23
»Was machst du am ersten Juli?« fragte ich Chuck.
»Wer weiß, Mann, wer weiß? Nur das hier will ich nie mehr machen.«
Es war der erste Mai. Ich war im Dienstzimmer von 4-Süd, meiner letzten Stations-Rotation. Ich lag auf dem oberen Bett. Das war ungewöhnlich. Die Interns benutzten immer das untere Bett, damit sie nicht Gefahr liefen, aus der orthopädischen Höhe zu Boden zu gehen und sich die Hüfte zu brechen. Aus irgendeinem Grund wollte ich oben schlafen, dicht unter der Decke, weit vom Ort des Geschehens entfernt. Ich hatte mir Kissen geholt, war die Leiter hinaufgestiegen und hatte mich in eine friedvolle Horizontale begeben, dicht an die Wand gekuschelt. Nun starrte ich an die erbsengrüne, seegrüne Decke. Sehr hübsch. Ich wünschte, das obere Bett hätte Seitengitter wie ein Gomerbett oder eine Wiege. Ich wünschte mir Nahrung, eine Brust, eine Brustwarze, warum nicht?
Hier wollte ich bleiben. Die anderen würden versuchen, mich wegzuholen und manchmal würden sie es vielleicht schaffen. Ich hatte jetzt etwas zu tun. Nachdem ich die Ärztekrankheit erkannt hatte, war ich noch nicht sicher, ob ich ihr entkommen würde. Oh ja, ich mußte arbeiten, an Mitleid, an Liebe. Wie ein Parkwächter, der mit einem Stock mit Stahlspitze durch den dunkel werdenden Sommerpark am Meer wandert und um den Musikpavillon herum die Spuren einer Hochzeit aufpickt, so mußte ich die verstreuten Fetzen meines Selbst unter dem Regenbogen von Konfetti aufsammeln, das von der Brise aus der Bucht aufgewirbelt wurde. Von meinem oberen Bett aus konnte ich durchs Fenster den Zock-Flügel sehen, der langsam Gestalt annahm. Mit dem Frühling schienen die Arbeiter wie ausgewechselt, und genau gegenüber, in der totschicken Gastroenterologie-Radiologie-Suite, lagen goldene Armaturen wie Pilze auf dem dicken, grünen Teppich. Dieser neue Zock-Flügel bot Hoffnung für das House of God, für die Menschen. Meine Hoffnung war, das Jahr heil zu Ende zu bringen.
Am ersten Juli bekannte sich der medizinische Berufsstand zu seinem einzigen Spiel, dem Großen Stühlerücken. Man mußte das Spiel allerdings im voraus spielen. Alle Interns im House of God hatten sich mit dem einen Jahr Internship stillschweigend für ein zweites Jahr als Resident verpflichtet. Für einige, wie zum Beispiel Howie, war das phantastisch, zwei Jahre als »richtiger Doktor« war doppelt so gut wie eins. Grinsend, paffend, schien er das Internship in vollen Zügen zu genießen. Übervorsichtig und unentschlossen wie er war, galt er anerkanntermaßen als schlechtester Intern. Weil er sich fürchtete, den Patienten wehzutun oder ein Risiko einzugehen, praktizierte er eine homöopathische, nahezu gar nicht vorhandene Medizin.
»Weißt du«, sagte ich zu Chuck, »diese Antibiotikum-Dosis, die Howie der Frau da unten verabreicht hat, ist ungefähr so wirksam wie das Millionstel einer Aspirintablette.«
»Wie, wenn du in den Wind pißt, Mann, genau so. Komisch, daß er immer noch so gern in Gomer-City ist.«
»Das gibt’s doch nicht!«
»Doch, das gibt’s. Heut Morgen komm ich rein, und Howie is am Pfeifen. Vor eim Monat is er gekomm und hat gepfiffen, und jetz pfeift er immer noch. Pafft und pfeift. Den Dussel schaffen sie nich, nie. Der steht da drauf.«
Wir anderen sahen das ganz anders. Desillusioniert wie wir waren, hielten Hooper, Eddie, der Kleine, Chuck und ich fest zusammen. Wir hatten uns verpflichtet, nach dem ersten Juli noch ein Jahr zu machen, aber eins wußten wir ganz sicher: daß wir auf keinen Fall noch ein Jahr im House of God bleiben wollten. Keiner von uns wußte, was er tun sollte. Was sollten wir dem Leggo sagen, wenn er uns zu sich rief und nach unseren Plänen für die Zeit nach dem ersten Juli fragte – obwohl er natürlich glaubte, die Antwort bereits zu kennen?
Die beiden Monate, die uns noch zur Entscheidung blieben, verbrachte ich mit Chuck und dem Resident, einem Schatten namens Leon, auf Station 4-Süd. Am Ende seines zweiten Jahres im House of God hatte Leon die Technik des LT, des Leise-Tretens, perfektioniert. Sein Tritt war so leise, daß niemand ihn jemals wahrnahm. Er hatte zugesehen, wie Menschen sich ihren Lebensplan versauten, weil sie im House of God zu sichtbar waren, und hatte sich für die Unsichtbarkeit entschieden. Schlank, mit einem Durchschnittsgesicht, durchschnittlich und adrett gekleidet, dachte Leon nur an die noch fehlenden zwei Monate Leisetretens bis zum großen Stühlerücken und an sein Ziel, Phönix, und sein Fellowship in Dermatologie. Ich stand auf 4-Süd so sehr neben mir, daß mich nur etwas äußerst Ungewöhnliches fesseln konnte. Und dieses Ungewöhnliche erschien in Gestalt von 789 und von Olive O.
789 war mein neuer BMS. Ein Mathematiker, der nach Princeton gegangen war und seine Diplomarbeit über die Zahl 789 geschrieben hatte. Chuck und ich nannten ihn darum 789 oder kurz Sieben. Ein pickeliges, intellektuelles Wunderkind mit wenig sozialen Fähigkeiten, genau die Art von Rekruten, die die BMS schätzt. 789 sah ständig aus wie ein verängstigtes Kaninchen. Er war ein seltenes Talent, was Zahlen betraf, aber im normalen Leben ein Tölpel. Seine Körperkoordination war unter aller Kritik, und alle Gomers, ausgenommen die total Weggetretenen, hielten ihn sich schon bald so weit vom Leibe, wie sie konnten.
Olive O. war beinahe ebenso seltsam. Sie war eine außergewöhnliche Gomer-Lady, die unter geheimnisvollen Umständen von ihrer Familie ins House gebracht worden war. Marvin, der Speichellecker von der Aufnahme hatte mir angekündigt, ich bekäme eine Abschiebung von der Orthopädie, also schickte ich Sieben los, um die Lage zu peilen. Sieben hatte Olives Krankenakte durchgesehen, mit dem Resident in der Chirurgie gesprochen und herausgefunden, daß die Chirurgen aus irgendeinem gottverdammten Grund, wohl von einem frühsommerlichen Brunfttrieb überfallen, aus Olive die stolze Empfängerin einer Hemipelvektomie gemacht hatten. Man hatte ihr die Hälfte des Beckens und des Schambeins weggerissen und nur noch ein Bein gelassen. Dann hatten sie die orthodoxe Abschiebetechnik der Chirurgie angewendet, nämlich zu wenig Blut zu ersetzen, und aus Olive die stolze Empfängerin eines Herzinfarkts gemacht, der dringend internistischer Behandlung bedurfte. Sieben präsentierte stolz eine Reihe von EKG-Kurven und erklärte mir anhand von Vektordiagrammen und einer Riesenherde imaginärer Zahlen, die schon in der elften Klasse meinen IQ vollkommen abgegrast hatten, wie es ihm gelungen war, ein elektrophysiologisch einwandfreies EKG mit nur drei von Olives Extremitäten zu bekommen, da das eine Bein ja in der Leichenhalle in einer Tonne lag. Wie sollte ich davon nicht beeindruckt sein? Sieben und ich, stolzer Sohn und stolzer Vater, gingen runter in die Orthopädie.
Unsere Olive lag in ihrem persönlichen Ortho-Dschungel aus Seilen, Stäben, Schellen und Ketten verstrickt. Ein Nest aus weißem Haar barg ihren kahl werdenden Schädel. Weißhäutig und mit geschlossenen Augen atmete sie ruhig und erfreute sich ihrer vorletzten Ruhe. Vom Kopf bis zu den zehn Zehenspitzen war sie in Frieden. Zehn Zehen? Ich deckte ihre Füße auf und zählte die Zehen. Zehn. Ich zählte die Füße. Zwei. Beine? Zwei. Ich holte Sieben an ihr Bett, und gemeinsam zählten das kleine Mathematikgenie und ich:
»Also los, zählen wir die Beine: Eins …«
»Ich finde das nicht komisch,« sagte Sieben. »Ich kann zählen.«
»Nun, was ist dann passiert?«
»Ich hab die falsche Akte erwischt.«
»Du hast dir die Patientin nicht angesehen?«
»Doch, hab ich«, sagte Sieben. »Ich hab sie mir angesehen, ich habe nur das andere Bein nicht gesehen, das ist alles. Ich war mental auf ein Bein eingestellt, nicht auf zwei.«
»Na toll«, sagte ich. »Das erinnert mich an eine berühmte Hausregel: Zeige mir einen BMS, der meine Arbeit nur verdreifacht, und ich werde ihm die Füße küssen.«
Das Seltsame an Olive waren ihre Höcker. Als ich mit den Augen einen kurzen Ausflug in den Bereich ihres Körpers machte, bemerkte ich unter dem Laken zwei Vorwölbungen im Bereich des Oberbauchs. Neugierig versuchte ich mir vorzustellen, was das sein könnte. Brüste? Kaum. Irgendwelche Wucherungen? Nein. Ich rollte das Laken herunter und das Nachthemd hoch, und da waren sie. Unterhalb ihrer tiefhängenden, flachen Brüste wuchsen zwei Höcker aus ihrem Leib.
Sieben genoß am Fußende des Bettes den Luxus, seine EKG-Kabel an zwei Beinen anlegen zu können. Er blickte hoch. Entsetzen blitzte in seine Augen auf, und er stieß hervor:
»Huch! Was sind das denn … für Dinger?«
»Was meinst du, wonach sehen sie aus?«
»Höcker.«
»Gut, Sieben, sehr gut. Das sind sie auch.«
»Ich habe noch nie was von Höckern bei Menschen gehört. Was ist da drin?«
»Keine Ahnung«, sagte ich und sah meinen eigenen Abscheu in 789 s Augen widergespiegelt, »aber, bei Gott, wir werden es herausfinden.« Und ich fing an, sie zu untersuchen.
»Ooooaah!« sagte Sieben. »Entschuldigen Sie, aber ich … ich fühl mich …«
Ich sah ihn aus dem Zimmer rennen. Ich fühlte mich ebenfalls zum Erbrechen angewidert. Aber das, mein lieber Basch, das hast du in diesem Jahr im House of God gelernt: Wenn du meinst, du mußt dich übergeben, tust du es deswegen noch lange nicht.
Später, im Dienstzimmer entschuldigte Sieben sich dafür, daß ihm schlecht geworden war, und ich sagte, das sei ganz verständlich, er müsse sich diese Höcker auch nie wieder ansehen. Überrascht hörte ich ihn sagen:
»Aber ich würde sie gern untersuchen.«
»Die Höcker? Ich dachte, dir wird davon schlecht?«
»Stimmt, aber dann werde ich eben ein Antiemetikum nehmen, wenn es sein muß. Scheiß der Hund drauf, Dr. Basch, ich untersuche diese Höcker, Sie werden es sehen.«
»Tu, was du willst«, sagte ich. »Trotz der Tatsache, daß du mir nicht sagen konntest, wieviele Beine oder Zehen sie hat, gehört sie von heute an dir.«
»Also, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, Dr. Basch, aber, nun, äh, danke, vielen Dank. Ich brauch’ ein Rezept für Paspertin.«
Wer waren wir schon, daß wir uns einbildeten, wir wüßten, was diese Gomer empfinden, daß wir so scharf darauf waren, sie zu retten? War es nicht lächerlich von uns zu glauben, sie fühlten genau wie wir? So lächerlich wie sich vorzustellen, was ein Kind fühlt? Wir schoben diesen Gomers unsere eigene Angst vor dem Tod unter, aber fürchteten sie sich wirklich vor dem Tod? Vielleicht begrüßten sie ihn wie einen lange verloren geglaubten Vetter, der alt geworden ist aber immer noch vertraut, der zu ihnen kommt, um ihnen die Einsamkeit zu erleichtern, das Versagen der Sinne, den Zorn des halb Erblindeten beim Blick in den Spiegel, in dem er nicht mehr erkennen kann, wer ihm entgegenblickt. Vielleicht war er ihnen ein lieber Freund, ein Erlöser, ein Heiler, der bei ihnen bleibt bis in Ewigkeit, die gleiche Ewigkeit wie die vor langer Zeit, vor ihrer Geburt.
»Weiß du, Roy, ich möcht so richtich stinkreich sein!« sagte Chuck. »Genau das! Vielleich zieh ich im Juli so ’ne Equal-Opportunities-Stiftung auf, um rauszufinden, warum nur wir so tolle Typen sind und sons keiner, wie wär’s?«
»Haßt du die Medizin tatsächlich?« fragte ich.
»Also, Mann, sagen wir mal so: Ich weiß, das hier hasse ich.«
Irgendein Trottel vom Fahrdienst steckte seine Nase herein und brachte die Post. Ich nahm eine Wegwerf-Zeitung in die Hand, Doctor’s Wife, die an Mrs. Roy G. Basch adressiert war. Chuck sah seine Post durch, seine Augen leuchteten auf, und er sagte:
»Dammt! Jetzt fängt das schon wieder an!«
»Was?«
»Die Postkarten. Hier«, sagte er und reichte mir eine Postkarte: Wollen Sie eine lukrative Praxis auf Nob Hill, San Francisco? Wenn ja, schicken Sie die Karte ausgefüllt zurück.
Ich verließ das House of God und fuhr hinaus in die Vorstadt. Vor einem großen viktorianischen Haus mit einem Türmchen hielt ich, öffnete die Tür und begriff plötzlich, warum der Dicke mir nie zuvor sein Haus gezeigt hatte: Ich stand in einem vollen Wartezimmer – das Erdgeschoß war seine Praxis. Der Dicke hatte eine florierende Privatpraxis für Allgemeinmedizin! Die Sprechstundenhilfe begrüßte mich, sagte, daß Dickie ein bißchen später käme und führte mich durch ein Labor und ein Untersuchungszimmer in einen Raum, der aussah wie eine Werkstatt. Da saß ich und wartete. Die Spuren vieler aufgegebener Projekte waren nicht zu übersehen. In einer Ecke lag ein Haufen Linsen, Röhren aus rostfreiem Stahl und handgeschriebene Slogans:
DEIN GANZ PERSÖNLICHES ARSCHLOCH SCHWULE ARSCHLÖCHER, COOLE ARSCHLÖCHER ARSCHLÖCHER AUS FREMDEN KRIEGEN
und schließlich ein besonders rätselhafter Spruch:
EINIGE MEINER BESTEN FREUNDE SIND ARSCHLÖCHER
»Was macht der Analspiegel?« fragte ich, als er hereinkam.
»Ach ja«, sagte Dickie träumerisch, »Dr. Jungs. Eine Idee, deren Zeit vielleicht gerade gekommen ist, eh, Basch? Wenn ich nur die Zeit hätte.«
»Was beschäftigt Sie so sehr?«
»Durchfall.«
»Oh das tut mir aber leid.«
»Nicht bei mir, bei den Veteranen. Haben Sie nichts davon gehört?«
»Nein«, sagte ich und dachte, das sei seine Art, zu dem überzuleiten, was er sagen wollte. »Nein, wir haben uns ja lange nicht gesehen. Darum wollte ich unbedingt …«
»Ja, über einen Monat. So viel ist passiert! Damals hing ich in den Seilen, wußte nicht, ob der Leggo mir den Brief für mein Fellowship schreibt.«
»Ja«, sagte ich und versuchte, zu meinen Gefühlen zu stehen.
»Ich wollte Ihnen sagen …«
»Warten Sie, bis Sie gehört haben, was los ist, Basch. Oh Gott, warten Sie, bis Sie das gehört haben!«
Er setzte sich und fing an, mir zu erzählen, daß er nach den vielen Schlägen wie ein grinsendes Stehaufmännchen wieder hochgefedert war, sah dann aber mein bekümmertes Gesicht und hielt inne.
»Sie sind gekommen, um mir zu sagen, daß es Ihnen leid tut. Ist es das?«
Woher wußte er das? Als ich in diese vertrauten, dunklen Augen sah, spürte ich einen Kloß im Hals. Ich wurde rot vor Scham. Mein Gesicht verzog sich zu einer traurigen Grimasse.«
Ich weiß, ich weiß«, sagte Dickie ruhig. »Wir werden noch Zeit haben, darüber zu reden. Aber, he, ein Typ wie ich kann nicht warten, einem alten-neuen-Freund-Protegé von seiner allerneuesten Goldgrube zu erzählen, oder? Basch, hören Sie auf zu schniefen und hören Sie zu: Gerade jetzt, in diesem Augenblick, geht dieser Durchfall, den ich unabsichtlich entfesselt habe, durch die Därme von Gott weiß wie vielen hunderttausend U.S. Veteranen, reißt die Schleimhäute runter und spült die villae durch den Anus raus. Scheußlich! Erinnern Sie sich an den Colonel, der Sie auf der Intensiven angesprochen hat, um was über mich herauszukriegen?«
»Ja«, sagte ich und sah den Offizier vor mir, der mir alle möglichen Fragen über den Dicken gestellt hatte, und über Jane Does Durchfall, und ob der Extrakt des Dicken sie geheilt hätte. Mitten in unserem Gespräch hatte der Colonel plötzlich einen schmerzvollen Blick bekommen und nach der Herrentoilette gefragt.
»Ja, ich erinnere mich an den Colonel. Der hatte selbst Durchfall.«
»Genau. Das zieht sich durch alle Ränge: NATO, SEATO, es heißt, selbst Tito hat sich das verdammte Zeug eingefangen. Wissen Sie, es ist ein Virus. Bis heute gibt es dagegen nur ein einziges Mittel. Und der eine Erfinder dieses einzigen Mittels ist Dickie.«
»Sie haben ein Mittel gefunden?«
»Mußte ich wohl, ich habe ja schließlich auch die Krankheit erfunden: Es ist der Extrakt. Ein Heilmittel, nicht nur für den Durchfall, sondern auch für die Gastroenterologie-Karriere des Dicken.«
Nachdenklich nahm er eine Linse in die Hand, spielte damit und fragte leichthin:
»Werde ich, wie Lincoln, derjenige sein, der die Därme unserer Nation verbindet? Ich frage Sie als Bürger, Basch, ist es nicht an der Zeit, dieses Durchfall-Watergate hinter uns zu lassen und mit den großen Aufgaben des Weltfriedens zu beginnen?«
»Wieso ist das ein Heilmittel für Ihre Karriere?«
»Oh, nun, der Leggo ist ein Militär, richtig? Und welcher Militär würde nicht springen, wenn ein ranghöherer Militär sagte: Spring. Jeder, Basch, jeder. Das hätten Sie sehen sollen! Wundervoll! Letzte Woche gingen der Leggo und ich zusammen den Korridor hinunter, und ein Arm liegt um meine Schulter, Basch. Ein anderer Arm liegt um seine Schulter, denn zwischen uns geht ein zentnerschwerer Gorilla von einem Vier-Sterne-General der U.S. Army. Hatte das Gefühl, bei einer Parade in einer Bananenrepublik zu sein. Die Colonels haben gewonnen.«
»Also hat er Ihnen doch noch ein gutes Empfehlungsschreiben für Ihr Fellowship geschrieben?«
»Nicht ganz. So erfreut er auch über die Zusage eines großen Gastroenterologie-Forschungsstipendiums für das House war, der Leggo hat seinen Stolz. Er hat gesagt, ich soll meinen Brief selbst schreiben. Er hat ihn unterschrieben. Mein Fellowship ist gesichert.«
»Doch nicht etwa Hollywood?«
»Doch, Hollywood. Der Große Darmangriff auf die Stars!«
Ich war überwältigt. Nie zuvor war mir ein so konsequenter Einsatz von Genie begegnet. Ich kam mir sehr klein vor.
»Dickie, das ist umwerfend. Und Sie haben das ganze Jahr über diese Privatpraxis geführt?«
»Sicher. Seit ich letzten Juli meine Zulassung bekommen habe. Was macht es für einen Sinn, zugelassener Arzt zu sein, wenn man nicht auch ›die Schmerzen der Leidenden lindert‹? Diese Arbeit ist toll, das hier sind meine Nachbarn, meine Leute. JFK hat gesagt: Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern, was du für die Därme deines Landes tun kannst.«
»Es ist also alles so gelaufen, wie Sie es geplant haben?«
»Die Geschichte meines Lebens, Basch: alles wie geplant.«
»Dickie, Sie finden das vielleicht dumm, aber ich bin hergekommen, weil ich sagen wollte, wie leid es mir tut, gegen Sie angegangen zu sein. Und … und um mich zu bedanken.«
»Ist OK, Basch, Sie müssen das nicht sagen …«
»Halten Sie die Klappe, Sie Fettsack, und hören Sie zu!« sagte ich grinsend, und sah, wie er es sich in seiner Pummeligkeit gemütlich machte und dabei dämlich grinste. »Sie haben mich da durchgebracht …«
»Berry hat Sie durchgebracht. Eine tolle Frau. Ich wünschte, ich hätte …«
»Schnauze, Dickie!« rief ich und schmiß ein Stück des Analspiegels nach ihm. »Ich habe in diesem Jahr nach und nach alle anderen fallengelassen, zum Schluß waren nur noch Sie übrig. Und als ich Sie dann letzten Monat auch wegschmiß, krachte alles zusammen.«
»Nein, Roy«, sagte Dickie ernst, »Alles ist zusammengekracht, als Eddie durchgedreht ist und Potts aus dem Fenster gesprungen ist. Keiner von uns ist danach auf den Füßen geblieben.«
»Das ist wahr. Aber Sie haben mir gezeigt, daß man in der Medizin bleiben und trotzdem man selbst sein kann. Daß es neben dem Leggo und Putzel einen anderen Weg gibt.« Ich hielt inne, sammelte mich und sagte: »Dickie, Sie sind phantastisch. Danke. Danke für alles.« Ich schwieg und sah die Freude in seinen ruhigen Augen. Eine Weile saßen wir schweigend da. Dann seufzte ich und sagte:
»Das einzige Problem ist, daß Ihr Weg nichts für mich ist. Ich kann keine Gastroenterologie machen. Ich bezweifle sogar, daß ich überhaupt in der Medizin bleiben kann. Das ist nichts für mich.«
»Sie meinen, Sie können sich kein Organ vorstellen, mit dem Sie den Rest Ihres Lebens jeden Tag zu tun haben möchten?« fragte Dickie sarkastisch. »Nieren? Milz? Rektum? Zähne?«
Mein Vater, der Zahnarzt. Unvorstellbar. Selbst mein Großvater, ein Immigrant, hatte sich auf nichts Bestimmtes festgelegt. Ich erinnerte mich, wie mir meine Mutter von der Zeit erzählte, als ihre Mutter sie und meine Tante Lil mitnahm, um ihm, ihrem Vater, bei der Arbeit zuzusehen: Sie sahen ihn wie eine Biene in einem goldenen Bienenkorb hoch oben am Himmel die blitzenden Bögen und geschwungenen Sonnendurchbrüche am Turm des Chrysler-Buildings bearbeiten. Das war damals das höchste Gebäude der Stadt, vielleicht der Welt. Und jetzt, nach all den Jahren, sollte ich mich für einen Zahn entscheiden?
»Ich kann mir das nicht vorstellen«, sagte ich ohne Hoffnung.
»Ich weiß. Natürlich ist das nichts für Sie.«
»Ja, aber was dann?«
»Sie meinen, ich wüßte es? Was soll’s. Lassen Sie’s krachen. Hauen Sie richtig auf den Putz, Basch. Große Geister wie wir können nicht nur für eine Sache dasein.«
»Ja, aber ich muß mich bald entscheiden«, sagte ich und fühlte mich nach so vielen vorprogrammierten Jahren verirrt und ausgesetzt. »Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
»Machen? Also, in Brooklyn haben wir immer das getan«, sagte Dickie, griff meinen kleinen Finger und hakte seinen hinein.
»Fingerhakeln.«
»Fingerhakeln?«
»Sicher. Das haben wir in Brooklyn gemacht, wenn wir nicht wußten, was wir tun sollten.«
Ein Scherz? Nein, sein Gesicht war ernst und ehrlich. Ich spürte seinen fetten, kleinen Finger in meinem. Plötzlich wußte ich, was er meinte. Das war phantastisch, ein magischer Augenblick. Ein kitzelnder Strom von Gefühl schoß durch mich hindurch. Er hatte meine Leere gespürt und reagiert. Seine Berührung bedeutete, ich war nicht allein. Er und ich waren miteinander verbunden. Ich drückte zurück. Das war Liebe. Was auch immer geschehen mochte, Dickie und ich würden Freunde sein.
Lachend sagte ich:
»Wissen Sie, für ein dickes Kind schwitzen Sie ziemlich wenig.«
»Richtig. Das Leben ist hart, aber auch ein dickes Kind kann an Yom Kippur fasten.«
Berry und ich lachten über den Leitartikel in Doctor’s Wife, ein Beitrag über eine tolle Arztfrau, die »die Wasserbomben im Abendessen eines Arztes entdeckt hatte«, nämlich, daß ihr toller Arztmann zu einem Notfall gerufen wird, der ihn solange fernhält, bis das Essen kalt geworden ist. Sie hatte nun eine »narrensichere Methode« herausgefunden, um »Roastbeef für Stunden köstlich rot zu erhalten«, indem sie es in Alufolie wickelte und auf einer Wärmeplatte lagerte. Ich erzählte Berry von meinem Rückzug auf das obere Bett und fragte sie, ob sie glaube, daß dies wieder eine Regression sei.
»Nein, ich denke, das ist Integration, du versuchst herauszufinden, was du mit dir anfangen sollst. Jetzt, da du weißt, du kannst Arzt sein, hast du die Möglichkeit, die Medizin abzuwerfen und weiterzugehen. Was hast du vor?«
»Mit dir in Frankreich Ferien machen. Vielleicht nehme ich ein Jahr frei.«
»Aber was wirst du im Juli dem Leggo sagen?«
»Ich weiß nicht. Ich habe das alles hier gehaßt. Das ganze Jahr hat mir gestunken.«
»Nicht ganz. Dickie, die Polizisten, deine Freunde, die hast du gemocht. Und du hast deinen Ambulanzpatienten gern zugehört, stimmt’s?«
»Solange ich nichts Medizinisches machen mußte, war es schön.«
»In der Notaufnahme bist du von Cohen, dem Psychiatrie-Resident fasziniert gewesen.« Dann fragte sie mit lockender Stimme: »Warum wirst du nicht Psychiater?«
»Ich?« sagte ich überrascht. »Ein Seelenklempner?«
»Du.« Sie sah mir direkt in die Augen und sagte: »Menschen beizustehen, das hat dich dieses Jahr bei der Stange gehalten, Roy. Und Beistehen ist der Kern der Psychiatrie.«
Klick. In meinem Kopf machte es klick, und ich bat sie, noch einmal zu wiederholen, was sie gesagt hatte.
»Beistehen ist der Kern der Psychiatrie. Du hast dich in einem leicht schrägen Winkel zum Universum immer am wohlsten gefühlt. Psychiatrie ist vielleicht genau das Richtige für dich.«
Beistehen. Klick. Der sterbende Dr. Sanders hatte gesagt, Ärzte müßten Patienten beistehen.
»Du meinst, Patienten beistehen?«
»Ich meine beistehen«, sagte sie. »Auch deiner Familie.«
Familie? Meinem Großvater, in ein Heim abgeschoben, um dort zu verrotten; meinem Vater?
… Es gibt nichts Schöneres, wenn Du krank bist, als daß ein geliebter Mensch bei Dir ist, und ein guter Arzt kann diese Rolle übernehmen …
»Du meinst, Psychiatrie habe dem Patienten tatsächlich etwas zu bieten? Und daß sie sich darin von der Medizin unterscheidet, daß sie tatsächlich heilen kann?«
»Manchmal. Wenn du ein Leben früh genug erwischst, ja.«
»Worauf es ankommt, ist also, daß du den Patienten etwas bieten kannst?«
»Nein. Du kannst dir selbst etwas bieten.«
»Was kannst du dir selbst bieten?« fragte ich verblüfft.
»Wachstum. Statt zu vergessen, versuchst du, dich zu erinnern. Statt defensiver, zwanghafter Oberflächlichkeit versuchst du, offener zu werden, lockerer, tiefer. Du wirst kreativ. Dein einziges Werkzeug als Therapeut bist du selbst, wer du bist und wer du werden kannst.«
Es fiel mir schwer zu denken. Irgendwie klärte sich etwas in dem Chaos. Ich könnte jemand werden, den ich nicht verachten würde? Könnte aus der Falle der Vergangenheit entkommen, in der ich sonst sitzen und meine Erinnerungen nach Nebensächlichkeiten durchkämmen würde? Mein Ausweichen, mein Explodieren, meine Verachtung loswerden? Erregt fragte ich, ob es etwas gäbe, was ich dazu lesen könnte.
»Freud. Fang an mit Trauer und Melancholie. Darin sagt Freud: ›Der Schatten des verlorenen Objekts fällt über das Ego.‹ Du hast ein ganzes Jahr unter diesem Schatten gelebt.«
»Welchem Schatten?«
»Deinem eigenen.«
Mein Hort an Menschlichkeit, meine Berry. Wie sehr war meine Liebe zu ihr in diesem vernichtenden Jahr gewachsen, zu meiner hingebungsvollen, sorgenden, klarsichtigen, sanften Berry.
»Ich liebe dich«, sagte ich. »Ich habe diesen Alptraum überlebt, weil du mir beigestanden hast.«
»Ja, zum Teil. Und du hast recht, dieses Internship war wie ein Traum-Thema, wie die übermächtigen Alpträume der Kindheit: Aggression, Angst vor Vergeltung, und dann die Auflösung, bei der du nicht gewinnst, sondern lebst. Alles nach dem Ödipus-Thema: Mutter, Vater, Kind.«
… Ich hoffe, du schließt gut ab und freust dich, daß diese Erfahrung nun hinter dir liegt. Konnte deine Behauptung nicht verstehen, daß Du jetzt mit allen medizinischen Problemen fertig wirst; es gibt doch noch so viel zu wissen. Bin sehr besorgt über die weltweite wirtschaftliche Situation, ich meine, die Unfähigkeit der Welt, den Verstand zu benutzen, um Inflation und Finanzkrise zu meistern, und es lohnt sich nicht einmal, Geld auf der Bank zu haben. Ich weiß nicht, was Mutter Dir erzählt hat, aber ich weiß, es war etwas Grundsätzliches und Richtiges. Ich weiß, Du kümmerst Dich um uns wie ein Sohn und daß sich dies nie ändern wird. Entfernung und Umstände haben uns daran gehindert, in näherem Kontakt zu bleiben, und das ist unvermeidlich in dieser Zeit. Würde gern mit meinem Sohn Nummer eins wieder Golf spielen, aber das ist nur eine Hoffnung. Mom hat einen so kurzen, kontrollierten Schlag, und das ist vielleicht ein Anblick. Meine Leidenschaft für das Spiel ist grenzenlos, und es macht mir Spaß …