24
Desillusioniert, wie wir waren, ohne jede Lust, als House Residents weiterzuarbeiten, aber auch ohne zu wissen, was wir sonst machen sollten, brauchten wir Hilfe. Wir wandten uns an den Dicken. Beim Zehn-Uhr-Essen fragten wir ihn, was wir tun sollten.
»Wie meint ihr das?«
»Welche Fachrichtung wir am ersten Juli einschlagen sollen.«
»Macht doch, was man heute überall macht«, sagte Dickie, »macht ein Kolloquium. Das klappt immer.«
»Worüber?« fragte Eddie, dessen Augen von den Beruhigungsmitteln ein wenig stumpf waren.
»Über Wie wähle ich meine Fachrichtung, was sonst?«
»Wer zum Teufel soll das leiten?« fragte der Kleine.
»Wer?« fragte Dickie grinsend. »Ich natürlich. Der Star des Großen Darmangriffs auf die Stars.«
Es sprach sich schnell herum. Zu unserem Kolloquium erschienen Interns und BMS von überall aus dem House of God. Selbst Gilheeny und Quick waren da.
»Das Konzept unserer medizinischen Ausbildung steht auf dem Kopf«, begann der Dicke in dem überfüllten Raum. »Zu dem Zeitpunkt, an dem uns klar wird, daß wir keine Fernsehärzte werden, die vollbusige Schönheiten ausziehen, sondern Ärzte des House of God, die Gomers ausräumen, haben wir schon zu viel investiert, um aufzuhören, und stehen da wie ihr armen Schweine jetzt: Wir sitzen fest. Die Ausbildung sollte anders herum aufgezogen werden: Am ersten Tag ihres Studiums sollten die kotzenden BMS ins House of God gebracht und mit ihren Nasen auf Olive O. gestoßen werden. Potentielle Chirurgen würden durch ihre Höcker abgeschreckt, potentielle Superinternisten durch ihre Laborwerte, mit denen sie eigentlich gar nicht leben dürfte, und dadurch, daß es weder möglich ist, sie zu heilen, noch sie sterben zu lassen. Selbst potentielle Gynäkologen sollten einen Blick auf ihr zukünftiges Fachgebiet werfen und rechtzeitig in die Zahnmedizin überwechseln. Und dann, und wirklich erst dann, sollten die, deren Nerven und Mägen noch stark genug sind, ihr vorklinisches Jahr beginnen.«
Wie erwartet, war er brillant. Aber was hatten wir jetzt davon?
»Aber was habt ihr jetzt davon? Ihr habt bereits investiert und sitzt also in der Falle. Richtig? Nun, es gibt viele verschiedene Fachgebiete zur Auswahl. Die meisten fordern den gleichen engen Kontakt mit den Patienten, den ihr dieses Jahr über gehabt habt: Anfassen, gequält werden und von den Nachtdiensten fast umgebracht werden, das sind die PB, Patienten-Betreuung-Fachrichtungen, die werden wir heute nicht besprechen. Die Masochisten mögen also gehen.«
Niemand ging.
»Ich selbst werde eine PB-Fachrichtung einschlagen. Gastroenterologie. Ich habe meine Gründe. Ich bin ein ganz besonderer Fall. Da, wo ich hingehen will, ist Gastroenterologie das Beste für mich. Ein seltenes Geschenk, eh? Richtig. Aber es gibt sechs KPB, Keine-Patienten-Betreuung-Fachrichtungen, nur sechs: Radiologie, Anästhesie, Patho, Derma, Augen und Psychiatrie.«
Der Dicke schrieb die sechs an die Tafel und sagte, er wolle nun mit uns die Vor- und Nachteile jeder einzelnen Fachrichtung auflisten.
»Spieltheorie« nannte er das. Die Tabelle sollte die Wahl unserer Fachrichtung »optimieren«.
»Zuerst«, sagte Dickie, »Radiologie. Vorteile?«
»Kohle«, sagte Chuck. »Dickes Geld.«
»Genau«, sagte Dickie, »ein wahres Vermögen. Andere Vorteile?«
Außer, daß es angeblich ein KPB-Fach war, fielen keinem andere Vorteile ein, und Dickie fragte die Nachteile ab.
»Gomers«, sagte ich. »Kolonpassagen bei Gomers.«
»Narkolepsie«, sagte Hooper, »man arbeitet immer im Dunkeln.«
»Keimdrüsen«, sagte der Kleine. »Röntgenstrahlen können dein Sperma braten. Dein erstes Kind hat ein Auge, zwei Zähne und acht Finger an jeder Hand.«
»Entzückend!« sagte der Dicke und schrieb alles auf. »Männer, wir kommen vorwärts!«
Schließlich hatten wir eine Tabelle der KPB-Fachrichtungen zusammen:
Fachrichtung |
Vorteile |
Nachteile |
Radiologie |
Geld (100 Riesen im Jahr) |
Gomers, dunkle Arbeitsräume, Narkolepsie, Keimdrüsenschäden, achtfingerige Kinder, Bariumeinläufe und Große Darmangriffe. |
Anästhesie |
Geld (100 Riesen im Jahr) |
Gomers, von Panik durchsetzte Langeweile. Astronomische Beiträge für Kunstfehler-Versicherungen. Ungesunde Narkotika, die zu bizarrer Persönlichkeit führen. Tägliche Mißachtung durch den Chirurgen. |
Pathologie |
Keine lebendigen Körper; niedrige Beiträge für Kunstfehler-Versicherungen |
Gomers (selten); Leichen, Formalingeruch, Büro im Keller. Täglich Mißachtung von allen, außer von Pathologen. Depression. |
Dermatologie |
Geld (100 Riesen im Jahr). Reisen zu sonnigen Tagungsorten. Nackte Haut (Attraktion) |
Gomers; nackte Haut (Ekel) Ansteckung. |
Ophthalmologie |
Astronomisches Einkommen (Millionen); Gelegenheit, die Anästhesie zu ärgern. |
Gomers. Astronomische Summen für Kunstfehler-Versicherung. Chirurgisches Internship erforderlich. Gelegentlich PB. |
Psychiatrie |
Keine Gomers, niemals Körperberührung, außer bei sexähnlicher Therapie. Gut für die Füße. Lange Mittagszeit. Erotik, Autoerotik, Perversion, Polierotik, Voyeurismus und mehr. |
Stundenhonorar; belastend für die Lendenwirbelsäule; Vorwürfe von rechts: Kommunisten, Verrückte, Perverse; Mißachtung von allen Ärzten, außer denen in Therapie. |
Am Ende des Kolloquiums des Dicken war die Überraschung perfekt: auf dem Papier war die Psychiatrie die absolute Gewinnerin.
Auf unserem Kanutrip kam Psychiatrie sogar noch toller heraus. Chuck hatte diesen letzten Intern-Ausflug organisiert. Und an einem hellen Sommertag mit leichtem Wind meldeten wir uns bei den Residents im House of God ab, luden das Bier ein und fuhren an die Küste, in die Ausläufer des Marschlands zum Tidenfluß, der sich durch das Grasland zum Meer windet. Wir paddelten faul den Fluß hinunter, und Berry und ich befanden uns schließlich in einer Wettfahrt mit den beiden Polizisten um den letzten Platz. Gilheeny, wie eine große, rotgefiederte Stockente am Bug seines Kanus, fluchte ständig auf seinen Ruderer Quick, während ihr schwankendes Boot mal das eine, mal das andere Ufer rammte. Und doch, was hätte schöner sein können, als dahinzugleiten, kühles Bier zu trinken, nach hinten auf den tiefen Bariton des Rotschopfs und den standhaften Tenor seines Freundes zu lauschen, die »Eine Elegie von der Grünen Insel« hervorschmachteten?
Zum Picknick legten wir an einer Insel an. In einem von Schatten gesprenkelten Kiefernhain scharten wir uns um Berry. Sie hörte sich unsere Klagen an und stimmte uns zu, daß dieses Jahr das reine Grauen gewesen war.
»Es ist unmenschlich gewesen«, sagte sie. »Kein Wunder, daß Ärzte den bittersten, menschlichen Dramen so distanziert gegenüberstehen. Die Tragödie liegt nicht in der Kraßheit, sondern im Mangel an Tiefe. Die meisten Menschen haben irgendeine menschliche Reaktion auf ihre tägliche Arbeit, Ärzte nicht. Es ist ein unglaubliches Paradoxon, daß der Arztberuf so degradierend ist und gleichzeitig von der Gesellschaft so hoch eingestuft wird. In jeder Gemeinschaft sind die Ärzte die angesehenste Gruppe.«
»Du meinst, das ist alles nur eine Täuschung?« fragte der Kleine.
»Ja, eine unbewußte Täuschung. Eine schreckliche Verdrängung, die dazu führt, daß Ärzte wirklich glauben, sie wären allmächtige Heiler. Wenn ihr euch sagen hört: Nun, so schlimm war das Jahr auch wieder nicht, dann ist das Verdrängung, um die nächste Gruppe ins Feuer zu schicken.«
»Also warum, meine kluge Frau«, sagte Gilheeny, »warum tun diese feinen, jungen Männer sich das überhaupt an?«
»Weil es so schwer ist, nein zu sagen. Wenn man seit seinem sechsten Lebensjahr darauf programmiert ist, Arzt zu werden, und dafür Jahre investiert, wenn man darauf getrimmt ist, repressive Fähigkeiten zu entwickeln, so daß man nicht einmal mehr sagen kann, wie elend man sich während des Internships gefühlt hat, dann kann man nicht mehr aufhören. Kann ein Star mitten im Spiel einfach aufhören? Niemals.«
Sie hatte recht. Was sollten wir dazu sagen. Wir saßen still da, in uns gekehrt, verschüchtert, während die Schatten des Nachmittags länger wurden. Berry beantwortete einige Fragen über Psychiatrie, und als wir begriffen, was sie sagte, machte sie aus unserem Picknick eine Art Gruppentherapie. Das Thema war Verlust.
»Was für Verluste meins du alles?« fragte Chuck.
»Was jeder von euch in diesem Jahr verloren hat. Aus erster Hand weiß ich es nur von Roy, aber ich habe von den EKs und BKs gehört und von Eddies … Zusammenbruch …« Sie machte eine Pause und fuhr dann mit bebender Stimme fort.«
Und von Potts. Ihr habt Potts verloren. Wenn ihr diesen Verlust wirklich gespürt hättet, würdet ihr noch immer weinen. Ihr werdet von euren Schuldgefühlen gequält, Schuldgefühle, weil ihr die liebenden und geliebten Teile in euch abgetötet habt.«
Im dunkel werdenden Hain hing das Schweigen düster wie ein Leichentuch über uns. Ich spürte ein Würgen im Hals. Was hatte ich abgetötet? Tage wie diesen, meine Kreativität, meine Fähigkeit zu lieben. Dunkelheit. Stagnation. Untergang. Als die Sonne hinter den sich rötenden Hügeln gerann, fragte Gilheeny schließlich leise:
»Diese Männer sind verwundet. Kann man noch etwas für sie tun?«
»Schuld ist wie eine heiße Kartoffel, wer sie festhält, verbrennt sich. Ihr alle brennt langsam vor euch hin. Gebt sie weiter. Werdet zornig. Gebt sie denen zurück, die euch infantil gemacht haben. Gibt es einen Psychiater im House, mit dem ihr reden könnt?«
Es gab einen, Dr. Frank, der Psychiater vom BM-Essen an unserem ersten Tag im House of God. Er hatte Selbstmord erwähnt, und der Fisch hatte ihn abgewürgt. Er blieb das ganze Jahr hindurch abgewürgt. Warum? Wir gingen zurück zu den Kanus und glitten auf die Geräusche des Ozeans zu. Jeder fragte sich, was er wohl verloren hatte, und ob dieser Dr. Frank ihm helfen könnte, es wiederzufinden, und, als schließlich die Glühwürmchen ihren Tanz begannen, wie er diese Wut nehmen und sie denen hinknallen konnte, die jedem von uns etwas weggerissen hatten, diesen Räuberbaronen, diesen Bossen des Verlusts.
Ich hatte diese Nacht Dienst und kam mit Blasen an den Händen von der Kanutour zurück. Meine Trunkenheit wurde langsam zum Kater. Ich war beunruhigt über das, was Berry gesagt hatte und war wütend darüber, wieder im House of God zu sein. Es war heiß und feucht, und meine Verschwitztheit brachte Erinnerungen an den schrecklichen Sommer zurück, den ich als neuer Intern vor einem Jahr durchlebt hatte. Alles Mögliche war passiert. In der Notaufnahme wartete ein Patient auf mich. Er entpuppte sich als außerordentlich, weil er Versöhnung brachte.
Pearl begrüßte mich und wollte mich vor diesem besonderen Patienten warnen, aber mir war nicht danach, ich nahm die Klemmappe und las:
»Nathan Zock, 63; blutiger Durchfall; ?; gutartige Wucherung.«
Kein Wunder, daß Pearl vorher mit mir hatte sprechen wollen. Zock von den IIS-Zocks und dem Zock-Flügel, der den Sommer aus meinem Dienstzimmer rausgehalten hatte.
Irritiert betrat ich das Zimmer, Pearl dicht auf meinen Fersen. So viel Fleisch hatte ich noch nie auf einem Haufen gesehen!
Sechs rinderhafte Zocks, aufgeblasene Fleischklöpse, wankten um die Trage herum, mampften, lutschten, saugten, schmatzten und schluckten in einem Tribut an Freuds orales Entwicklungsstadium. Glitzernd vor Brillanten stellte Pearl mich Nate Zocks fetten Kindern vor, und war gleichzeitig bemüht, sie von der Trage zu vertreiben, auf der angeblich Nate Zock lag. Als sie zurückwichen, kam unter ihnen eine Papageienfrau mit bösen Augen, kreidiger Stimme und künstlichem schwarzen Haar zum Vorschein, die, als sie meinen Namen hörte, sagte:
»Nun, mein junger Dr. Kildare, es wird auch Zeit …«
»Trixie«, kam eine strenge Stimme von der Trage, »sei still!«
Sie war still. Dort auf der Trage lag Nate, ein gummigesichtiger Sechziger, ein bißchen schnapsnasig, Wohlstand in den Gesten und Entschiedenheit in der Miene. Selbst inmitten dieser Herde war er gelassen. Pearl stellte mich vor und ging. Sofort wurde ich von den Nicht-Nate-Zocks bedrängt. Jeder wollte gefüttert werden, mit Diagnose, mit Prognose und dem neuesten Lagebericht zu dem sich anbahnenden Notfall: daß Nate am Ende nicht das beste Zimmer im House of God bekommen könnte. Darauf hackte vor allem Trixie herum und schrie mir ständig den Namen Zock ins Ohr und:
»Wissen Sie eigentlich, wer Nate Zock ist? Haben Sie mal was vom Zock-Flügel gehört?«
Nachdem sie ungefähr drei Minuten lang an mir herumgesabbert hatten, reichte es mir, und ich sagte laut:
»OK, alle außer Nate verlassen jetzt das Zimmer!«
Schock. Keiner rührte sich. Wie konnte jemand wagen, so mit den Zocks zu sprechen?
»Einen Augenblick mal, mein junger Dr. Kil …«
»Trixie, halt die Klappe und geh raus!« sagte Nate, und wenn Nate sprach, hörten selbst die anderen Zocks zu. Das Zimmer leerte sich rasch. Während der Untersuchung sagte Nate:
»Sie sind zu fett. Wir haben alles versucht, aber es half nichts. Wissen Sie, Dr. Pearlstein hat mir von Ihnen erzählt, Dr. Basch, er hat mich gewarnt, er hat gesagt, Sie seien ein zäher Bursche, ich sollte nicht versuchen, mich mit Ihnen anzulegen. Sagte, Sie seien sehr gut, aber sehr direkt. Das gefällt mir. Ärzte sollten stark sein. Wenn man so reich ist wie ich, fassen einen die Leute nicht hart genug an.«
Ich nickte, fuhr mit der Untersuchung fort und fragte ihn, was er geschäftlich mache.
»Schrauben und Muttern. Hab während der Depression mit fünfhundert Piepen angefangen, und jetzt... Millionen. Schrauben und Muttern, nicht das beste, aber das meiste.«
Ich sagte ihm, daß sein blutender Darm wahrscheinlich heilen würde, wenn wir möglichst wenig damit anstellten. Als ich fertig war, steckte Trixic ihren Kopf herein. Sie war empört darüber, daß Nate tatsächlich nur das zweitbeste Zimmer des House of God bekommen würde. Nate riet ihr, zu verschwinden.
»Na und? Ich bekomme sonst immer das beste Zimmer. Niemand besucht dich im besten Zimmer. Also lebe ich eben mal eine Nacht lang primitiv, was ist dabei? So geht es diesen Kindern, immer das Beste, und dann? Fett. Verdammt zu fett.«
789 hatte einen harten Tag gehabt. In einem Labyrinth von Untersuchungen verfangen, die Olive O.s Private angeordnet hatte, Klein-Otto, dessen Name in Stockholm immer noch – immer noch! – keinem ein Begriff war, hatte er die Hoffnung aufgegeben, je mit den Höckern weiterzukommen. Bei seiner ersten Aufnahme des Tages hatten er und der Radiologie-Resident auf der Röntgenaufnahme des Brustkorbs etwas Auffälliges gesehen. Als er mir den Fall vorstellte, verschreckte ich ihn mit einer Hausregel: Wenn der Radiologe und der BMS etwas Auffälliges auf einer Thoraxaufnahme sehen, kann dort nichts Auffälliges sein. Obwohl 789 nicht nachgab, stellte sich heraus, daß es das Armband der technischen Assistentin war, und Sieben brach zusammen. Ich versuchte, ihn aufzumuntern, aber es brachte nichts, und ich gab es auf. In dieser Nacht wollte ich bei niemandem mehr etwas versuchen.
»Sieben«, sagte ich und schwang mich vom oberen Bett ins untere. »Ich will jetzt schlafen. Ich möchte, daß du dein OP-Zeug nimmst und es gleich anziehst, damit du nachher hier nicht reinplatzt und herumkramst, das Licht anmachst und mich weckst.«
Mit halbgeschlossenen Augen sah ich den kleinen, bärtigen Gelehrten sich ausziehen, seinen pickeligen und schon schlaffen Körper im Neonlicht entblößen, rasch in seinen leichengrauen OP-Kittel schlüpfen und innehalten. Ich fragte ihn, was los sei. Nach einer für ihn typischen, gedankenvollen Pause sagte er:
»Dr. Basch, ich habe in dieser Nacht noch einige Stunden Arbeit vor mir und Sie nicht. Wieso gehen Sie immer schlafen, und ich bin immer wach?«
»Ganz einfach. Du bist Mathematiker, richtig? Ich bekomme ein festes Gehalt von der BMS, egal wie viele Stunden ich auf bin. Du zahlst eine feste Studiengebühr an die BMS, egal wie viele Stunden du auf bist. Also, je länger ich schlafe, um so mehr verdiene ich pro wache Stunde, und je mehr du wach bist, desto weniger zahlst du pro wache Stunde. Kapiert?«
Pause. Dann Siebens q.e.d.: »Sie werden also fürs Schlafen bezahlt, und ich zahle, um wach zu bleiben.«
»Du hast es erfaßt. Mach das Licht aus, wenn du gehst, sei ein guter Junge. Oh, und vergiß nicht: Nate Zock ist kein BMS-Fall. Wenn du mit ihm sprichst, und wenn du nur Hallo, Nate oder Hallo, Mr. Zock sagst, bist du tot. Gute Nacht.«
Ich hörte das ataktische Schlurfen des kleinen Gelehrten, spürte seinen verstörten Blick auf mir ruhen, und dann ging das Licht aus, und ich schlief ein.
Am nächsten Morgen hatte sich etwas verändert. Eine kleine Epidemie war ausgebrochen. Niemals hatte es so etwas im House of God gegeben. Es begann als Geflüster, als Tröpfeln, ein kleines Leck in einem Damm. Dann breitete sich die Epidemie aus und bestand bald aus vielen Flüßchen, die um viele Insein flossen, lauter und lauter rauschten, dann zum Heulen eines Stroms wurden, der auf das Meer zurauscht. Plötzlich waren fünf von uns Interns von psychoanalytischem Gedankengut infiziert. Wir fingen an, uns selbst für die Möglichkeit zu frisieren, am ersten Juli in eine Residency in Psychiatrie abgeschoben zu werden.
Gemeinsam fingen wir fünf an, Trauer und Melancholie zu studieren. Wir suchten Dr. Frank auf, der anfangs erfreut war über Eddies Interesse an einer Residency in Psychiatrie im House, der aber, als noch vier weitere von uns folgten, mit der Neuigkeit zum Leggo rannte. Wir ordneten bei unseren Patienten psychiatrische Konsile an und nahmen an psychiatrischen Visiten teil. Unsere schmutzige, weiße Uniform war auffällig inmitten der psychiatrischen Modenschau, und unsere rudimentären Fragen über Wut, Verlust und Schuld zeigten unsere Unwissenheit. Bei einer Fall-Besprechung zu einer seltsamen Autoimmunerkrankung überraschte uns Hooper mit einer psychoanalytischen Interpretation, die auf Freuds Todessehnsucht basierte. Eddie, der immer noch mit Hooper um die Wette der angeblichen Schwarzen Krähe nachjagte, war beglückt, Freud so sehr mit Analsadismus befaßt zu sehen, und entwickelte einen Tic der Gesichtsmuskulatur. Chuck fuhr auf die Idee der passiv-aggressiven Persönlichkeit ab und entdeckte seine pathologische Verbundenheit mit seiner Mama, während sein Papa bei der Arbeit Cowboy-Romane gelesen hatte.
»Mann, dassis echt’n Wunder, dassich nich schwul bin, weil, alles in meiner Erziehung is darauf angelecht, dassich ne Schwuchtel werd.«
Der Kleine tauchte natürlich am tiefsten in die Werke dessen ein, den der Dicke »den Überflieger aus Wien« nannte. Er wollte unbedingt wissen, weshalb zum Teufel er Angel das alles mit seinem Gesicht machen ließ, und sagte mit benommenem Gesichtsausdruck:
»Heiliger Strohsack, ist da aber was nicht in Ordnung mit mir!«
Ich analysierte mich selbst auf dem oberen Bett und verstaute die einzelnen Stücke, die ich von mir fand.
Es kam der Tag der »Was mag die Zukunft bringen«-Plauderei mit dem Leggo. Er hatte von der Epidemie gehört und sie geringschätzig abgetan. Er hatte keinerlei Zweifel, was unsere Zukunftspläne anging: ein Jahr Residency im House. Bis zum Juli war es kein ganzer Monat mehr, und für ein ganzes Jahr mußten Nachtdienstlücken für die Residency gefüllt werden. So war der Leggo etwas überrascht, als der Kleine, Hooper und Eddie nacheinander sagten:
»Nun, Sir, ich möchte meine Residency in Psychiatrie machen.«
»Psychiatrie?«
»Ja, Sir, ab ersten Juli.«
»Aber das geht doch gar nicht. Wir haben doch vereinbart, daß Sie für Ihr Residency-Jahr in der Inneren bleiben. Ich rechne fest mit Ihnen, mit Ihnen allen, damit, daß Sie bleiben.«
»Ja, aber sehen Sie, es ist mir ein echtes Bedürfnis. Da sind viele Dinge aufzuarbeiten, und einiges, Sir, nun, das kann nicht warten.«
»Aber Ihr Vertrag sagt …«
»Es gibt keinen Vertrag, erinnern Sie sich?«
Der Leggo erinnerte sich nicht, daß das House es abgelehnt hatte, uns Verträge zu schreiben. Auf diesem Weg glaubten sie, uns völlig legal wie Scheiße behandeln zu können, und er fragte:
»Keinen Vertrag?«
»Nein. Sie haben gesagt, wir bräuchten keinen.«
»Das habe ich gesagt? Hmmm …« sagte der Leggo und sah aus dem Fenster. »Nun, niemand braucht einen Vertrag. Niemand.«
Als Chuck »Psychiatrie« als Berufsziel nannte, brach es aus dem Leggo heraus:
»Was!? Sie auch?«
»Im Ernst, Chief, was dieses Land braucht, ist ein hochkarätiger, schwarzer Seelenklempner, finden Sie nicht?«
»Ja, aber … aber Sie haben doch bisher so gut in der Inneren gearbeitet. Aus der Armut des ländlichen Südens, Ihr Vater Nachtwächter, nach Ober …«
»Genau, Mann, genau. Hören Sie sich das mal an: Heute war ich in meiner Ambulanz, und diese Göre hat ’ne totale Wut auf mich und schmeißt dieses Lehrbuch quer über’n Tisch und trifft mich am Ohr. Und statt ihr eine zu knallen, sach ich: Hmmm, Mädchen, du bis wohl böse, häh? Da wußtich, ich muß übers Klempnern nachdenken. Morgen rede ich noch mal mit Dr. Frank, ob ich sclbs in Analyse geh.«
»Aber Sie können unmöglich diesen Juli anfangen. Ich brauche Boys wie Sie.«
»Boys? Haben Sie Boy gesagt?«
»Nun, ich … Was ich meinte, ist …«
»Soll ich jetzt Roy reinschicken?«
»Basch? Hmmm. Sie kennen nicht zufällig seine Pläne für die Zukunft, oder?«
»Jap.«
»Psychiatrie?«
»Genau.«
»Ja, also, nein, Sie brauchen sich nicht zu bemühen, Roy hereinzuschicken.«
Also rief er mich nicht. Trotz Berrys Formulierung, daß der Leggo nichts dafür konnte, daß auch er vom System kaputt gemacht worden war, war ich zu zornig, um ihn nicht als kleinen Nixon zu sehen, der von uns in die Enge getrieben wurde wie Nixon wegen der Tonbänder von Sirica und dem Obersten Gerichtshof. Hätte das nicht auch der Leggo gewesen sein können, der mit St. Clair am Bug der Yacht Sequoia in Mount Vernon steht, den Klängen der Schiffsglocken und der Nationalhymne zuhört, und als es vorüber ist, betrunken ausspuckt: »Sie zahlen dir nur Pfennige und Groschen, aber wegen dem hier lohnt es sich«?
Berry hatte recht, es war erbärmlich. Aber diese erbärmlichen Männer waren auch mächtige Männer, und bald fing der Leggo an, uns Druck zu machen, damit wir blieben. Über den Fisch machte er zuerst mit Anspielungen, dann mit klaren Drohungen deutlich, daß wir unsere Pläne für die Zukunft und unsere Karriere »ernstlich, wirklich ernstlich gefährdeten«, wenn wir im Juli gingen. Wir gaben nicht nach. Der Leggo wurde gemeiner. Verwundbar und machtlos, wie wir waren, wurden wir wütender und wütender. Als der Juli näherkam und alle seine Versuche fehlgeschlagen waren, geriet der Leggo in Panik.
Keiner von uns wußte, was er tun würde.