte sogar diese aufgerichteten Brustwarzen, warum auch nicht? Wäre es ethisch vertretbar, sie anzumachen? Norman, der Zimmergenosse des Kleinen in der BMS, hatte einmal im Frühling eine guterhaltene Witwe namens Suzie – wie auch sonst – in einer Notaufnahme aufgerissen und damit eine Dauerkarte auf der Spielwiese ergattert.
»Dr. Basch«, sagte sie, als ich zögernd fertig wurde und sah, wie sie ihre Brüste wieder bedeckte, ihr riet, zwei Aspirin zu nehmen, und gerade vorschlagen wollte, sie möge mich morgen anrufen, »darf ich Sie etwas fragen?«
Alles. Vielleicht nach dem hübschen jungen Hering in meiner Hose?
»Ist es schwer, immer soviel … soviel Krankheit ringsrum zu sehen?«
»Ja, das ist es«, sagte ich und grübelte verzweifelt, wie ich sie anbaggern sollte.
»Sie fühlen sich von mir angezogen, das habe ich bemerkt.«
Jetzt hatte sie mich ertappt!
»Und ich mag Sie. Sie haben gute Hände, sanft, aber stark.«
Jetzt passierte es endlich, wie in den Romanen!
»Wie schade, daß ich morgen nach Kopenhagen zurückfliege, nicht wahr?«
AUUUuuuu!
»Naah, ’n steiler Zahn, hatter Ihn’n gefall’n?« fragte Gath und setzte sich zu mir in die Stationszentrale.
»Unglaublich. Eine echte Glückssträhne, was?«
»Glück! Quatsch. Ich hab sie aussortiert: bis zur Taille für Sie, Taille abwärts für Elihu. Dem können alle diese schmierigen, grünlichen Punzen den Sex nicht verderben, oder? Verflucht auch! Sehn Sie sich das an, der irre Abe ist wieder da! Aby-Baby ist wieder da!«
Da war er. Mit diesen elektrischen Funken in den Augen. Abe winkte uns von der automatischen Tür aus zu. Flash lief zu ihm und umarmte ihn, und die Stimmung der Schwestern hob sich. Was für eine herrliche Nacht! Wenn ein verlorener alter Mann seinen Weg aus dem Dschungel ins House of God zurückfindet, wer sollte sich da nicht freuen?
Kurz vor Mitternacht saß ich mit den Polizisten zusammen. Cohen kam zu uns und schrieb die Daten eines schizophrenen Mannes auf, der im Koma eingeliefert worden war, nachdem er den Inhalt einer Dose Ban-Deospray eingeatmet hatte.
»Hallo, Dr. Jeff Cohen«, brüllte Gilheeny, und wandte sich an mich: »Sie werden uns verzeihen, daß wir uns an Cohen halten, aber wir müssen die Gelegenheit nutzen, weil er von sieben Nächten nur eine Dienst hat. Ein sehr viel menschlicherer Arbeitsplan als Ihrer, Dr. Basch. Er beweist die Weisheit Dr. Cohens, er hat sich die Psychiatrie ausgesucht, und beweist auch die Maxime seiner Heimatstadt: Man kann den Jungen aus South Philadelphia herausholen, aber man kann niemals South Philadelphia aus dem Jungen herausbekommen.«
Ganz erschlagen von der Vorstellung, nur einmal in sieben Nächten Dienst zu haben, hörte ich Gilheeny zu, wie er Cohen fragte:
»In welche bemerkenswerten Abgründe des menschlichen Geistes sind Sie denn heute Nacht abgetaucht? Und warum, meinen Sie, hat unser schizoider Junge das Ban geschnüffelt?«
»Probleme mit Nähe und Abgrenzung sind der Kern der Schizophrenie«, sagte Cohen. »Wir alle leiden, wie Freud bemerkte, unter egodystonischen neurotischen Konflikten.«
»Wie Sie schon sagten«, meinte Quick, »man wächst nie aus seinem Bedürfnis nach Neurosen heraus.«
»Richtig«, sagte Cohen, »aber die Kämpfe des Schizophrenen spielen sich früher ab, prägenital, und sie drehen sich um persönliche Grenzen: Wie nahe kann man jemandem kommen, bevor man verschlungen wird? Ich habe ihm Stelazine gegeben.«
»Und das Selbstmordmotiv, das Deodorant?« fragte Gilheeny.
»Ganz einfach«, sagte Cohen, »Mit Ban kann man sich näher kommen.«
»Es wäre nicht schlecht«, sagte Quick, »wenn die gesamte Polizei mal zu einer ausgedehnten Gruppentherapie zu Ihnen käme.«
»Wir wissen alles über die Polizei«, sagte Cohen und zwinkerte mir zu, »ein Haufen Schwuler.«
»Oh, Dr. Cohen«, sagte Quick, »das dürfen Sie nicht verallgemeinern.«
»Die Sache ist die«, sagte Gilheeny, »wir leben in ständiger Angst um unser Leben. Das treibt den Blutdruck hoch wie einen arabischen Geysir, und die Spannungskopfschmerzen, unter denen wir leiden, würden einem Bullen die Eier weghauen, so bohrt sich der Schmerz in die Nebenhöhlen.«
»Ich muß gestehen«, sagte Quick, »daß ich eine seltsame Leidenschaft für biegsame, abgeknickte Plastikstrohhalme entwickelt habe. Und als meine Frau mich neulich abends wegen irgendwas angeschrien hat, habe ich zu ihr gesagt, sie soll darauf einen Furz lassen. Was stimmt mit mir nicht?«
»Sehen Sie?« sagte Cohen und wandte sich wieder augenzwinkernd an mich. »Was hab ich gesagt: homosexuell, der ganze Haufen.«
Motorrad-Eddie kam, um mich abzulösen. Ich hatte so viel Spaß gehabt! Es fiel mir schwer zu gehen. Im Warteraum kam Abe aus seiner Ecke, wo sich jetzt neben seiner Einkaufstüte auch noch der junge Mann mit dem lilafarbenen Damenschlüpfer auf dem Kopf befand und mich mißtrauisch musterte.
»Freuen Sie sich, daß ich wieder da bin?« fragte Abe.
»Ja, das tue ich.«
»Das ist gut. Ich habe einen Freund gefunden, der da drüben in der Ecke. Wissen Sie, manchmal kann es in diesem Raum einsam sein, aber ich mag es auch nicht, wenn er zu voll ist. Der Typ ist merkwürdig, aber er ist mein Freund. Spricht mit niemandem außer mit mir, also ist er mein Freund. Mein Freund. Fahren Sie vorsichtig, es herrscht Schneeglätte. Gute Nacht.«
Ich war voller Hoffnung. Diese sechzehn Stunden waren so gewesen, wie sie sein sollten, wie im Roman, wie im Lehrbuch. Sie waren wie ein Text aus einem Lehrbuch gewesen. Buchstäblich.
Glitzern und Gleiten. Unter den farbigen Lichtern wirbelte und funkelte das Paar in lange geprobten und nun mühelos ausgeführten Bewegungen. Ihr Kostüm war winzig, Träger hielten winzige mit Pailletten besetzte Brustkörbchen an ihrem Platz, das Bikinihöschen wurde von der Dunkelheit der Eisbahn verborgen gehalten. Auf langen, starken Beinen glitten sie in innig verschlungenen Figuren herum, die die erotische Ausstrahlung des Balletts noch verstärkten. Und dann hob er sie für das Finale hoch hinauf und trug sie in einem langen, letzten Gleiten um das weiße Eis herum. Die Scheinwerfer schnitten ihre Schlittschuhe ab, und Mann und Frau standen reglos da, ein Höhepunkt so glatt und so gewalttätig wie das Eis selbst. Wie so oft wurde ich vom Detail eingefangen: Sein Daumen drückte sich in ihre Gesäßspalte und dehnte empfindliche Nervenenden in den labiae, der Klit …
»Ooohh! Ist das nicht phantastisch, Roy?«
Noch bevor ich wußte, mit welcher Frau ich zusammen war, antwortete ich instinktiv: »Jap.«
»Das ist so, weißt du, so aufregend und hübsch und sauber.«
Es war Molly, und wir waren bei den Ice Follies.
»Weißt du«, sagte sie, schob ihre Hand unter meinen Pulli, streichelte kurz meinen Brustkorb hinauf und tauchte dann ohne zu zögern nach unten, tief, tiefer nach unten, wo ich unruhig, erwartungsvoll, grummelnd anschwoll. »Das macht mich richtig an. Wie Angel zum Kleinen sagt: Das bringt mich auf Trab. Ich hab ein Weihnachtsgeschenk für dich. Es ist in meiner Wohnung. Komm, gehen wir.«
Es waren tatsächlich Molly und die Follies. Das Eislaufpaar beendete seine schöne Eisnummer mit einer Pirouette und hielt abrupt inne, das Eis spritzte auf, die Frau breitete die Arme aus und ihre paillettenbesetzten Genitalien winkten mir zu. Als wir gingen, dachte ich an den Gynäkologieraum in der Notaufnahme, an die vielen Frauen mit gespreizten Beinen, an das trübgraue Perineum der Gomer. Molly führte mich hinaus, durch den Schneesturm, der die Stadt von November bis März einhüllte, zu ihrer Wohnung zurück, wo sie meine Hose nicht schnell genug aufbekam. Und als etwas Schnee von ihrer Mütze auf meine schwellende Glans tropfte und ich aufschrie und am ganzen Körper zitterte, lachte sie und sagte:
»Oh, Oskar muß gewärmt werden, oder?« und tat es mit ihrem Mund. Woher haben diese Schwestern ihre beweglichen hungrigen Münder? Ich wurde immer erregter, und meine Gedanken zerbröselten in meinem Kopf. Ich fragte, warum mein Penis gerade Oskar getauft worden sei, und sie sagte:
»Das ist hübsch. Meine Brüste haben Namen, seit ich sie habe. Hier.«
Sie zog ihren Pulli aus, machte den BH auf und führte ihre Brüste vor. Die rechte, etwas größere hieß Toni, und die linke, etwas rosafarbenere, war Sue. Ich zwirbelte Toni und saugte an Sue, und die grauen Gomerpunzen, die kranken weißen und schwarzen und indianischen unter- und überprivilegierten Punzen wurden von krausen, blonden, dänischen Punzen verdrängt und von einer hübschen kleinen Klitoris, die sich in den paillettenbesetzten Labialfalten windet. Wir kamen auf Trab.
Die Follies waren eine Matinee gewesen, und ich mußte von Molly direkt in die Notaufnahme zu einer Acht-bis-acht Schicht. Ich kitzelte Toni und besabberte Sue, bis Molly aufwachte, und als sie sah, daß ich gehen mußte, sagte sie:
»Oh, Roy, warte, ich habe vergessen, Dir mein Weihnachtsgeschenk zu geben.« Und sie stand auf, Toni hing tiefer als Sue, und sprang zu ihrer Kommode hinüber. Und während ich über den Genius der Schöpfung staunte, der etwas so warmes, rosabusiges und weichpunziges wie eine Frau geschaffen hatte, reichte sie mir eine kleine Schachtel, in Geschenkpapier für Kinder gewickelt. Ich machte sie auf, und zu meiner Überraschung war darin eine silberne Krawattenklammer mit den Buchstaben ABI.
»Ich hab die Buchstaben gekauft und selbst angelötet«, sagte Molly. »Für mich bist du wirklich der ABI. Weißt du, ich halte dich für den klügsten Menschen, der mir je begegnet ist, ein Genie. Du mußt mich schrecklich dumm finden. Ist mir egal, ich bin trotzdem gern mit dir zusammen.«
Ein großartiges Geschenk. Starke Gefühle stießen in meinem Kopf aufeinander und die Frage meines Großvaters nach einer anderen Frau und wie gern ich Molly hatte. Und ich fragte sie:«
Hältst du mich nicht für einen gemeinen Hund, weil ich Berry habe und gleichzeitig mit dir zusammen bin?«
»Nein. Wirklich nicht, Roy.«
»Unglaublich«, sagte ich. »Du bist so schön und sexy und so … so lustig und so frei, es ist einfach schwer zu glauben. Ich wußte nicht, daß es jemanden wie dich wirklich geben kann. Ich habe dich sehr gern.«
»Nun, ich glaub, ich liebe dich, Roy, selbst wenn du mich für irgendeine dumme Schwester hältst und sonst nichts.«
»Du bist nicht irgendeine dumme Schwester.«
»Nein, das bin ich nicht. Ich bin nur eine Katholikin, die es satt hat, die es bis zum Gehtnichtmehr mit Nonnen zu tun hatte. Ich will die verlorene Zeit nachholen. Jetzt will ich das Spiel machen.«
»Ich bin kein gemeiner Hund für dich?«
»Oh, Roy, hör auf. Wir beiden wollen unseren Spaß haben, OK?«
Sicher, das war OK, dachte ich, und ich zog sie in meine Arme und küßte sie und Toni und Sue und dieses heiße, feuchte und haarige Ding, dessen Namen ich nicht verstanden hatte, und das Oskar drücken konnte, wie es nur zwanzig Prozent aller Vaginas können. Und sie küßte mich und wir küßten alles und jeden, und Wärme und Küsse und die Krawattenklammer, alles ging wieder von vorn los, und als ich endlich Abschied nahm, war es ein Wunder, daß der große Oskar und ich überhaupt gehen konnten, und gar dort hinaus in den Schneesturm und hinunter ins House vom lieben alten Gott.
Und war es nicht genau so eine Nacht gewesen, in der mein Großonkel Thaler, dem die Zustimmung verweigert wurde, Bildhauer zu werden, in die Scheune geschlichen war, das beste Pferd gestohlen hatte und davongeritten war, auf daß niemand jemals wieder etwas von ihm sehen oder hören sollte?