Vorwort
Wir erwarten das Unmögliche von Ärzten. Aus unserer eigenen Not heraus verehren wir sie. Wir glauben, ihre Ausbildung, ihr Wissen und die heilige Hingabe an ihren Beruf haben jede Unsicherheit, jedes Zaudern und jeden Ekel ausgemerzt, die wir empfänden, wären wir an ihrer Stelle, sähen wir, was sie sehen und was sie heilen sollen. Blut und Erbrochenes und Eiter stoßen sie nicht ab; Senilität und Demenz erschrecken sie nicht; es macht ihnen nichts aus, in die glitschigen Schlingen innerer Organe zu greifen oder mit Krankem und Ansteckendem umzugehen. Für sie ist das Fleisch und seine Krankheiten etwas Abstraktes, das kühl schematisiert wird und rasch in unfehlbare Diagnosen und effektive Behandlung umgesetzt wird. House of God ist ein Buch, das uns diese Illusion nimmt. Es zeigt die medizinische Ausbildung, wie Catch-22 das Leben beim Militär zeigte, als Farce, als ein Treiben von Stümpern, die unter korrupten und oberflächlichen Vorgesetzten mit undurchsichtigten Zielen laborieren. In gewissem Sinn ist House of God bösartiger als Catch-22, denn das Militär hat seit langem Verleumder und Satiriker angezogen (sie sogar gewaltsam eingezogen), während die Ärzte in der Literatur gewöhnlich als gutherzig, oft sogar heldenhaft dargestellt werden und schlimmstenfalls eine drollig-zweifelhafte Effizienz zugeschrieben bekommen, wie der enthusiastische Magus Hofrat Behrends im Zauberberg von Thomas Mann.
Die jungen Interns, Residents und Schwestern, die Samuel Shem uns vorstellt, sind keineswegs unsympathisch. Sie alle bringen einen Rest ihrer ursprünglichen Hingabe mit in das Gruselkabinett ärztlicher Versorgung im Krankenhaus, und der größte Zyniker unter ihnen, der Dicke, ist der Fähigste und Erfahrenste. Unser Held, Roy Basch, erinnert an Voltaires Candide in seiner lebhaften Naivität und seiner – bei aller Hypochondrie dieser hektisch-bekennenden Erzählung – hartnäckigen Gesundheit. Drei Dinge dienen ihm als Fenster, durch die er aus dem klösterlichen Klinik-Tollhaus auf die sonnenbeschienene verlorene Landschaft der Gesundheit hinausblicken kann: Sex, nostalgische Jugenderinnerungen und Basketball. Der Sex ist am bemerkenswertesten und nimmt in den Orgien mit Angel und Molly epische Ausmaße an und erreicht pornographisches Ideal. Ein Blick auf Mollys Unterhöschen wird in einem der vielen stürmischen Ausbrüche der Phantasie dieses Buches zum Segel, das sich im Atem des Lebens wölbt:
Wenn … in dem Augenblick zwischen Hinsetzen und Überschlagen der Beine das phantastische Dreieck aufblitzt, das französische Höschen, das sich über dem flaumweichen mons wölbt wie ein Spinnaker vor den sanften blonden Passatwinden. Obwohl ich medizinisch alles über diese Organe wußte und meine Hände ständig in erkrankten Exemplaren hatte, trotzdem, wissend, wollte ich es, und da ich es mir gesund und jung und frisch vorstellte und blond und daunenweich und prickelnd, wollte ich es um so mehr.
In dem herrschenden morbiden Milieu kommen die Funken von Wollust aus einer Welt, die so fern ist wie die Welt der Briefe von Baschs Vater mit ihren gelassenen, heiter-unlogischen Konjunktionen. Sexuelle Aktivität zwischen Schwestern und Ärzten, den beiden helfenden Berufsgruppen, bedeutet hier gegenseitige Befreiung, Schutz vor dem umgebenden Ambiente von Krankheit und Tod, vor allem Scheußlichen, Jammervollen, Sinnlosen und Abstoßenden des Fleisches. Es ist die Koedukations-Version der labilen Kameraderie der Intern-Novizen: »Wir teilten miteinander etwas Großes, Mörderisches, Gewaltiges.«
Der heldenhafte Ton, zwar nicht so oft und laut angeschlagen wie die spöttische Note, klingt dennoch hörbar und ist vielleicht genauso wertvoll für die Tausende von Interns, die sich die explizit pädagogischen Elemente von Shems deutlich didaktischem Roman zu Herzen nehmen: die dreizehn Regeln, die der Dicke aufgestellt hat; die Doktrinen von der Unsterblichkeit der Gomer und dem heilenden Minimalismus; die Krankenhauspolitik des Abschiebens und Frisierens, der Mauern und Siebe; die Psychoanalyse der kranken Ärzte wie Jo und Potts; das Sperrfeuer medizinischer Zwischenfälle, das zu einem Strom aus Ge- und Verboten anwächst. Es müßte schon ein sehr seltener Fall sein, glaube ich, bei dem es ein Intern der Inneren Medizin mit etwas zu tun bekommt, was nicht schon irgendwo in dieser Bibel der gräßlichen Möglichkeiten angedeutet wurde.
Nützlich bis hin zu seinem nüchternen Glossar, besitzt House of God das Wesentliche eines echten Romans, den Henry James als »Eindruck des Lebens« definierte. Sätze stieben mit überschießender Vitalität davon, wenn Erstlingsautor Shem sich ans Lenkrad der Sprache setzt.
Die Abrißbirne des Zock-Flügels hatte seit zwölf Stunden meine Gehörknöchelchen vibrieren lassen.
Von ihrer zerknitterten Vorderseite, die über die Kerbe zwischen den claviculae hinaus aufgeknöpft war und tiefe Einblicke gewährte, bis zu den vollen, eng zusammengehaltenen Brüsten, vom Rot ihres Nagellacks und ihres Lippenstifts bis zum Blau ihrer Lider und dem Schwarz ihrer Wimpern, sogar bis zu dem glitzernden Gold des kleinen Kreuzes von der katholischen Schwesternschule, war sie wie ein Regenbogen in einem Wasserfall.
Wir waren betroffen, daß jemand in unserem Alter, der mit seinem sechsjährigen Sohn an einem dieser herrlichen Sommerabende Ball gespielt hatte, jetzt nur noch dahinvegetierte, den Schädel mit Blut gefüllt, den ein Chirurg ihm jetzt knacken sollte.
Wir haben hier den verspäteten Bildungsroman des dreißig Jahre alten Roy Basch, den Bericht seines waghalsigen Vorstoßes ins Tal des Todes und in die Wahrheit des Fleisches, der mit der sicheren Rückkehr zu seiner außerordentlich gesunden und gesund-sinnlichen Berry endet. Richard Nixon, der zumindest für Romanautoren faszinierendste Präsident des zwanzigsten Jahrhunderts, und der Watergate-Skandal bilden den historischen Hintergrund des Romans und verlegen ihn in das Jahr 1973–74. Heute könnte House of God wahrscheinlich nicht mehr geschrieben werden, jedenfalls nicht so ungeniert. Sein freizügiger Umgang mit ungezügelten multiethnischen Karikaturen würde mit den geläufigen Termini »rassistisch«, »sexistisch« und »altenfeindlich« zensiert werden. 70er-Jahre-Sex war kein safer Sex; AIDS kommt in der Fülle überdeutlich geschilderter Krankheiten nicht vor; und inzwischen ist ein ganzes Regiment von Organtransplantationen aufmarschiert, um das Repertoire der Chirurgen zu bereichern. Dennoch ist das Anliegen des Buches zeitgemäßer denn je: das amerikanische System der ärztlichen Versorgung steuert auf eine Krise zu, überlastet, überteuert und von schlechter Publicity verfolgt. Die grotesken Beispiele von fatalen administrativen und ärztlichen Kunstfehlern nehmen in den Zeitungen mehr Platz ein als das Feuilleton.
Auf seinem Weg in die zweite Million verkaufter Taschenbuch-Exemplare vermittelt House of God Medizinern weiterhin den Schock der Erkenntnis und bietet ihnen zugleich Trost und Vergnügen bei ihren hippokratischen Bemühungen.
John Updike, April 1995