13

Und damit hatte es sich. Jene Nachtschicht war der Wendepunkt meines Aufenthalts in der Notaufnahme. Der Spaß war vorbei. Die Gemeinheit begann.

Es fing schon an, als ich durch den Warteraum ging und Abe in seiner Ecke allein vor sich hin schaukeln sah, ein Paar seidene Damenschlüpfer auf dem Kopf. Er beschimpfte die Wartenden und sie gaben es ihm zurück. Als er mich sah, hielt er inne, sah mich an, als kenne er mich nicht und fragte:

»Sind Sie Jude?«

»Ja.«

»Wissen Sie, das Problem mit euch Juden ist, daß ihr beschnitten seid.«

Die Schwestern waren entsetzt über Abes Regression und versuchten, Cohen dazu zu überreden, etwas zu tun, um das Unabwendbare zu verhindern, nämlich Abes Abschiebung in eine staatliche Einrichtung. Cohen wirkte gereizt. Die Polizisten würden nicht vor Mitternacht da sein. Flash hatte Urlaub genommen, um per Anhalter zu irgendeinem gottverdammten Loch im langweiligen Bauch der Staaten zu fahren, um dort von seiner geistig zurückgebliebenen, bäuerlichen Verwandtschaft geplündert zu werden.

Ich sah mir einen aufdringlichen Betrunkenen an. Er lallte:

»Ich bin im Großhandel von einer Schubkarre angefahren worden und habe ein Problem mit den Beinen.«

»Wann ist das passiert?«

»Vor sechs Jahren.«

»Das ist kein Notfall. Kommen Sie Montag in die Sprechstunde.«

Er wollte nicht gehen und ich rief Gath. Zusammen versuchten wir, ihn zum Gehen zu bewegen, aber statt dessen wickelte er sein rechtes Bein aus und sagte:

»Hier, sehen Sie sich das mal an, he?«

Als der gelbe, blutverklebte Verband sich löste, drehte sich mir der Magen um, und Gath schrie:

»Lassen Sie das dran!«

»Warum?« fragte der Betrunkene fröhlich. »Sie sind doch Ärzte. Sehen Sie mal.«

Der von Eiter gelbe Verband rutschte weg, und wir wurden mit stinkenden, widerwärtigen, bis auf den Knochen eiternden Geschwüren konfrontiert, wie keiner von uns sie je gesehen hatte. Gath lief rot und blau an.

»Das war wohl unbedingt nötig, was? Du Bastard!« schrie er dem Betrunkenen direkt ins Gesicht.

Von diesem Augenblick an ging es bergab. Alle stimmten in den Choral der Beschimpfungen ein. Unterdosis, Überdosis, Betrunkene, Psychopathen, Nutten, Geschlechtskrankheiten und Scheidenjucken, die mir das außerordentliche Vergnügen verschafften, zwischen den Beinstützen des gynäkologischen Untersuchungsstuhls zu hocken und tief in das Krankheitsfaß der Freizeitwelt hineinzusehen. Meine Versuche zu schlafen wurden ständig vereitelt. Um drei Uhr morgens wurde eine Hausfrau aus der Vorstadt von ihrem Mann eingeliefert.

»Ich kann nicht aufrecht stehen«, sagte sie und lehnte sich an die Wand.

»Wie lange haben Sie das Problem schon?« fragte ich schlaftrunken.

»Drei Monate.«

»Warum kommen Sie dann heute nacht?«

»Heute nacht ist es schlimmer als sonst. Sehen Sie, so kann ich stehen«, sagte sie, angelehnt. »Aber ich kann nicht so stehen«, und stand frei.

»Sie stehen jetzt frei«, machte ich sie aufmerksam.

»Ich weiß, aber ich stehe lieber angelehnt.«

Ich schob sie ab, sie beschimpfte mich und ging. Um halb fünf wurde ich von einem Oiy Oiy Oiy geweckt und wußte, daß eine Aufnahme für die Innere angekommen war. Die Schwester reichte mir die Klemmappe und sagte:

»Keine Sorge, das ist hoffnungslos: Brustkrebs, Endstadium, Metastasen überall in Pelvis, Bauchhöhle und Wirbelsäule.«

Es war entsetzlich. Das skoliotische Wrack einer Frau, scheußlich verkrümmt, dement durch die Streuung des Krebses ins Gehirn, kämpfte wie ein Tier gegen meine Versuche, etwas für sie zu tun. Ihre beiden Schwestern wichen mir nicht von der Seite und forderten unablässig, ich solle alles in meiner Macht Stehende tun. Die Krankheit war abstoßend und schmerzhaft. Diese Schwestern gingen mir mit ihrer absurden Hoffnung auf die Nerven. Das war kein Leben mehr, es gab keine Hoffnung. Das war der Tod. Das war Verzweiflung. Das war die bodenlose Panik über den Verlust der glatten Kinderwangen, das Entsetzen, nicht mehr jung zu sein. Ich war böse auf diese Frau, denn der Anfang ihres Endes bedeutete Arbeit für mich. Schweren Herzens nahm ich sie auf.

Die Sonne, die nach dieser denkwürdigen Nachtschicht aufging, erschien mir fehlerhaft, vergänglich, ein leichtgewichtiger, müder Fleck am Ende der weiten, unsichtbaren, interstellaren Finsternis. Beim Verlassen der Notaufnahme mußte ich Abes Beleidigungen ertragen, die er wie Scheiße auf mein Haupt häufte. Mißtrauisch und böse, stellte ich fest, daß die Welt zu erschöpft war, um meine Bitterkeit fortwischen zu können. Ein Schaukelpferd verrottete im Schnee. Nach allem, was ich wußte, mußten jetzt die ersten Krebszellen in meiner Blase aufkeimen. Mein eigener Krebs, verloren an einer nebligen Winterküste, vergrub sich im leblosen Schutt und suchte in zeitlosem Vertrauen auf meine endgültige Ebbe nach Nahrung.

»Steh auf, Roy«, sagte jemand scharf und rüttelte mich.

»Roy-oy …«

Es war Berry. Um mich herum standen gutgekleidete Menschen und Berry sagte:

»Komm schon, Roy. Es ist das Halleluja, steh auf.«

Ich stand auf. Ich war in der Symphony Hall. Ich hörte jene vorletzte Granate, den Messias, gesungen von den dünnen und abgehackten Stimmen der Mitglieder der Händel-Gesellschaft. Wieder eine Matinee. Wie bei fast allen Aktivitäten außerhalb des House of God war ich beim Messias sofort eingeschlafen. Gott der Allmächtige Herr und König! Halleluja! Singt es ruhig, Jungs. Ihr könnt ja nicht wissen, daß er in der Notaufnahme des House of God offensichtlich nicht viel zu sagen hat. Und er wird herrschen auf Immer und Ewig. Auf Immer! Und Ewig! Halleluja! Halleluja! Keine schlechte Granate, dieser Messias, wirklich. Ich sah mich im Publikum um, das sich von der gigantischen Doppelorgel auf der Bühne bis nach hinten in Reihen knarrender Bänke drängte. Viele Gomers, vor allem in den vorderen Reihen, Büschel von Grau, hyperämisches Fleisch über fahlen Wangen. Gomer sterben nicht! Halleluja! Halleluja! Auf ewig! Sie leben auf ewig! Der Preis für die Plätze hatte die reichen Gomers nach vorn gebracht und die Jungen nach hinten. Berry und ich waren auf dem halben Wege, reiche Gomers zu werden.

»Roy, setz dich. Jetzt sitzt man wieder, siehst du?«

Eine scharfzähnige Frau kam mit einem menstruellen Ich weiß, daß mein Erlöser lebt heraus, und Berry und ich gingen. In dem matschigen Schnee bekamen wir nasse Füße und ich sagte:«

Ich fühle mich krank. Ich bekomme diese Schwere nicht aus meiner Brust, und ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Hört sich nach Erkältung an«, sagte Berry.

»Jaah, aber was soll ich tun? Ich huste nicht einmal.«

»Das ist dein Problem. Du hustest nicht. Du brauchst etwas, das löst. Ein Hustenmittel.«

»Meinst du? Daran hab ich noch gar nicht gedacht. Was soll ich nehmen?«

»Roy, was soll das? Du bist der Arzt, nicht ich.«

»Du hast recht. Daran habe ich gar nicht gedacht.«

»Dissoziation. Du dissoziierst dich von allem. Du mußt wirklich deprimiert sein.«

»Hab ich das nicht gesagt? Die Polizisten sagen, ich sei paranoid geworden. Sie haben das schon früher bei Interns beobachtet. Das kommt von der Arbeit in der Notaufnahme«

»Ich dachte, du magst die Notaufnahme.«

»Das war einmal. Es hat am Anfang Spaß gemacht. Es waren nicht nur immer Gomers. Da gab es Menschen, denen ich das Leben gerettet habe, wirklich gerettet.«

»Und dann?«

»Ich bin jetzt in der Lage, mit den schweren Fällen fertig zu werden, und alles andere besteht nur aus einer beleidigenden Person nach der anderen. Es ist zum Kotzen. Süchtige, die dich um Drogen anhauen, Betrunkene, Arme, Tripper, Einsamkeit. Ich hasse sie alle. Ich traue keinem. Das kommt, weil man ständig angekotzt wird, angespuckt, angeschrien und angeschissen. Alle wollen, daß ich was für sie tue, für ihre eingebildeten Krankheiten. Inzwischen versuche ich zuerst herauszufinden, wie sie mich anschmieren wollen. Das ist Paranoia, verstehst du?«

»Paranoia ist OK«, sagte Berry, »eine primitivere Art von Verteidigung. Wenn du glaubst, jemand beobachtet dich, denkst du, du bist nicht allein. Das hält dir die Verzweiflung über die Einsamkeit vom Leib. Und die Wut. Du bist so deprimiert, Roy, du bist in letzter Zeit so kaputt, es ist schrecklich mitanzusehen. Du hast dich verändert.«

Da kamen mir die Tränen. Die Kluft zwischen der Menschlichkeit dieser klugen, liebenden Frau und der Unmenschlichkeit der Gomer und Schinder wurde zu groß. Ergriffen ließ ich den Kopf hängen, und dann brach es aus mir heraus, daß ich ihr etwas sagen müßte. Daß ich mit einer Schwester herumbumste. Ich wartete auf die Explosion.

»Meinst du, ich wüßte das nicht?« fragte Berry.

»Du wußtest es?« sagte ich überrascht.

»Sicher. Flittchen und Austern und alles, erinnerst du dich? Ich kenne dich ziemlich gut. Es ist schon in Ordnung, Roy, solange es für beide gilt.«

»Ja? Bist du sicher?«

»Ja«, sagte sie, und dann sah sie mir gerade ins Gesicht und fuhr fort: »So, wie das Internship dich kaputt macht, kann es mit uns nicht einfach weitergehen wie bisher. Seit Monaten ist das sonnenklar. Wir werden diese Liebe aber am Leben halten, Roy, ich jedenfalls werde dafür kämpfen. Denk daran. Trotzdem ist deine Freiheit auch meine Freiheit. OK, Schatz?«

Ich knirschte meine Eifersucht hinunter und sagte: »Ja, Schatz … ja, mein Liebes«, und umarmte und küßte sie. Und mit Tränen in den Augen fuhr ich fort: »Ich muß nur noch eine Woche in die Notaufnahme, aber ich mache mir echte Sorgen. Vielleicht schaffe ich es nicht. Wenn eines Nachts mal niemand sonst da ist und mich einer anmacht, vielleicht drehe ich durch und schlag den Scheißkerl zusammen.«

»Ich muß dich warnen, Roy. In der Psychiatrie ist die kommende Woche die schlimmste. Die zwischen Weihnachten und Neujahr. Das ist die Todeswoche. Sei vorsichtig und bereite dich vor. Es kann schrecklich werden.«

»Ein Holocaust.«

»Genau. Brutal.«

»Wie soll ich das überleben?«

»Wie? Vielleicht wie in den Lagern. Überlebe, um Zeugnis zu geben, um von denen zu berichten, die nicht überlebt haben.«

Später, nachdem die Leidenschaft der Zärtlichkeit gewichen war, fing ich an, von Gilheeny, Quick und Cohen zu erzählen. Ich lachte, Berry lachte, und bald war das Bett, das Zimmer, die ganze Welt ein riesiger Mund mit Zunge und Zähnen in ellipsoidem Gelächter, und Berry sagte:

»Sie hören sich unglaublich komisch an. Ich meine, sprechen sie wirklich so? Wie Lehrbücher? Wie kommt das?«

»Sie sagen, weil sie seit zwanzig Jahren in der Notaufnahme des House of God herumhängen und mit so klugen Typen wie mir reden. Sie haben in den letzten zwanzig Jahren die Bildung jedes Terns in sich aufgesogen.«

»Du hast sie gern, stimmt’s?«

»Ja, sie sind großartig. Sie halten mich aufrecht.«

»Und dieser Cohen verwirrt und fasziniert dich gleichzeitig.«

»Ja. Weißt du, was er mir erzählt hat? Er faßt nie einen Patienten an. Verdammt, wenn ich sie nicht anzufassen brauchte, würde ich ihnen auch gern zuhören.«

»Du meinst, er bläst Gomers nicht mit dem Stethoskop ins Ohr?«

»Er hat gar kein Stethoskop. Er trägt Jeans zur Arbeit.«

»Und wie verständigt er sich mit den Gomers?«

»Tut er nicht.«

»Tut er nicht?« fragte Berry.

»Nein, verdammt, er tut es nicht. Vielleicht sollte ich Seelenklempner werden!«

Darauf lachten wir wieder los. Resident der Psychiatrie, ein Psychiater? Keine Gomers, keine vergammelnden Punzen, kein Scheidenjucken, keine juckenden, fleckigen Penisse, keine Geschwüre an den Beinen, keine rektalen Untersuchungen, kaum Nachtdienst. Nur das verdammte, dämliche Gequatsche. Das war es, was die meisten brauchten, alle die, die versuchten, aus den Ärzten herauszusaugen, was Ärzte nicht geben konnten. Ich könnte mein Stethoskop wegwerfen und zur Arbeit Jeans tragen.

Wir zogen uns an, um zur Weihnachtsparty zum Leggo zu gehen. Berry trug ein enges Schwarzes und ich, weil ich um Mitternacht in die Notaufnahme mußte, die weiße Krankenhauskleidung. Berry freute sich darauf, den Fisch und den Leggo kennenzulernen und sagte:

»Ich bin gespannt, wieviel von dem, was du mir erzählt hast, Übertragung ist.«

»Was ist Übertragung?«

»Die Verformung der realen Beziehung durch unbewußte Kräfte. Vielleicht haßt du den Fisch und den Leggo, weil sie dich an deinen Vater erinnern.«

»Ich liebe meinen Vater.«

»Wie steht es mit deiner Mutter?«

»Der Fisch und der Leggo sollen mich an eine energische Frau erinnern, die koscher ißt?«

Die Party fand beim Leggo zu Hause statt, draußen in einem Vorort. Eine breite, runde Einfahrt führte zu der stattlichen Villa. Im Urin steckt eben Geld. In der Diele wurden wir vom Leggo begrüßt, dessen Augen sofort zu meinem Namensschild und zu Berrys Busen wanderten. Als ich ›Hallo, Sir‹ sagte, sah der geile, kleine Mann verwirrt auf, und ich wußte, daß er sich zu erinnern versuchte, ob ich beim Militär gewesen war oder nicht. In der Stunde, bevor ich zur Notaufnahme aufbrechen mußte, beschloß ich, so viel Champagner zu trinken, wie ich konnte, und stand folglich schon sprudelnd und beschickert da, als Chuck kam. Er trug seine schmutzige weiße Hose, weil er direkt von Station-6 Süd kam und mit den üblichen Stationsausscheidungen bekleckert war. Der Leggo begrüßte Chuck mit einem gedehnten: »Oh, hallo, äh …«, er suchte nach dem Namensschild, »äh … Charles. Kommen Sie von der Arbeit?«

Und Chuck sagte:

»Nein, ich seh immer so aus, Chef, Sie wissen ja wie das is.«

Die Party nahm ihren Lauf. Die Frau des Leggo war ungefähr so erotisch wie ein Katheter. Auf seiten der Ärzte war das einzige Gesprächsthema die Medizin, und die Gattinnen sprachen nur darüber, wie schwer die Medizin ihnen das Leben machte. Chuck und ich verliebten uns in eine Frau und wußten nicht warum. Während ich immer betrunkener wurde, sah Berry immer ungläubiger aus. Sie sprach mit dem Leggo, sie sprach mit dem Fisch. Nach vierzig Minuten kam sie zu uns und sagte, sie wolle gehen. Ich hatte sie noch nie so wütend gesehen, und Chuck und ich fragten sie nach dem Grund.

»Ihr beiden seid betrunken«, sagte sie, »und ich kann verstehen, warum. Ich würde mich auch betrinken, wenn ich mich mit diesen Schmucks abgeben müßte. Das ist keine Übertragung, sondern Zwangsneurose. Wenn ihr etwas verschüttet, kriegen die Durchfall. Kein Wunder, daß Ärzte die höchsten Raten bei Selbstmord, Scheidung, Sucht, Alkoholismus und vorzeitigem Tod haben. Und wahrscheinlich auch bei vorzeitiger Ejakulation. Ich bin jetzt seit zwei Stunden in diesem Haus, und mich hat noch niemand irgend etwas über mich gefragt. Es ist, als wäre ich nur ein Appendix von dir.«

Ein Schnappi, dachte ich bei mir.

»Roy, ich habe noch nie etwas so Demütigendes erlebt. Weißt du, was diese Typen sind? Schwanzlutscher. Bis dann.«

Nachdem sie uns auf die Wangen geküßt hatte, nahm sie ihren Mantel und ging. Wir hatten so viele Sparkler getrunken, wie wir hinunterbekommen konnten und fuhren zurück ins House.

»Dammt, diese Berry is schon eine.«

»Ja, sie ist wundervoll. He, versuch auf der Straße zu bleiben, ja? Weißt du, sie macht sich Sorgen um dich.«

»Mann, worüber macht sie sich Sorgen?«

Ich war betrunken genug, es ihm zu erzählen. Ich sagte ihm, daß sie bemerkt hatte, wie fett er geworden war, so total aus der Form geraten. Daß er das Essen hinunterschlang, nicht mehr auf seinen Körper achtete und zuviel trank.

»Ja, ja. Ich war immer gut in Form, und nun sieh dir diesen Sack an. Traurig, Mann, sehr traurig.«

»Sie sagt, das ist Zorn, daß wir alle die Nase so voll haben, daß wir anfangen, die seltsamsten Sachen zu machen. Bei dir, sagt sie, ist alles oral. Sie macht sich Sorgen, du könntest Alkoholiker werden.«

Er parkte den Wagen wie ein Alkoholiker im rechten Winkel zu den weißen Linien des Parkplatzes. Wir stiegen aus und als unausgesprochene Herausforderung pinkelten wir auf den Platz. Die beiden Dampfwolken waren uns ein Trost.

»Also, Berry macht sich ein bißchen Sorgen um mich, äh?« fragte Chuck.

»Jap. Mehr als ein bißchen. He, ich mach mir auch Sorgen um dich.«

»Hm, Roy, ich verrat dir ein Geheimnis. Ich auch, Mann, ich auch.«

 

Der Wecker klingelte. Ich löste mich aus der Sauna unter Berrys Decke und knurrte. Potts’ Vater war gestorben, und Potts war zur Beerdigung nach Charleston gefahren. Motorrad Eddie übernahm den Dienst von Potts, und ich mußte den Dienst von Motorrad Eddie in der Notaufnahme übernehmen, eine Vierundzwanzig-Stunden-Schicht. Der Morgen war so kalt, daß ich, trotz meiner Vermummung, vor Kälte zitterte, als mein Hintern den Wagensitz berührte. Und während ich auf dem Weg zum House fröstelte, dachte ich an Wayne Potts.

Das Seltsamste an Potts war, daß er sich nicht seltsam benahm. Er war höchstens stiller geworden, mehr in sich gekehrt. Eines Nachts traf ich ihn in der Stationszentrale. Er saß da mit einem verstörten Gesichtsausdruck, wie ein Kind auf einer Beerdigung.

»Oh, hallo, Roy«, sagte er. »Weißt du, ich war gerade bei dem Gelben. Ich könnte schwören, er hat mich angesehen und mich erkannt. Aber dann, als ich noch einmal hinsah, war er wie immer, die Augen geschlossen, im Koma.«

Potts plagte sich ab. Seine Frau hatte mehrfache Orgasmen von der Macht, die sie als Intern der Chirurgie im MBH genoß, und Potts war die meiste Zeit allein. Wir waren uns näher gekommen, und ich hatte ihn allmählich gern. Seine Herkunft aus den Südstaaten und meine Liebe zu den alten Wurzeln Englands, zu Oxford, wo Erdbeeren mit Schlagsahne und Champagner auf weichem Rasen in Gärten aus dem fünfzehnten Jahrhundert serviert werden, paßten zusammen. Wir wurden Freunde, zum Teil aus gemeinsamer Verachtung für die Schlecker aus dem Norden, zum Teil aus der gemeinsamen Sehnsucht nach Dauer, nach solider Vergangenheit. Wir saßen bei ihm zu Hause und redeten und hörten Blues und Gospel. Potts Lieblingslied war eine Ballade von Mississippi-John Hurt über das Sterben:

When my earthly trials are over, cast my body down the sea; save all the undertaker’s bills, let the mermaids flirt with me.

Einmal sprachen wir auch darüber, wie wir zur Medizin gekommen waren.

»Ich erinnere mich an einen Sommer auf Pawley’s Island, ich war vielleicht zwölf. Mutter hatte Daddy rausgeschmissen, und mein Bruder, meine Mutter und ich verlebten den Sommer an der Küste. Da habe ich mir eines Tages heißes Öl über die Hand gegossen, wirklich üble Verbrennungen, und Mutter brachte mich sofort zurück nach Charleston zu unserem Hausarzt. Seine Praxis bestand nur aus zwei großen Räumen, Mahagonitäfelung, Messingbeschläge, Apothekenschränke, Gefäße, du weißt schon. Er verband meine verbrannte Hand und sagte: ›Junge, du gehst gern zum Fischen, oder?‹ ›Yessir.‹ ›Was fängst du am liebsten?‹ ›Seebarsch und Bluefish, Sir.‹ ›Wandert der Bluefish schon?‹ ›Nein, Sir.‹ ›Nun, wir wollen sehen, ob du nicht wieder fischen kannst, wenn der Bluefish wandert.‹ Ich ging alle paar Tage zu ihm, um den Verband wechseln zu lassen. Er benutzte eine spezielle Salbe, und ich erinnere mich, daß er nach ungefähr einer Woche zu mir sagte: ›Die Salbe ist alle, und ich habe die Fabrik angerufen, die sie herstellt, New Jersey. Sie sagen, irgendeine Regierungsstelle hat ihre Anwendung am Menschen verboten, weil sie bei irgendwelchen weißen Mäusen Schäden hervorruft. Nun, an der Salbe ist nichts verkehrt. Junge, ich weiß das, ich benutze sie seit zwanzig Jahren. Ich bin also auf meine Farm gefahren und habe mir welche von der geholt, die ich für meine Pferde benutze. Sie hilft bei ihnen, und ich denke, sie wird auch bei dir helfen.‹ Natürlich hat sie geholfen, meine Hand heilte wunderbar. In dem Sommer habe ich Bluefish gefangen, genau wie er es gesagt hatte. Ich fing an, bei ihm herumzuhängen, mit ihm Hausbesuche zu machen. Was ich da gesehen habe! Wohin er kam, öffneten die Menschen ihm die Türen. Er saß die ganze Nacht in einer Hütte von Schwarzen, um Zwillinge zu entbinden, und danach wurde er ins Herrenhaus an der East Battery gerufen, wo er sich die Hände mit duftender Seife wusch und auf der Bahama-Veranda, wo sich die Seeluft von Fort Sumter mit dem Duft des Geißblatts im Garten mischte, von einem Buttler Zichorien-Kaffee serviert bekam. Ich habe viel mit ihm gemacht, habe viel gesehen und wünschte mir mehr als alles andere, so zu werden wie er.«

»Was ist aus ihm geworden?«

»Oh, er ist immer noch da. Er wartet darauf, daß ich hier fertig werde und zu ihm runterkomme, eine Weile mit ihm zusammenarbeite, bis er sich zur Ruhe setzen und ich die Praxis übernehmen kann. Ich denke, das könnte nächstes Jahr sein.«

»Hört sich gut an. Ist es das, was du gerne machen möchtest?«

»Ja, aber ich denke, es ist nur ein Traum.«

»Warum nur ein Traum?«

»Es ist nicht die Art Medizin, die ich hier lerne, oder? Ich hätte keine Ahnung von einer Zwillingsentbindung. Und meine Frau möchte ihr Chirurgieprogramm an der MBH nicht verlassen. Sie möchte überhaupt nicht in den Süden.«

Auf der Party beim Leggo hatte Berry mich nach Potts gefragt, und ich hatte ihn ihr gezeigt. Er war der einzige ohne Namensschild, und Berry fragte mich warum.

»Er hat es verloren.«

»Hat er sich kein neues besorgt?«

»Nein.«

»Das hört sich nicht sehr gesund an. Es ist auffällig.«

»Potts und auffällig? Unsinn.«

»Es sieht aus, als kümmere er sich nicht viel um sich selbst.«

»Du analysierst viel zuviel«, sagte ich irritiert.

»Vielleicht, aber ich würde mir an deiner Stelle Sorgen um ihn machen, Roy.«

»Danke für deine sachkundige Diagnose. Ich habe keine schlaflosen Nächte wegen Potts.«

Das war nicht richtig. Eines Nachts lag ich wach und dachte an ihn. Ich dachte an seine Enttäuschungen: seine Frau, sein zu akademisch ausgerichtetes Internship, sein welkender Traum, zurück nach Charleston zu gehen und dort Arzt zu sein, sein trauriger Hund. Ich wurde unruhig. Ein paar Tage vorher hatten Potts und ich uns in seinem Schlafzimmer angesehen, wie die Crimson Tide aus Alabama die Georgia Tech überrollten. Neben seinem Bett hatte ein Revolver gelegen, eine geladene Vierundvierziger ohne Futteral.

Ich fuhr auf den Parkplatz des House of God und eilte zur Notaufnahme. Als ich Potts am Telephon sagte, es täte mir leid, daß sein Vater gestorben sei, sagte er:

»Mir nicht. Er starb nach einer Prügelei mit einem anderen Betrunkenen in der Gosse. Ich habe mir immer gedacht, daß er so enden würde. Irgendwie fühle ich mich erleichtert.«

»Erleichtert?«

»Ja. Du mußt verstehen, Roy, jahrelang ist er in mein Zimmer gekommen, wenn er glaubte, ich schliefe. Er stand da und starrte mich an. Manchmal habe ich den Lichtschimmer auf dem Lauf des Revolvers gesehen, den er in der Hand hielt. Ich fahre nur zur Beerdigung, um Mutter zu sehen. Tut mir leid, daß du für mich einspringen mußt. Ich mache es wieder gut.«

Und nun hatten wir einen bitterkalten Sonntag in der Mitte der Totenwoche zwischen Weihnachten und Neujahr, und ich erwartete während meiner Vierundzwanzig-Stunden-Schicht nur wenige schwere Verletzungen und hauptsächlich unbedeutenden Kleinkram, Patienten, die versuchten, ins House of God, ins Warme zu kommen. Wie kurzsichtig, zu glauben, daß ich an diesem Sonntag nur das zu sehen bekäme, was dieser Sonntag hervorbrachte! Zweitausend Jahre waren seit Christus vergangen, vor ein paar hundert Jahren hatte ein Überflieger aus der Renaissance das Krankenhaus erfunden, vor fünfzig Jahren hatte ein toller Jude das House erfunden, vor zwei Monaten hatte Gott es wieder Winter werden lassen, vor wenigen Tagen hatte ein Fernsehprogrammchef ein wahnsinnig aufregendes Profi-Football-Spiel abgeschaltet, um eine Neuverfilmung dieser teutonischen Granate Heidi zu zeigen und damit den Blutdruck der Männer quer durchs ganze Land in die Höhe getrieben, und letzte Nacht hatten zwei äußerst wichtige Ereignisse stattgefunden: Erstens hatte es, zur »Aufklärung des Publikums« eine Fernsehshow über »die Anzeichen eines Herzanfalls« gegeben, zweitens war eine Samstagnacht in der Stadt im Eimer. Jetzt würden sie mich drankriegen. Die Frage war nur wie und wie sehr.

Schon um acht Uhr morgens war der Warteraum voll, in der Mehrzahl von Frauen, die meisten schwarz. Der irre Abe sprang zwischen ihnen hin und her und kreischte mich an:«

Euer Problem ist die Beschneidung, euer Prob …«

In der Stationszentrale war alles durcheinander. Howard Greespoon saß bleich bei Gath, Elihu, Cohen und den beiden Polizisten und trank eine Tasse Kaffee, was ich ihn noch nie hatte tun sehen, denn seine Computerdaten wiesen eine direkte Beziehung zwischen Kaffee und Blasenkrebs aus. Howie erzählte den anderen gerade, was passiert war:

»Vor einer Stunde gehe ich in den Waschraum im zweiten Stock und bin auf der Toilette, als ein Typ die Tür aufreißt, ein Gewehr reinhält und mein Geld will. Ich gebe ihm drei Dollar, und dann mache ich etwas ganz Dämliches, ich gebe ihm auch noch meinen Collegering. Wie konnte ich das tun? Ich habe diesen Klassenring geliebt, wirklich. Er hat ihn gar nicht haben wollen. Ich hab ihn ihm einfach gegeben. Warum? Warum?!«

»Bemerkenswert«, sagte Gilheeny, »aber besser, der ist weg und Sie sind hier, als umgekehrt.«

Howie ging, aber die Polizisten blieben noch, und Quick sagte erklärend:

»Es ist Terrorsaison, man hat uns gebeten, noch einmal acht Stunden Dienst zu tun, bis vier Uhr nachmittags. Sechzehnhundert im Militärjargon, nicht wahr, Offizier zur See Gath?«

»Ay ay, Mama«, sagte Gath. »Ich könnte mal wieder brauchen, daß was Richtiges hier reinkommt, statt immer nur Scheidenjucken. Ich bin so mies drauf, ich könnte mit der Peitsche auf Bärenjagd gehen.«

»Eine bemerkenswerte Aussage, besonders vor dem Hintergrund, daß Quick und ich in der vergangenen Nacht über Polizeifunk zu einer angeblichen Schießerei in einer Nacktbar gerufen wurden«, sagte Gilheeny. »Wir gingen hinein, die Musik hörte auf, alle Köpfe drehten sich uns zu. Das Gesetz. Stille. ›Zu ruhig‹, flüsterte ich Quick zu, während wir beobachteten, wie der Barkeeper langsam den Boden wischte und jede Schießerei in seinem Etablissement abstritt. Dann fand Quick die Spur.«

»Was der Barmann da aufwischte, war rot. Bier ist nicht rot, aber Blut ist rot«, sagte Quick.

»Ich entdeckte dann drei Männer, die zu dicht an der Wand zusammensaßen, und befahl ihnen aufzustehen. Sie taten es, und der Mann in der Mitte fiel vornüber, tot. Ihre Überraschung war so groß, daß wir sie nicht einmal mit unseren Bleiknüppeln bearbeiten mußten. Wir haben uns damit viele Monate Arbeit mit Cohen wegen der nagenden Schuldfrage erspart. Eine gefährliche Zeit.«

»Die rohe, rote Zeit, wenn die Worte den Taten weichen«, sagte Quick.

»Wir sollten alle aufpassen,« sagte der Rotschopf. »Mit Glück sehen wir uns alle wieder um sechzehnhundert am schönen Postmeridian. Auf Wiedersehen.«

Sie waren gegangen, und Furcht und Trübsinn umfingen meine Gedanken. Die Akten türmten sich bereits. Die meisten Patienten waren ängstliche Männer, die die Fernsehsendung »Wie komme ich zu einem Herzanfall« gesehen hatten, und Frauen mit Sonntagmorgen-Bauchschmerzen. Ich nahm eine Akte und wagte mich in den Tag vor. In meinem Kopf dröhnten die Worte Mitleid und Haß. Es gab nichts Wichtiges, es gab keinen Humor, es gab nur die glasklare Umsetzung von kohlschwarzem Zorn in das »Körper-Ego«, wie Cohen es nannte. In erster Linie zielte sie in die abdominogenitale Region, denn die Klagen über Schmerzen im Leib hörten nicht auf, bis ich literweise Urinproben angesehen und –zig Unterleibsuntersuchungen gemacht hatte, und zwar sorgfältig, denn das eine oder andere Mal konnte schließlich ein Schnappi dabei sein.

Mit einer Frau kam dann das Unglück herein. Ich untersuchte sie gründlich, fand nichts und sagte ihr das. Sie akzeptierte es und zog sich wieder an, aber ihr Freund akzeptierte es nicht und sagte:

»He Sie, warten Sie, Mann. Sie wollen mir erzählen, daß Sie nichts für sie tun? Nichts?«

»Ich kann nichts finden, was ich behandeln könnte.«

»Hören Sie zu, Sie feiner Pinkel, meine Frau hat Schmerzen, echte Schmerzen, ich will, daß Sie was dagegen machen.«

»Ich weiß nicht, woher sie Schmerzen haben könnte, und will ihr nicht irgend etwas geben. Wenn die Beschwerden schlimmer werden, will ich davon wissen und sie wiedersehen. Ich will nicht maskieren, was sich da möglicherweise abspielt.«

»Verdammt, sehen Sie sie an, sie hat Schmerzen. Sie geben ihr jetzt was dagegen!«

Ich sagte nein und ging zurück in die Stationszentrale, um meine Notizen zu machen. Der Mann folgte mir, und obwohl es der Frau peinlich war – sie stand schon an der Tür und wollte gehen –, benutzte er die überfüllte Notaufnahme als Forum:

»Gottverdammter Kerl! Wußte ich doch, daß man uns hier nicht hilft. Ihr wollt bloß, daß sie leidet, das genießt ihr. Ihr Wichser! Ihr gebt doch einen Scheißdreck drauf, was mit uns passiert, Hauptsache, wir ziehen wieder ab.«

Mein Zorn schwoll an, und ich fühlte diese limbische Hitze über meine Ohren und meinen Hals aufsteigen. Ich wäre am liebsten über den Tresen gesprungen und hätte den Kerl verprügelt oder hätte ihn mich verprügeln lassen. Er konnte nicht wissen, daß ich sein Gefühl, ein Opfer zu sein, teilte, sein Gefühl von Verzweiflung darüber, daß schwarze Frauen von außer Kontrolle geratenen Kräften zerstört wurden, seine Hilflosigkeit gegenüber der Krankheit und dem Leben. Inzwischen hatte ich selbst seine Paranoia. Ich konnte es ihm nicht sagen, und er würde sowieso nicht zuhören. Beide waren wir gelähmt vor Wut, derselben Wut, die Kugeln in die Kennedys und Luther King geschossen hatte. Ich knirschte mit den Zähnen und sagte:

»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Das war’s.«

Die Schwestern riefen den Sicherheitsdienst, der kam und seine nachgemachten West Point Abzeichen zur Schau stellte, bis der Mann, von seiner Frau gezogen, hinausging. Ich setzte mich zitternd hin, völlig fertig. Ich konnte nichts in die Akte schreiben, meine Hand bebte zu sehr. Ich konnte mich nicht einmal rühren.

»Sie sind weiß wie ein Laken«, sagte Cohen. »Der Junge hat Sie echt umgehauen.«

»Ich weiß nicht, wie ich das hier noch dreiundzwanzig Stunden aushalten soll.«

»Das Geheimnis heißt, sich ausklinken. Ziehen Sie das libidinöse Engagement aus dem, was Sie hier tun, zurück. Das ist, als würden Sie einen Astronautenhelm aufsetzen und auf Autopilot schalten. Sie ziehen sich emotional zurück, so daß Sie nicht richtig da sind. Überleben, klar?«

»Ja. Ich wünschte, ich hätte einen Astronautenhelm.«

»Keinen richtigen Astronautenhelm. Ausklinken ist ein innerer Astronautenhelm. Fast alle Berufe sind ausgeklinkt, und wissen Sie warum?«

»Warum?«

»Weil alle Berufe langweilig sind, außer diesem hier. Versuchen Sie es.«

Ich stülpte mir meinen imaginären Helm über, schaltete auf Autopilot und klinkte mich aus. Ich watete durch Tonnen von Urin und tauchte unter im ständigen Strom ängstlicher Männer von sechzehn bis sechsundachtzig, die die Fernsehshow gesehen hatten und über »Schmerzen in der Brust« klagten. Die Show hatte anscheinend vor allem dem Zweck gedient, den amerikanischen Mann, was die Anatomie anging, zu verwirren, denn keiner dieser Brustschmerzen war ein Schmerz in der Brust. Vielmehr waren es Bauchschmerzen, Armschmerzen, Rückenschmerzen, Leistenschmerzen und ein echter Schmerz im großen Zeh, der, wie sich herausstellte, Gicht war. Durch all diese völlig normalen EKGs watend, spürte ich eine tiefe Verachtung für die »Aufklärung der Öffentlichkeit« über Krankheiten. Irgendein Fernsehapostel versuchte Herzanfälle zu verhökern, und überall im Land arbeiteten sich Interns zu Tode. Der einzige echte Herzinfarkt, den ich an diesem Tag sah, war ein Mann meines Alters, der tot eingeliefert wurde. In meinem Alter. Und ich verbrachte meine wenigen Prä-Infarkt-Jahre damit, mich selbst abzutöten, um zu überleben …

Nachmittag. Flaute. Ich atmete etwas leichter in meinem Astronautenhelm und dachte, ich könnte es vielleicht doch noch schaffen. Plötzlich flogen die Türen auf. Gath und ich und Elihu wurden in jenes surreale, hyperakute Zeitgefühl katapultiert, das durch ein echtes Unglück entsteht. Sirenen heulten, Lichter blinkten, und mit einem Priester auf der einen und Quick auf der anderen Seite wurde Gilheeny hereingebracht, leichenblaß, die ganze rechte Seite seines Körpers blutüberströmt. Wir sprangen auf, und im nächsten Augenblick waren wir im Traumazimmer. Gilheeny lebte. Er hatte einen Schock. Während die Schwester seine Kleidung aufschnitt, und wir die großen Zugänge legten und die lebenswichtigen Organe, Kopf, Herz, Lunge, durchcheckten, erzählte uns Quick erschüttert, was geschehen war:

»Ein Raubüberfall in einer Eisdiele. Wir jagen den Dieb, er dreht sich um und pumpt beide Läufe seiner Schrotflinte in Finton hinein.«

»Officer Quick«, sagte Gath, »gehen Sie bitte raus.«

Ich fühlte mich hyperlebendig und sah mich fünf Dinge auf einmal tun. Trotz meiner Konzentration auf Gilheeny wunderte ich mich, daß an einem Sonntagnachmittag, dem kältesten Tag des Jahres, so ein Dreckskerl nicht nur eine Eisdiele überfällt, sondern dabei auch noch eine Schrotflinte dabei hat. Wieviel Bargeld mag an einem verfrorenen Sonntagnachmittag im Winter in einer Eisdiele zu holen gewesen sein? Als ich mir die Schweinerei ansah, zu der die rechte Körperseite des Polizisten geworden war, wünschte ich, den Räuber in diesem Raum zu haben, um ihm die Scheiße aus dem Leib zu prügeln.

Gilheeny hatte Glück. Sein Bein würde vielleicht nicht wieder richtig funktionieren, aber es sah nicht so aus, als würde er sterben müssen. Gath, erschüttert wie wir alle, versuchte tapfer, einen Scherz zu machen und sagte zu Gilheeny, Operationen sind gut für die Menschen, und er würde jetzt eine bekommen. Ich setzte mich zu Gilheeny, bis er in den OP geholt wurde, damit ihm nichts passieren konnte. Quick kam verstört herein und setzte sich neben mich. Dann traf der Priester ein und mit ihm der größte Polizist, den ich je gesehen habe, mit vier Sternen auf jeder Schulter, Litzen auf seinem blauen Mantel, einem großen Rangabzeichen, grauem Haar und einer eleganten, orangefarben getönten Brille.

»Den schönsten ›Guten Morgen‹ Ihnen, tapferer Sergeant Finton Gilheeny.«

»Ist das der Commissioner?«

»Kein anderer. Der junge Arzt sagt, daß Sie mit Hilfe einer Operation, die wieder einmal die Nützlichkeit des Skalpells beweist, überleben werden.«

Diese wunderliche Redeweise kam also von ganz oben. Ich fragte mich, wieviele Jahre der Commissioner in Gottes Haus Dienst getan hatte.

»Dr. Basch, ich glaube, jetzt brauche ich die letzte Ölung doch nicht mehr. Kann der Priester dann nicht gehen? Er macht mir Angst, weil er mich daran erinnert, wie nahe ich dem Himmel oder diesem anderen, heißen Ort gewesen bin.«

»Und haben Sie eine Nachricht für die kleine Frau, Ihre Gattin?« fragte der Commissioner, als der Priester gegangen war.«

Ah, ja. Rufen Sie sie nicht an, ich hab ihr nämlich immer gesagt, ich würde jemanden vorbeischicken, und wenn Sie sie nun anrufen, wird sie denken, ich bin tot, und das wäre für meine epileptische Tochter und meine Frau, die ständig mit den Nerven zusammenbricht, ein bedauerlicher Fehler. Schicken Sie jemanden, Sir, wenn es geht.«

»Ich werde selbst hingehen. Oh, ja, der Räuber ist gefaßt«, sagte der Commissioner und knackte mit den Fingerknöcheln.«

Und er ist, nachdem wir ihn vernommen haben, zu einer privaten Vernehmung nach draußen gebeten worden, wenn Sie verstehen, was ich meine. Eine lange und sorgfältige private Vernehmung, denn Sie sind uns ein lieber und teurer Polizist. Jawohl. Hab ich ihm nicht selbst einige harte Fragen gestellt? Ah, ja, alles Gute, mein Junge, ich gehe jetzt zu Ihrer Frau und werde sie mit meinem wunderbar jugendlichen Aussehen und meinen Manieren eines Fernsehbullen besänftigen. Auf Wiedersehen, und dem jungen Gelehrten hier, der Ihnen das feine, rote Leben gerettet hat, Shalom, und Gott segne Sie.«

Dschungel, der reinste Dschungel. Gilheeny wurde in den OP gefahren, und Quick setzte sich für den Rest des Tages zu uns. Er war völlig fertig. Abe, der den größten Teil dieser Ereignisse mitangesehen hatte, knallte total durch. Trotz Cohens Bemühungen kreischte er immer und immer wieder: »Ich bring sie um, ich bring sie um …!« und wurde schließlich in einer Zwangsjacke in die Staatliche Anstalt gebracht.

Der Tag verging, die Nacht kam. Gilheeny kam durch. Quick ging nach Hause. Abe war fort. Ich taumelte durch die Nacht, und gegen zwei Uhr morgens, bevor ich in einen tiefen Schlaf fiel, dachte ich schließlich in einer Art Fluchtekstase, dies sei der richtige Augenblick, um zu sterben. Um drei Uhr wurde ich geweckt und war nicht tot. Ich versuchte, die Klemmappe zu lesen: Verheiratete Frau, dreiunddreißig Jahre alt; Beschwerden: Als ich nach Hause ging, wurde ich vergewaltigt. Nein. Also, jetzt macht mal einen Punkt! Da draußen ist es zehn Grad minus. Ich ging und sah sie mir an: Um elf Uhr abends war sie von der Wohnung einer Freundin nach Hause gegangen, als ein Mann aus einer Einfahrt sprang, ihr eine Schußwaffe an den Kopf hielt und sie vergewaltigte. Sie stand unter Schock, war verwirrt. Sie war nicht in der Lage gewesen, zu ihrem Mann nach Hause zu gehen. Sie hatte in einem Imbiß gesessen, der die ganze Nacht geöffnet hatte und war dann schließlich hierher gekommen.

»Haben Sie Ihren Mann schon angerufen?«

»Nein … ich schäme mich so«, sagte sie, hob zum ersten Mal ihren Kopf und sah mir ins Gesicht. Zuerst waren ihre Augen trockene, kalte Wände und dann zerbrachen sie zu meiner Erleichterung in Tränen, und sie schrie und schrie und schrie alles heraus. Ich nahm sie in den Arm und ließ sie sich ausweinen und weinte mit ihr. Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, fragte ich sie nach der Telephonnummer ihres Mannes. Und nachdem ich die Routineuntersuchungen bei Vergewaltigungen abgespult hatte, rief ich ihn an. Er hatte sich zu Tode gesorgt und war froh, daß sie noch lebte. Noch konnte er nicht wissen, daß ein Teil von ihr tatsächlich gestorben war. In wenigen Minuten war er da. Ich saß in der Stationszentrale, als er zu ihr in das Zimmer ging, und ich saß dort, als beide herauskamen. Sie bedankte sich bei mir, und ich sah ihnen nach als sie den langen, gekachelten Gang hinuntergingen. Er wollte seinen Arm um sie legen, aber sie schob ihn weg. Eine Geste voller Abscheu darüber, daß ein Mann ihren Körper ruiniert hatte. Getrennt gingen sie hinaus in den Dschungel. Abscheu. Übelkeit. Genauso fühlte ich mich, aufgewühlt, zornig, die dargebotene Hand zurückstoßend, weil die Hand nicht helfen kann. Es ist ein Mythos, daß die lebende Hand Totes noch erreichen kann.

Das Finale in jener Nacht war ein besoffener, homosexueller Süchtiger mit einer möglicherweise tödlichen Überdosis von irgendetwas Unbekanntem. Er war im Koma, dem Tod nahe. In weißer Hose, weißen Schuhen, einem weißen Matrosenoutfit mit rotem Taschentuch und einer weißen Matrosenmütze, die Fingernägel weißlackiert. Ich dachte an Methadon und gab ihm einen Opioid-Antagonisten intravenös. Er tauchte aus dem Koma auf und wurde aggressiv. Er zog ein Messer aus der Tasche. Ich dachte, er würde sich auf mich stürzen. Aber nein, er packte den Braunülenschlauch und schnitt ihn ab. Dann stand er auf und ging zu der automatischen Tür. Ich hatte, um einen sicheren Zugang zu haben – sollte er den Bach runtergehen – eine großlumige Kanüle gelegt und jetzt floß sein Blut aus dem Zugang und tropfte in großen roten Tropfen auf den polierten Fußboden.

»Sehen Sie sich das an«, sagte ich. »Lassen Sie mich wenigsten die Nadel herausnehmen, bevor Sie gehen.«

»Nein«, sagte er und zückte das Messer, »ich gehe nicht. Ich will verbluten, hier auf eurem Fußboden. Ich will sterben.«

»Oh, das ist was anderes«, sagte ich und rief die Rausschmeißer vom Sicherheitsdienst.

Und dann saßen wir da, trauten uns nicht, ihn zu überwältigen und sahen zu, wie die roten Punkte auf dem Boden zu Klecksen gerannen, zu kleinen Seen. Er verschmierte das Blut mit seinen hübschen weißen Schuhen. Als es zur Pfütze wurde, spritzte er damit nach uns, und blutige Striche deuteten auf uns wie die Strahlen einer Opfersonne der Mayas. Ich hatte vier Konserven gekreuztes Blut angefordert, und Flash wartete in der Blutbank auf meinen Anruf, um das Blut bei Bedarf sofort herunterzuschicken. Während ich mit wachsender Verzweiflung wartete, versuchte ich, meinen quälenden Gedanken über die Brutalität dieses Tages zu entkommen. Es gelang mir nicht. Ich wartete darauf, daß er ohnmächtig würde.

 

Berry und ich waren in der Hauptstadt unseres Landes, um Jerry und Phil zu besuchen, die mit mir als Rhodes Scholars in Oxford gewesen waren. Ich hatte anschließend den Fanatismus des amerikanischen Medizinstudiums gewählt, sie den des Jurastudiums. Im Augenblick arbeiteten beide für den Obersten Gerichtshof, ein Internship, das meinem ähnlich war. Es gab viele Parallelen. Die Obersten Richter waren, genau wie die Ärzte des House of God, ein gemischter Haufen, einige grenzwertig inkompetent, andere Alkoholiker, ein paar Trottel und wenige schlichte Niemandgesichter wie der Fisch und der Leggo. Jerry und Phil war die Aufgabe zugeteilt worden, das oberste Gesetz des Landes zu schaffen, so wie ich mich mit richtigen Körpern und Toten abgeben mußte. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, ihren speziellen Richter von Zeit zu Zeit scharf zu machen und ihn bei Entscheidungen, die Millionen großer Amerikaner betreffen würden, auf eine bestimmte Position zu »hieven«. Die meiste Zeit verbrachten sie auf dem de facto Obersten Hof, dem Basketballplatz im obersten Stockwerk, unmittelbar über den etwas tiefer angesiedelten Räumen des de jure Obersten Gerichtshofs. Und ihr größter Spaß war es, dabei einem reaktionären Schönling aus Nixons Hofstaat die Ellenbogen in die Rippen zu stoßen.

Trotz meiner neuen Neigung, alle Menschen als Kranke zu sehen und ihrer neuen Neigung, alle Menschen als Angeklagte zu betrachten, ging es eine Weile gut. Als wir durch die widerhallenden Marmorflure des Gerichtshof gingen, lachten wir über die verschiedensten Geschichten aus den Klatschkolumnen. Am schönsten war das Gerücht, ein Reporter habe mit einem starken Fernglas von einem versteckten Aussichtspunkt auf den Felsen über San Clemente Nixon und Bebe Rebozo beobachtet, die in ihren schwarzen Anzügen am Strand spazieren gingen. Er wollte gesehen haben, wie der Präsident plötzlich stehenblieb, sich umdrehte und Bebe direkt auf den Mund küßte.

Und doch, weder Freundschaft noch ein Wochenende fern vom House of God konnten meine Wut eindämmen. Daß ich frei war, mich mehr wie ein Mensch fühlte, machte den Kontrast nur noch schmerzhafter. Ich trug mein Mißtrauen und meine Verachtung mit mir herum. Jerry und Phil wunderten sich über meine Heftigkeit und darüber, wie weit ich mich von der englischen sozialistischen Linken zur Alabama-Rechten à la Gath entfernt hatte. Der Zynismus meiner Freunde war nicht zur Paranoia ausgewachsen. Der Besuch endete verstimmt, und im Flugzeug nach Hause sagte Berry:

»Du mußt wieder ganz neu sozialisiert werden, Roy. Jemand, der so zornig ist, kann einfach nicht mit anderen Menschen auf einem Erdball leben. Deine Freunde machen sich echte Sorgen um dich.«

»Du hast recht«, sagte ich und dachte daran, wie jeder Teil meines Lebens unter meinen Erfahrungen im House of God gelitten hatte, wie selbst mein Liebesleben wegen all der scheußlichen Geschlechtskrankheiten erstarrt war und sich verabschiedet hatte.

Es kam noch dicker. Auf der Neujahrsparty, die ich früh verlassen mußte, weil ich ab Mitternacht zum letzten Mal Dienst in der Notaufnahme hatte, einer Party, auf der ich mich ziemlich betrunken hatte, fuhr Berry mich an:

»Ich kenne dich kaum noch wieder, Roy. Du bist nicht mehr wie früher.«

»Du hast recht, was diese Zeit des Jahres angeht«, sagte ich im Gehen. »Es ist krank, es ist verrückt, und es stinkt. Bis dann.«

Ich ging in die bittere Kälte hinaus, durch den gefrorenen Schnee über einen Schneewall, der vom Schmutz der Stadt schwarz geworden war, zu meinem Auto. Wie erschreckend leer war der Raum zwischen dem, was Liebe war und dem, was keine mehr war. Ich setzte mich in den Wagen, angewidert und einsam. Die blauen Bogenlampen unterstrichen das Surreale der Nacht. Berry kam und versuchte, mich zurück zu den Menschen zu ziehen. Sie beugte sich zum Fenster hinein, umarmte mich, küßte mich und wünschte mir ein glückliches Neues Jahr. »Sieh es doch mal so, Neujahr bedeutet, daß du die Hälfte hinter dir hast.«

Ich fühlte mich betrogen. Man hatte mir ein Leben versprochen und dann den Tod gesattelt. Betrunken betrat ich die Notaufnahme und suchte den, der mich betrogen hatte. Genau um Mitternacht, als das alte Jahr sich umdrehte und seinen weißen Bauch zeigte, als das neue Jahr begann, an seinem ersten schwarzen Morgen zu saugen, feierte ein nackter Besoffener den Jahreswechsel, indem er etwas Scheußliches in seinen Schoß kotzte. Ich saß in der Stationszentrale, um mich herum versuchten die Schwestern vergeblich, so etwas wie eine Party zu feiern. Ich beobachtete, wie Elihu und Flash mit schwingenden Hüften und klackenden Absätzen eine Lagerversion der Hora tanzten und mußte an die Follies von Treblinka denken. Und dann an Bilder aus den Lagern, die bei der Befreiung von den Alliierten aufgenommen worden waren. Sie zeigten ausgemergelte Menschen, die durch den Stacheldraht sahen, nur noch Augen. Harte, leere Scheiben. Meine Augen waren auch harte, leere Scheiben geworden. Und doch war etwas hinter diesen Augen, und das war das Schlimmste. Ich mußte mit dem leben, was dahinter war, doch was das war, durfte die Welt nie zu sehen bekommen, weil es mich von ihr trennte, wie es mich gerade von meinen früher besten Freunden und von meiner einen großen Liebe, von Berry, getrennt hatte. Da war Wut und Wut und Wut, die alles verschmierte wie Rohöl die Möwen verschmiert. Sie hatten mich schwer verletzt. Ich hatte keinen Glauben mehr an die anderen in der Welt. Und die ärztliche Versorgung? Eine Farce. Frisieren und abschieben. Drehtür-Versorgung. Ich saß nicht dort, wo der Krankenwagen voller Hoffnung hinfuhr, nein. Das hier hatte keinen Glanz. Mein erster Patient im neuen Jahr war eine Fünfjährige, die in einem Wäschetrockner gefunden worden war, das Gesicht nur noch blutiges Fleisch. Sie war von ihrer schwangeren Mutter mit einer Strumpfhose voller Glasscherben immer und immer wieder geschlagen worden.

Wie sollte ich überleben?