15
»Ich möchte essen«, sagte Tina, die Frau, die im Taxi geschickt worden war.
»Sie dürfen nicht essen«, sagte Motorrad-Eddie.
»Ich möchte essen.«
»Sie dürfen nicht essen.«
»Warum darf ich nicht essen?«
»Ihre Nieren arbeiten nicht.«
»Tun sie doch.«
»Tun sie nicht.«
»Tun sie doch.«
»Tun sie nicht. Wann haben Sie das letzte Mal gepinkelt?«
»Weiß ich nicht mehr.«
»Sehen Sie? Sie arbeiten nicht.«
»Ich möchte essen.«
»Wenn Ihre Nieren nicht arbeiten, dürfen Sie nicht essen! Sie werden für die Dialyse unterschreiben und ein mieses Leben haben.«
»Dann will ich sterben.«
»Das klingt schon besser, Lady, das klingt schon besser!«
Eddie und ich drückten uns an dem Taxifahrer aus Albany vorbei, der sich bemühte, seine zweihundert Dollar plus Trinkgeld zu kassieren, und setzten uns zum Kartenflip zum Dicken.
»Karte eins«, sagte Dickie, »Golda M.?«
»Toller Fall«, sagte Eddie, »die Läuselady. Neunundsiebzig Jahre alt, ist in ihrer Wohnung auf dem Fußboden gefunden worden. Hat Grimassen geschnitten wie ’ne Barbiepuppe in Der Exorzist. Pflaumengroße Lymphknoten am ganzen Körper; glaubt, sie sei auf der Trambahn in St. Louis und hat Läuse.«
»Läuse?«
»Richtig. Diese Krabbeltierchen. Die Schwestern weigern sich, ihr Zimmer zu betreten.«
»OK«, sagte der Dicke, »kein Problem. Um sie abzuschieben, müssen wir den Krebs oder die Allergie finden. Wir brauchen Hauttests: TB, Candida, Streptokokken, Fliegenscheiße, Ei Fu Yong, das funktioniert. Ein positiver Hauttest erklärt die Knoten, und schon ist sie wieder auf ihrem Fußboden.«
»Putzel, ihr Private, sagt, er wird es nicht zulassen, daß die alte Dame wieder dort landet. Er verlangt, daß wir einen Heimplatz für sie finden.«
»Entzückend«, sagte Dickie, »ich rufe Selma an. Der Nächste. Sam Levin?«
»Ach, noch etwas«, sagte Eddie. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, Putzel von den Läusen zu erzählen. Er ist gerade bei ihr.«
Ein krabbelnder Coup.
»Sam ist ein zweiundachtzigjähriges dementes Wrack, lebt allein in einer Pension, wurde von der Polizei aufgegriffen, weil er überall herumlungert. Als die Bullen ihn fragten, wo er wohnt, sagte er Jerusalem und täuschte eine Ohnmacht vor, darum haben sie ihn hierher abgeschoben. Schwerer Diabetes; ist als pervers bekannt. Hauptbeschwerde: Ich habe Hunger.«
»Natürlich hat er Hunger«, sagte Dickie, »sein Diabetes verbrennt seinen eigenen Körper als Nahrung. Läuse und Perversion? Wie weit ist es mit uns Juden gekommen?«
»Auf die Schwarze Krähe«, sagte Hooper.
»Insulin-City«, sagte Dickie. »Schwierige Abschiebung. Der Nächste.«
»Sie sollten wissen«, sagte Eddie, »daß Sam Levin alles frißt. Passen Sie auf Ihre Vorräte auf, Dickie.«
Dickie stand auf und schloß seinen Schrank ab.
»Die Nächste ist die flotte Tina, die Taxi-Frau«, sagte Eddie, »Privatpatientin des Leggo.«
In diesem Augenblick brüllte der Taxifahrer wegen des Fahrgeldes los, und Dickie schob ihn zu Hilfe ab. Schimpfend zog er ab, und statt dessen kam Bonnie herein:
»Die Infusionsflasche Ihrer Patientin Tina Tokerman ist leer«, sagte sie zu Eddie. »Was soll ich als nächstes anhängen?«
»Häng einfach Tina an den Infusionsständer«, sagte Eddie.
»Wie unpassend. Und nun zu den Läusen: Entlausen ist nicht unsere Arbeit. Das ist Sache des Intern.«
»Quatsch«, sagte Eddie, »das ist Schwesternarbeit, Schwestern haben eh schon Läuse.«
»Was? Ich rufe die Oberschwester! Und wegen der Läuse rufe ich Hilfe an! Wir haben gewisse Verständigungsschwierigkeiten, Wiedersehen.«
»Wie auch immer«, fuhr Eddie fort, »das war also Tina und ich dachte, hmmm Demenz, lassen wir doch mal richtig die Kasse klingeln und gehen voll zur Sache. Ich hab also als erstes eine LP gemacht.«
»Sie haben gleich ’ne LP gemacht? Haben Sie vorher den Leggo gefragt?«
»Nein.«
»Eine Privatpatientin des Leggo, die dreihundert Meilen im Taxi anreist, und Sie fangen mit einer schmerzhaften, invasiven Untersuchung an, ohne vorher zu fragen? Warum?«
»Warum? Nun, entweder sie oder ich, darum.«
»Vielleicht hatte sie ja gar nichts dagegen, oder?« fragte Dickie.
»Oh, sie hatte. Sie schrie Zeter und Mordio. Und gegen drei Uhr habe ich irgend so einen Irren ›Daisy, Daisy, give me your answer troo‹ pfeifen hören.«
»Daisy, Daisy …«, sagte der Dicke und sah aus dem Fenster, einem Helmträger genau ins Gesicht, der wie eine Spinne im wachsenden Netz des Zock-Flügels hing. »Es war bestimmt nicht der Leggo, der um diese Zeit noch hier war. Warum sollte er? Ich meine, das da ist doch kein Tokerman-Flügel, oder?«
»Tina war so wütend, sie hat mir eins auf die Nase gedonnert. Das ganze Gesicht hat mir wehgetan, die Tränen sind mir in die Augen gestiegen. Da wurde mir klar, daß ich unbedingt einen zentralen Zugang in ihrer jugularis interna brauchte, für die ZVD-Messungen.«
»Sie haben nicht etwa einen zentralen Zugang legen wollen, weil Sie wissen, daß der Leggo das haßt. Zu seiner Zeit kam man ohne ZVD aus, und er kann die Werte sowieso nicht richtig verstehen. Richtig?«
»Natürlich nicht. Keineswegs.«
»Gut, Eddie, sehr gut«, sagte Dickie.
»Aber ich habe mich abgemüht wie der Teufel, und ich bin gerade dabei, da kommt der Leggo rein und fragt Tina: ›Stimmt etwas nicht, meine Liebe?‹ und Tina kreischt: ›Ja! Die Nadel da in meinem Hals!‹ Und der Leggo sagt: ›Zu meiner Zeit sind wir ohne das da ausgekommen. Nehmen Sie das heraus und kommen Sie morgen früh zu mir.‹ Tina weigert sich, für die Dialyse zu unterschreiben.«
»Eddie«, sagte Dickie ruhig, »lassen Sie das. Glauben Sie mir, es lohnt sich nicht, sich mit diesen Typen anzulegen. Bleiben Sie locker, es ist besser, ganz locker zu bleiben. Ah, ein verzwickter Fall: Das einzige, was ihre Demenz bessern kann, ist die Dialyse, aber was sie davon abhält, zu unterschreiben, ist ihre Demenz. Eine echt schwierige Abschiebung.«
»Und wenn wir ihr die Hand führen?« fragte Hooper. »Das mache ich immer so, wenn meine Gomers ihre Obduktionserlaubnis unterschreiben sollen.«
»Hören Sie damit auf, das ist illegal!« brüllte der Dicke.
»Keine Aufregung«, sagte Eddie, »wenn Tina klar wird, daß sie mir nachts, wenn ich Dienst habe, vollkommen ausgeliefert ist, wird sie unterschreiben, Dickie, sie wird unterschreiben.«
Später saßen Hooper und Dickie und ich in der Stationszentrale. Dickie las sein Wall Street Journal, Hooper und ich sahen dem Treiben zu. Wir kicherten immer noch über Lionel von Hilfe, der von der Schwester gerufen worden war und, nachdem er die Zimmernummer gesucht hatte, mit einem affigen Strich über seinen Blazer und seine Stirnlocke in das Zimmer der Läuselady marschiert war, wo es von den Viechern nur so wimmelte. Eddie war ins Büro des Leggo gerufen worden, und wir machten uns Sorgen. Als wir den Leggo mit ihm den Korridor herunterkommen sahen, den Arm um seine Schulter gelegt, waren wir erleichtert. Während wir auf den Fisch warteten, um mit der Visite zu beginnen, nahm der Dicke Eddie am Kragen, scheuchte uns alle ins Dienstzimmer und schloß hinter uns die Tür.
»Eddie«, sagte Dickie, »Ihnen steht mächtiger Ärger ins Haus.«
»Wie kommen Sie darauf? Wir haben nett geplaudert. ›Fassen Sie Tina nicht so hart an‹, war alles, was er gesagt hat. Er hat mir sogar den Arm um die Schulter gelegt, als wir hierher gingen.«
»Genau«, sagte Dickie, »dieser Arm auf Ihrer Schulter. Haben Sie sich die Anatomie dieses Armes einmal angesehen? Finger wie ein Baumfrosch, mit Saugnäpfen an den Enden. Arachnodactylie, Spinnenfinger. Doppelgelenk an den Knöcheln, Allerweltsgelenk an Hand, Ellenbogen und Schulter. Wenn der Leggo jemandem den Arm um die Schulter legt, ist das häufig das Ende einer vielversprechenden Karriere. Der Letzte, dem er den Arm um die Schulter gelegt hat, war Granaten-Zimmer-Dubler. Und wissen Sie, wo der sein Fellowship gemacht hat?«
»Nein.«
»Niemand weiß es. Ich bezweifle, daß es irgendwo auf dem amerikanischen Kontinent war. Der Leggo legt Ihnen den Arm um die Schulter und flüstert Ihnen etwas ins Ohr wie Akron oder Utah oder Kuala Lumpur, und dahin gehen Sie dann. Ich möchte mein Fellowship nicht im Gulag machen, verstanden?«
»Ihres?« fragte Eddie. »Und was ist mit meinem? In der Onkologie.«
»Was? Sie? Krebs?«
»Tja. Was gibt es Besseres als einen Gomer mit Krebs?«
Der Fisch leitete an diesem Tag die Chef-Visite. Der Patient war ein gewisser Moe, ein abgebrühter Fernfahrer, der während der Ölkrise in schneidender Kälte hatte warten müssen, bis sein Fahrzeug aufgetankt war. Er hatte eine seltene Bluterkrankung mit dem Namen Kryoglobulinämie: Bei Kälte gerinnt das Blut in den kleinen Gefäßen, und Moes großer Zeh war so kalt und weiß geworden wie eine Leiche auf dem Tisch im Leichenhaus.
»Ein großartiger Fall!« rief der Leggo. »Lassen Sie mich ein paar Fragen stellen.«
Die erste Frage, eine harte Nuß, ging an Hooper, und Hooper sagte:
»Ich weiß es nicht.«
Und der Leggo beantwortete die Frage selbst und gab eine kleine Vorlesung dazu. Die nächste Frage, keine harte Nuß, ging an Eddie. Er antwortete:
»Ich weiß es nicht.«
Der Leggo ließ Gnade vor Recht ergehen und hielt eine kleine Vorlesung, die weder für Eddie noch für sonst jemanden etwas Neues enthielt. Der Fisch und der Dicke begriffen langsam, was wir vorhatten, und die Spannung stieg, als der Leggo sich mit einer leichten Frage an mich wandte, die jeder klutz, der Time las, beantworten konnte. Ich zögerte, runzelte die Stirn und sagte:
»Ich … Sir, ich weiß es nicht.«
Der Leggo fragte nach:
»Sie wissen es nicht?«
»Nein, Sir, und ich bin stolz, das zu sagen.«
Verblüfft und ärgerlich sagte der Leggo:
»Zu meiner Zeit war das House of God ein Ort, wo ein Intern sich geschämt hätte, bei der Chef-Visite ›Ich weiß es nicht‹ zu sagen. Was ist hier los?«
»Sir, also, der Fisch sagt, er möchte, daß das House of God ein Ort ist, wo wir stolz sein können, ›Ich weiß es nicht‹ zu sagen, und verdammt noch mal, Chef, wir sind es.«
»Sie sind es? Der Fisch sagt? Er … schon gut. Sehen wir uns Moe an.«
Der Chef brannte vor Begierde, Moe zu sehen und seinen Zeh. Als er jedoch an Moes Bett stand, ging er aus einem unerfindlichem Grund direkt auf die Leber los und tastete sie mit viel Gefühl ab. Schließlich wandte er sich dem berühmten Zeh zu, und niemand war ganz sicher, was dann passierte. Der Zeh war weiß und kalt, und der Leggo unterhielt sich mit ihm, als könnte er ihm von allen toten großen Zehen der Vergangenheit erzählen, untersuchte ihn, betastete ihn, bog ihn hin und her. Und dann beugte er sich zu ihm hinunter und tat etwas mit dem Mund. Acht von uns sahen zu, und acht verschiedene Versionen kursierten später über das, was der Leggo mit Moes Zeh gemacht hatte. Die einen sagten, er habe ihn angesehen, andere, angeblasen, und einige sagten, an ihm gelutscht. Wir sahen verwundert zu. Schließlich richtete der Leggo sich auf und tätschelte den Zeh etwas abwesend, als wäre er so etwas wie ein neuer Freund, und fragte Moe, wie es sich anfühlte, und Moe sagte:
»He, nicht schlecht, Kumpel, aber, wo du schon dabei bist, kannst du dasselbe nicht ein bißchen weiter oben machen?«
»Die Zehn Gebote und Hühnchen?« fragte ich den Dicken später am Abend, während wir auf unsere Aufnahmen und auf die Zehn-Uhr-Mahlzeit warteten.
»Richtig. Charlton Heston, Juden unter Felsen zerquetscht, und dann das plattgefahrene House of God-Hühnchen. Und Teddy.«
»Wer ist Teddy?«
Teddy war, so stellte sich heraus, einer aus der Horde von Patienten, die den Dicken liebten. Ein Überlebender aus den Konzentrationslagern. Er war eines Nachts, als der Dicke Dienst hatte, mit einem blutenden Magengeschwür in die Notaufnahme gebracht worden. Dickie hatte ihn in die Chirurgie abgeschoben, wo Teddy die Hälfte seines Magens zurückließ, und seither war Teddy davon überzeugt, der Dicke habe ihm das Leben gerettet.
»Teddy hat einen Delikatessenladen und ist einsam. Darum kommt er mit einer Tüte Essen her, wenn ich Dienst habe. Ich staffiere ihn mit weißen Hosen und einem Stethoskop aus, und er tut so, als wäre er Arzt. Feiner Kerl, dieser Teddy.«
Als Dickie und ich und Humberto, mein mexikanischer BMS, im Fernsehzimmer saßen und der MGM-Löwe zu brüllen anfing, kam ein dünner, vergrämter Mann in abgewetztem Schwarz herein, in der einen Hand ein Radio, das einen melancholischen Schumann spielte, in der anderen eine große Papiertüte voller Fettflecke. Während Moses zunächst im Schilfrohrkorb um die italienischen Statisten herumtrieb und sich dann in einen hünenhaften ägyptischen Heißsporn verwandelte, der aussah wie Charlton Heston, führten Dickie und ich und Teddy und Humberto die Station per Telephon. Etwa zu dem Zeitpunkt, als Gott beim Doktorspielen die Zehn Gebote mit den Worten hinunterreichte: »Nehmen Sie erstmal dies hier und rufen Sie mich morgen wieder an«, bekam Harry das Pferd Brustschmerzen. Ich schickte Humberto los, um ein EKG zu machen, und als er zurückkam, sagte Dickie, ohne es anzusehen, es sei ein »ektoper nodaler Schrittmacher, der Schmerzen in der Brust hervorruft.« Er hatte recht.
»Natürlich habe ich recht. Klein-Otto, Harrys Private, hat eine Methode gefunden, um Harry für immer hier zu behalten: Immer wenn Harry soweit ist, abgeschoben zu werden, erzählt Otto ihm, daß er verlegt wird. Dann zwingt Harry sein Herz in diesen wirren Rhythmus mit Thoraxschmerzen, und Otto sagt ihm, er kann bleiben. Harry ist der einzige Mensch in der Geschichte, der eine willkürliche Kontrolle über seinen AV-Knoten hat.«
»Der AV-Knoten ist nie unter bewußter Kontrolle«, sagte ich.
»Bei Harry dem Pferd schon.«
»Wie kriegen wir ihn dann dazu, daß er geht?«
»Indem wir ihm sagen, daß er bleiben kann.«
»Aber dann bleibt er für immer.«
»So? Na und? Er ist ein Landsmann, ein Bruder. Netter Kerl.«
»Sie müssen sich ja auch nicht um ihn kümmern«, sagte ich irritiert, »ich schon.«
»Er macht Ihnen keine Arbeit. Lassen Sie ihn doch hierbleiben. Er ist gern hier. Wer ist das nicht?«
»Ich war gern hier«, sagte Teddy. »Das waren die besten sechs Wochen meines Lebens.«
Als Die Zehn Gebote zu Ende war, kam ein Anruf aus der Notaufnahme wegen einer Aufnahme, und Dickie versammelte uns um sich und sagte:
»Männer, betet, daß das unser Schlaf-Ticket ist.«
»Was?« fragte Teddy. »Sie brauchen ein Ticket, um hier zu schlafen?«
»Wir brauchen gegen elf Uhr eine Aufnahme, die nicht zu viel Arbeit macht, damit wir schlafen gehen können und nicht um vier Uhr früh mit der nächsten Aufnahme dran sind. Betet, Männer, betet, zu Moses und Israel und Jesus Christus und zur ganzen mexikanischen Nation.«
ER erhörte uns. Bernhard war ein junger dreiundachtzig Jahre alter Mann, kein Gomer, und in der Lage, zu sprechen. Er war vom MBH, der Konkurrenz, herübergeschickt worden. Das MBH war während der Kolonialzeit von den WASPs, den White Anglo Saxon Protestants, gegründet worden. Erst Mitte dieses Jahrhunderts hatte die Unterwanderung des MBH durch Nicht-WASPs stattgefunden, und zwar zuerst mit einem vielseitig begabten Alibi-Orientalen, der als Chirurg im MBH arbeitete und später einem begabten, ehrgeizigen Internisten, einem Alibi-Juden. Trotzdem war das MBH immer noch Brooks Brothers, Maßkonfektion, während das House of God immer noch Garment District, Massenvertrieb, war. Für Juden im MBH hieß die Losung: »Kleide dich britisch, denke jiddisch«. Eine Abschiebung vom MBH ins House of God war selten, und der Dicke war neugierig.
»Bernhard, Sie sind ins MBH gegangen, man hat da eine großangelegte Diagnostik betrieben, und dann haben Sie gesagt, Sie wollen hierher. Warum?«
»Weißich wöklich nich«, sagte Bernhard.
»War es wegen der Ärzte da? Mochten Sie die Ärzte nicht?«
»Die Doktas? Nain, kann nich klagen über die Doktas.«
»Die Untersuchungen, oder das Zimmer?«
»Untersuchungen, Zimmer? Nain, kann nich klagen.«
»Die Schwestern? Das Essen?« fragte Dickie, aber Bernhard schüttelte den Kopf, nein. Der Dicke lachte und sagte:
»Hören Sie, Bernie, Sie gehen ins MBH, die machen sich da die ganze Arbeit, und auf meine Frage, warum Sie dann ins House of God gekommen sind, sagen Sie nur: Nain, kann nich klagen. Warum sind Sie hierher gekommen? Warum, Bernie, warum?«
»Warum binnich hierher gekommen?« sagte Bernie, »hier kann ich klagen.«
Als ich zur Station gehen wollte, um mich hinzulegen, kam die Nachtschwester und bat mich um einen Gefallen. Ich hatte zwar keine Lust, fragte aber, was ich tun könnte.
»Diese Frau, die gestern von der Chirurgie gekommen ist, Mrs. Stein.«
»Metastasierendes Karzinom«, sagte ich, »inoperabel. Was ist mit ihr?«
»Sie weiß, daß der Chirurg sie aufgemacht, einen Blick hineingeworfen und wieder zugenäht hat.«
»Ja?«
»Sie fragt mich, was das zu bedeuten hat. Ihr Private will es ihr nicht sagen. Ich finde, jemand sollte es ihr sagen.«
Ich wollte damit nichts zu tun haben und sagte:
»Das muß ihr Private machen, nicht ich.«
»Bitte«, sagte die Schwester, »sie möchte es wissen; jemand muß doch …«
»Wer ist ihr Private?« fragte der Dicke.
»Putzel.«
»Oh. Das ist OK, Roy, ich kümmere mich darum.«
»Sie? Warum?«
»Weil Putzel, dieser Wurm, es ihr nie sagen wird. Ich bin für die Station verantwortlich, ich mache das. Gehen Sie schlafen.«
»Aber Eddie und mir sagen Sie, wir sollen keine großen Wellen machen.«
»Richtig. Das hier ist etwas anderes. Diese Frau muß wissen, was mit ihr los ist.«
Ich sah, wie er in das Zimmer ging und sich zu der Patientin ans Bett setzte. Die Frau war vierzig Jahre alt. Mager und blaß verschwand sie beinahe in den Laken. Ich dachte an die Röntgenaufnahme ihrer Wirbelsäule: durchsetzt vom Krebs, ein Wabenmuster aus Knochen. Wenn sie sich zu abrupt bewegte, würde sie sich einen Wirbel brechen, ihr Rückenmark durchtrennen, gelähmt sein. Ihre Nackenstütze ließ sie stoischer aussehen, als sie war. In dem wächsernen Gesicht sahen die Augen riesengroß aus. Vom Flur aus sah ich, wie sie dem Dicken ihre Fragen stellte und auf seine Antwort wartete. Als er sprach, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Ich sah, wie der Dicke ihre Hand in die seine nahm. Ich konnte es nicht mehr mit ansehen. Verzweifelt ging ich ins Bett.
Um vier Uhr früh wurde ich wegen einer Aufnahme geweckt. Schimpfend torkelte ich in die Notaufnahme und fand dort Saul, den leukämischen Schneider, über dessen Remission wir im Oktober vor Freude geweint hatten. Saul lag im Sterben. Als wäre es verärgert über die Verzögerung auf Sauls Weg in den Tod, war sein Knochenmark wild geworden und spuckte nun verformte, verkrebste Zellen aus, die Saul in ein grauenhaftes Delirium trieben. Er blutete, war anämisch, hatte Schmerzen, und da die verkrebsten weißen Blutkörperchen die übermäßige Vermehrung seiner normalen Hautflora nicht mehr verhindern konnten, war sein Körper mit madigen Staphylokokken-Pusteln bedeckt. Zu schwach, sich zu bewegen, zu wütend, um zu weinen, das Zahnfleisch geschwollen und die Zunge blau angelaufen, scheuchte er seine Frau weg, winkte mich zu sich her und flüsterte:
»Das ist es, Dr. Basch, nicht wahr? Das ist das Ende.«
»Wir können noch einmal eine Remission versuchen«, sagte ich, ohne selbst daran zu glauben.
»Reden Sie nicht von Remission. Das ist die Hölle. Hören Sie, ich will, daß Sie mit mir Schluß machen.«
»Was?«
»Schluß machen. Ich bin so gut wie tot, also lassen Sie mich sterben. Ich wollte keine Behandlung, meine Frau hat mich dazu gedrängt. Ich bin bereit. Sie sind mein Arzt, also geben Sie mir was, um Schluß zu machen, OK?«
»Das kann ich nicht tun, Saul.«
»Quatsch. Denken Sie an Sanders. Ich war dabei, im Nebenbett. Ich hab es mitangesehen. Gelitten? Entsetzlich. Lassen Sie mich nicht so gehen wie ihn. Also? Soll ich was unterschreiben? Ich unterschreibe. Tun Sie es.«
»Ich kann nicht, Saul, Sie wissen das.«
»Dann suchen Sie mir jemanden, der es kann.«
»Ich verspreche Ihnen, Sie werden keine Schmerzen haben. Das ist alles, was ich tun kann.«
»Schmerzen? Und was ist mit den Schmerzen hier drin, in meinem Herzen? Was muß ich tun, Dr. Basch«, sagte er zornig, »betteln? Sie können nicht wollen, daß ich so leide wie Dr. Sanders. Sie haben ihn auch gern gehabt, ich weiß das.«
Ich sah in die blutunterlaufenen Augen, die Entzündung, die über die Augenlider zu den Bindehäuten kroch, die blaß waren, weil sein Körper so wenige rote Blutkörperchen hatte, und ich wollte sagen: Nein, ich will nicht, daß Sie so leiden, Saul, ich möchte, daß Sie leicht sterben.
»Da, sehen Sie? Es ist kinderleicht. Bitte, machen Sie Schluß mit mir.«
Während ich mich wehrte und daran dachte, wie Sanders gelitten hatte und starb, kam mir ein entsetzlicher Gedanke, entsetzlich, weil er einen Augenblick lang nicht entsetzlich zu sein schien, als sähe man ein Baby und dächte daran, ihm einen Nagel durch die Fontanelle zu stechen, der Gedanke ›Ja, Saul, ich werde es tun, ich werde Schluß machen mit dir‹. Ich begann, mich wie der Teufel abzurackern, um ihn zu retten.
Ich ging zur Station zurück und kam zu dem Zimmer, in dem Putzels Frau mit dem Krebs im Endstadium lag. Der Dicke war noch immer dort, sie spielten Karten und plauderten. Gerade als ich vorbeiging, nahm das Spiel eine überraschende Wendung, ein Ruf schäumte hoch, und beide Spieler brachen in Gelächter aus.
Nach dem Kartenflip am nächsten Morgen, als Dickie zum Essen gegangen war und Hooper in die Pathologie, zog Eddie eine alberne Grimasse und erzählte mir, daß Lionel, der Blazer, ihn gebeten hatte, sich einmal »so kleine rote Dinger« auf seinem hübschen Schambein anzusehen, die wie verrückt juckten. Eddie fragte mich, was er tun sollte, und ich antwortete:
»Tun? Du bist Arzt, also tu, was Ärzte tun, untersuche ihn. Gib mir fünf Minuten und untersuch ihn dann hier drin.«
Ich rief die Vermittlung an, sie sollte Dickie, Hooper, Selma, die Schwestern, den Fisch und die Hausverwaltung anpiepsen und sie nach Gomer-City schicken, stat. Und dann sah ich Lionel den Flur heraufkommen, sich vorsichtig umsehen und im Dienstzimmer verschwinden. Ich lief zu der Gruppe, die ich zusammengerufen hatte und sagte:
»Hallo, man hat mich angepiepst, ich solle sofort ins Dienstzimmer kommen!«
Und dann eilten wir alle zehn ins Dienstzimmer. Lionel war nur von der Hüfte aufwärts im blauen Blazer, darunter war er nackt und strich sich durch das braune Schamhaar. Motorrad-Eddie saß ihm nachdenklich gegenüber. Als Lionel uns sah, lief er rot an und fing an zu erklären. Dann merkte er, daß er eigentlich gar nichts erklären wollte, hielt inne, wurde noch röter und sagte:
»Es geht um ein medizinisches Problem.«
»Filzläuse«, sagte Eddie, »Lionel hat Filzläuse.«
»Medizinisches Problem?« sagte ich. »Sie wissen, das ist nicht Lionels Schuld, nein. Das System ist schuld, wenn es zuläßt, daß das nichtärztliche Personal kostenlosen ärztlichen Rat einholt. Wie oft passiert dir das hier im Haus, daß dir jemand auf die Schulter klopft und sagt: He, Dok, ich hab da ein Problem, haben Sie mal ’ne Minute Zeit?«
Lionel zog seine Unterhose mit Spinnakermuster und seine schicke graue Hose an und ging. Wann immer einer von uns ihn jetzt traf, mußten wir an seinen unbeblazerten, verlausten Schwanz denken.
»Das hätten Sie nicht tun sollen, Basch«, sagte der Dicke, als er mit mir zur Station ging.
»Warum nicht?«
»Weil Sie gegen Typen wie die Blazer nicht gewinnen können. Sobald Sie sich mit denen einlassen, verlieren Sie. Lionels Chef, dieser Speichellecker Marvin, weist den Stationen ihre Aufnahmen zu. Er wird Ihnen das Leben schwer machen. Sehen Sie mal, Roy, Sie sind älter als Hooper und Eddie. Sie könnten sich ein bißchen zurücknehmen und den Ball auch mal laufen lassen. Es ist schon schwer genug, ohne daß die Blazer und Privates und Schlecker es uns noch schwerer machen.«
»Diesen Arschlöchern gegenüber nachgeben?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Was ist denn die Alternative?« fragte ich herausfordernd.
»Lassen Sie sich nicht von ihnen benutzen, Roy. Benutzen Sie sie.«
»Wie denn?«
»So«, sagte der Dicke und setzte sich Jane Doe gegenüber und zog seine Stoppuhr heraus. »Beobachten.«
»Was machen Sie da?«
»Ich benutze sie. In zehn Minuten werde ich es Ihnen erklären.«
»Hören Sie, ich will nach Hause. Ich muß mit Hooper Übergabe machen.«
»Gehen Sie. Kommen Sie in zehn Minuten zurück, und ich erkläre es Ihnen.«
Ich ging zum Dienstzimmer und übergab Hooper meine Patienten, und obwohl ich wußte, daß er kein Wort von meinem Sermon mitbekommen hatte, stand ich auf, um nach Hause zu gehen. Hooper las in dem Handbuch, das ich am Anfang des Jahres gelesen hatte, Wie mache ich was als neuer Intern, den Abschnitt über Pleurapunktion. Ich fand das seltsam, denn wir hatten über die Hälfte des Jahres hinter uns, und Punktionen gehörten zu den gängigen Arbeitstechniken. Da wir uns angewöhnt hatten, uns gegenseitig zu helfen, selbst wenn das bedeutete, ein bißchen länger zu bleiben, fragte ich ihn, ob er Hilfe brauchte.
»Du meinst Lionel?« fragte er. Und ich sagte:
»Nein, mich.« Und er sagte:
»Nein, ich lese das hier nur noch mal nach und werde dann bei Rose Budz eine Pleurapunktion machen.«
Er widmete sich wieder dem Buch und suchte mit den Fingern auf seiner Brust den Weg, den die Nadel bei Rose Budz nehmen sollte.
Auf der Station ging ich zu dem Dicken, der daraufhin seine Uhr anhielt und mich dann fragte:
»Was ist nicht passiert?«
»Keine Ahnung.«
»Zehn Minuten, Basch, und Jane hat nicht gefurzt.«
»Und?«
»Ihr Darm ist also zum ersten Mal in der Geschichte des Hauses abgestellt. Dieser Extrakt könnte das Mittel gegen den VA-Durchfall sein. Eine gute Tat; ein Vermögen. Genau das, was ich und die Welt brauchen. Benutzen Sie sie, Basch, benutzen Sie sie.«
»Kommst du jetzt besser mit dem Dicken aus?« fragte Berry.
»Schlechter«, sagte ich. »Er liebt nicht nur die Gomers, er benimmt sich auch wie ein Pfadfinder. Er sagt uns, wir sollen nicht zurückschlagen, läßt mich die ganze Station nach der Brille einer dementen siebenundneunzig Jahre alten Frau absuchen, und dann verbringt er die ganze Nacht am Bett einer Frau mit Krebs im Endstadium, nachdem er ihr erzählt hat, daß sie sterben wird.«
»Das hat er gemacht?«
»Ja, warum?«
»Ich hätte nie gedacht, daß er so etwas tut. So wie du ihn beschrieben hast, schien er zu zynisch, zu krank zu sein. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.«
»Er ist nicht zynisch genug. Er ist ein richtiger Einfaltspinsel geworden. Es sieht aus, als würde er mich im Stich lassen.«
»Er kommt mir jetzt vernünftiger vor. Du bist derjenige, der krank reagiert.«
»Vielen Dank.«
»Ich mache mir Sorgen, Roy. Dieses Ausagieren ist gefährlich. Vielleicht hat der Dicke recht: Jemand wird sich die Finger verbrennen.«
Ich lag wach und kaute an Berrys Bedenken herum. Es hatte Spaß gemacht, dieses »Ich weiß es nicht« zu bringen, um den Fisch dranzukriegen, Lionel dranzukriegen, lachend und sarkastisch herumzufetzen, aber ein Tropfen Bitterkeit war in diesem wilden Cocktail, der konnte Wut auslösen, mich so traurig machen, daß ich mich umbrachte, oder so jähzornig, daß ich um mich biß. Ich versuchte, meine Sorgen in den Griff zu bekommen, aber ich war wie ein Kind, das nach den Sonnenstrahlen greift. Es öffnet die Hand, und Licht und Wärme sind fort. Ich driftete ab in einen Traum und war in einem Zirkus, sah einen Elefanten, ja, einen Elefanten und ein vollbusiges Mädchen auf einem muffigen Elefanten, der flusige Sägespäne unter das aufgeplusterte, riesengroße Zelt mit seiner großen hohen Spitze prustete – HALT – beunruhigt sah ich plötzlich Hyper Hooper im Dienstzimmer sitzen und in meinem Handbuch lesen. Sein gestreckter Finger simuliert die Nadel, und sein Finger zeigt – nein, das konnte doch nicht wahr sein! Doch, es war so – direkt auf das Herz von Rose Budz, der LAD in GAZ.