Kapitel 40
Avery besitzt die Fähigkeit, so still zu stehen, dass man glauben könnte, er sei aus Eisen, und zugleich eine so gewaltige Energie auszustrahlen, dass einem das Herz stehen bleibt und man nichts mehr denken oder fühlen kann außer schierem Entsetzen. Gestern auf dem Dachboden habe ich das zu spüren bekommen.
Und jetzt spüre ich es wieder.
Ich muss dagegen ankämpfen, mich beruhigen, meine Angst zurückdrängen und meinen rasenden Puls anhalten. Er mag älter sein als ich, aber ich habe meine Fähigkeiten bei Donaldson und Williams bewiesen. Ich habe das Wissen benutzt, das Avery mir durch sein eigenes Blut übertragen hat, und ich kann es wieder tun.
Er lächelt, als er all das in meinen Gedanken liest und meine starre Körperhaltung richtig interpretiert. »Du bist bereit, gegen mich zu kämpfen.«
Das ist keine Frage, aber auch keine schlichte Feststellung. Er macht einen Witz daraus und lacht über meinen Wagemut. Die Tatsache, dass er das bewusst laut ausgesprochen hat, unterstreicht seine Verachtung angesichts dieser Unverfrorenheit.
Wenn ich muss. Ich will eine Erklärung von dir, warum du das getan hast. Du wusstest, wie viel David mir bedeutet. Mein Haus war nur ein Ding, das du zerstört hast, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, aber David ist eine Person – ein menschliches Wesen. Du hattest kein Recht –
Bevor meine Augen die Bewegung wahrnehmen, bevor ich ausweichen kann, steht er plötzlich auf meiner Seite des Tisches, so nahe, dass ich seinen Atem an meiner Wange spüre. »Sprich nicht durch deinen Geist zu mir. Du bist so an die Sterblichen gebunden, dass du das stolze Erbe der Vampire verunglimpfst. Gebrauche deine Stimme, denn zu mehr hast du kein Recht.«
Er beugt sich über mich, sein Mund ist dicht an meinem Hals. Er schnappt mit den Zähnen, als könnte er sich nur mit Mühe davon abhalten, mir die Kehle herauszureißen. Ich muss mich fragen, warum er es nicht einfach tut.
Er weicht ein paar Zentimeter zurück. »Ich dachte, du wolltest Antworten. Du hast mir in den vergangenen paar Tagen viel Spaß gebracht. Ich werde dir also sagen, was du wissen willst, bevor du stirbst. Aber« – er beugt sich wieder vor – »zuerst musst du mir etwas sagen. Wo hast du David hingebracht?«
Nun bin ich an der Reihe, meinen Zorn hervorblitzen zu lassen. Stur sende ich meine Gedanken zu ihm aus. Er ist in Sicherheit. Und gut geschützt. Du kannst nicht mehr an ihn herankommen, ganz gleich, was mit mir geschieht.
»Ach, meinst du?« Seine Hände umfassen meine Taille, er zieht mich zu sich heran. »Ich werde mir alle Informationen nehmen, die ich brauche. Ich werde sie dir mit dem letzten Blutstropfen aussaugen.«
Jeder Nerv in meinem Körper spannt sich. Adrenalin lässt mein Blut wie Feuer brennen, als ich mich auf den Kampf vorbereite. Dann erinnere ich mich an Williams. Ich leere meinen Verstand, konzentriere mich vollkommen und lasse meine Muskeln sich einen Augenblick entspannen, lange genug, um Avery ein klein wenig zu überraschen. Er hat erwartet, dass ich angreife oder versuche mich loszureißen. Stattdessen lasse ich mich an ihn sinken und lege die Hände auf seine Brust. Bevor er reagieren kann, setze ich jedes Quentchen meiner Kraft ein und schleudere ihn von mir.
Er fliegt rückwärts durch die Luft und kracht in einen der hölzernen Liegestühle auf der Pool-Terrasse. Der Stuhl zersplittert unter seinem Gewicht. Seine Augen weiten sich, dann blitzt etwas darin auf. Plötzlich steht er wieder auf den Füßen, mit einer so schnellen Bewegung, als sei alles nur Illusion. In einer Sekunde liegt er noch am Boden, in der nächsten kommt er auf mich zu.
»Sehr gut. Jetzt ist mir klar, wie du Williams besiegt hast. Nun, den Fehler, deine Kraft zu unterschätzen, werde ich nicht noch einmal machen. Wir wollen doch mal sehen, ob du geistig ebenso stark bist.«
Er bleibt keinen halben Meter vor mir stehen, und ohne jede Vorwarnung verändern sich seine Augen. Gebannt sehe ich zu, wie sich die Pupillen zu Schlitzen verziehen, wie die Augen einer Katze, und die Farbe an Tiefe verliert und durchscheinend wird. Er benutzt diese Augen, um sich in meinen Kopf zu bohren und meinen Geist mit lähmenden Schmerzen zu erfüllen, die mich festnageln. Ich kann nicht einmal die Augen schließen oder die Hände heben, um diesen Blick abzuwehren. Er ist wie ein Laser, der sich in meinen Verstand hineinbohrt, die Information aufspürt und mit weißglühender Präzision herausschneidet.
Dann hört es auf.
Avery lächelt. Seine Augen werden wieder zu denen eines Menschen. »Beso de la Muerte. Sehr einfallsreich.«
Nein.
»Und du hast dir sogar Culebras Unterstützung gesichert. Hm. Er könnte sich als gefährlicher Gegner erweisen. Aber unbesiegbar ist er nicht.«
Lass David aus dem Spiel.
Er beginnt mich zu umkreisen. »Ihn aus dem Spiel lassen? Er ist der Grund dafür, dass ich dich verloren habe. Ich hätte ihn einfach umbringen sollen.«
Und dann? Hättest du dir als Nächstes meine Eltern vorgenommen, und dann Max?
»Falls nötig. Offen gestanden hätte ich von dir erwartet, dass du schon längst begriffen hättest, was Sterbliche für uns sind: Nahrungsmittel, oder eher Vieh, weiter nichts. Ich habe David ausgewählt, um dir diese Lehre zu erteilen, weil er nur ein Freund ist, kein Blutsverwandter oder Geliebter. Wenn er erst aus dem Weg wäre, so dachte ich, könntest du dich weiterentwickeln. Er schien mir am entbehrlichsten zu sein.«
Am entbehrlichsten?
»Wie gesagt, eine Lektion. Du hättest um ihn getrauert, aber das wäre bald vorbei gewesen. Nach deinem Zuhause wäre damit eine weitere Fessel an dein Leben als Sterbliche aus dem Weg geräumt worden. Und wie nach deiner Konfrontation mit den Rächern und auch nach dem Brand, hättest du bei mir Trost gesucht, und ich hätte dich immer wieder daran erinnert, wie vergänglich Bindungen an Menschen sind. Wie ich dir schon sagte, ist das eine Lektion, die man am besten gleich zu Anfang lernt.«
Und dann hätte ich ganz dir gehört.
»Du gehörtest bereits ganz mir. Es bedurfte wirklich nur geringer Verführungskunst, dich in meinen Bann zu schlagen.«
Er umkreist mich immer noch, spielt mit mir Katz und Maus und strahlt eine selbstzufriedene Überheblichkeit aus, die mich wissen lässt, wie unbedeutend ich doch im größeren Zusammenhang bin.
Dein Bann? War das also wirklich ein Zauber? Die Gefühle, die du in mir geweckt hast?
Er schnaubt und wirft die Hände in die Luft. »Bann? Ach, nur eine Redewendung. Es brauchte keine Zauberei, um dich für mich zu gewinnen. Du bist eine sehr erotische Frau, Anna. Ich habe dich in die befriedigendste Vereinigung von allen eingeführt – die Vermengung von Körper, Geist und Blut – und du hast darauf reagiert. Was glaubst du, warum ich David ausgesucht habe und nicht Max? Ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis du Sex mit Max als wenig erfüllend betrachten würdest. Selbst wenn du von ihm getrunken hättest, wäre es nicht dasselbe gewesen. David hingegen hält dich im stärkeren Griff der Freundschaft fest. Diesen Griff musste ich lockern.«
Diese Worte wecken Schuldgefühle in mir, denn ich weiß, dass er recht hat. Ich wollte glauben, dass Avery mich irgendwie verzaubert hatte und ich machtlos dagegen gewesen sei. Doch die Wahrheit ist: Er war der aufregendste Mann, mit dem ich je geschlafen hatte. Sogar jetzt noch kribbelt es am ganzen Körper, wenn ich nur daran denke, wie es mit ihm war.
Er lacht über meine Reaktion. »Siehst du?«
Nein. Ich kann dagegen ankämpfen. Ich muss. Ich schüttele den Kopf und zwinge diese Gefühle zu verschwinden. Er hat mich falsch eingeschätzt. Sex wäre nie genug, um mich alles andere vergessen zu lassen, das er getan hat. Und ich hätte es herausgefunden, so oder so. Er hätte mich meinen Weg selbst wählen lassen sollen.
Avery fängt diesen letzten Gedanken auf.
»Du klingst wie ein quengeliges Kind«, sagt er mit einer wegwerfenden Geste. »Dich deinen Weg selbst wählen lassen. Warum sollte ich? Ich habe dreihundert Jahre lang nach meinem eigenen Willen gelebt. Ich habe stets darüber bestimmt, zwischen welchen Möglichkeiten meine Frauen wählen konnten, nicht umgekehrt.«
Das lässt einen Funken in mir aufglühen. »Was vielleicht auch erklärt, warum Marianna sich das Leben genommen hat.«
Er verhält sich, als hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen. Er fährt zurück, seine Zähne blitzen, seine Augen funkeln vor Wut. »Erwähne ihren Namen nie wieder.«
Habe ich einen wunden Punkt getroffen, Avery? Was wolltest du von Marianna, das sie dazu getrieben hat, sich das Leben zu nehmen? Hast du versucht, sie zu verwandeln? Hast du sie mit Gewalt genommen wie Dena? Hat sie sich geweigert, dir ihr Blut zu geben?
Avery stürzt sich auf mich und drückt mich mit dem Rücken auf den Tisch, bevor ich seinen Angriff abwehren kann. »Ich habe allmählich genug von dieser Unterhaltung«, zischt er mir ins Ohr. »Es ist an der Zeit, sie zu beenden.«
Seine Zähne graben sich in die Haut über meiner Halsschlagader und zerreißen sie. Ich bekomme einen Arm zwischen sein Gesicht und meine Brust und stoße ihn zurück. Er lässt nicht ganz von mir ab, aber ich habe nun genug Platz, um eine Hand unter sein Kinn zu stemmen, die andere gegen seine Brust. Ich schiebe mit ganzer Kraft und kann mir diese schnappenden Zähne vom Hals halten. Aber ich kann seinen Hals auch nicht erreichen, und so sind wir in einer makabren Umarmung gefangen.
Anna, sieh mich an.
Aber ich kneife die Augen zu. Ich weiß, was er vorhat.
Nein.
Mach die Augen auf. Du kannst nicht widerstehen. Das weißt du doch.
Aber ich widerstehe, obwohl ich nicht weiß, wie lange ich ihn mir noch vom Leib halten kann. Er erschöpft meine Kraft und Entschlossenheit. Er ist in meinem Kopf und befiehlt mir, loszulassen, erzählt mir, wie leicht es gehen wird und wie friedlich alles sein wird, wenn es vorbei ist.
Nein. Ich lasse nicht zu, dass er mich tötet.
Ich greife tief in meine innersten Reserven und kanalisiere all meine Wut gegen ihn, sammle sie für einen letzten Stoß. Es ist ein Gefühl, das tief in meinem Bauch entspringt, eine rasende Wut, die Schwung und Kraft gewinnt, bis sie nach außen explodiert. Plötzlich ist es Avery und nicht ich, der rücklings auf dem Tisch liegt. Ich packe seine Arme, schleudere ihn zu Boden und will es beenden. Er wehrt sich, ich fliege durch die Luft und lande in einem Stuhl. Ich spüre, wie er unter mir in Stücke birst. Doch bevor ich das Gleichgewicht wiederfinde, ist Avery über mir und drückt mich nach unten. Sein Gesicht kommt näher, ein Lächeln verzerrt seinen Mund.
Es wäre so schön gewesen, Anna. Ich habe so lange auf eine Gefährtin gewartet, die meiner würdig ist. Ich war glücklich, als ich dich gefunden habe und dir zeigen konnte, was möglich ist. Ich habe dich geliebt. Ich habe dich geliebt.
Sein Schmerz brennt in mir, erst die Liebe, dann der Hass. Er sengt eine Spur durch mein Gehirn, durchtrennt Nervenbahnen und zerfetzt mein Fleisch. Ich fühle, wie mir die Haut vom Körper geschält wird. Er gebraucht weder seine Zähne, noch trinkt er mein Blut. Die Intensität seines Hasses zieht mir die Haut wie mit einem Messer vom Leib. Ich brenne. Er will mich leiden lassen, bevor er es beendet.
Verzweifelt taste ich nach etwas, irgendetwas, das ich als Waffe benutzen könnte. Meine Hand schließt sich um eine Holzspindel, die Armlehne des Stuhls, auf dessen Überresten ich liege. Ich schnappe sie mir, packe sie mit beiden Händen und stoße sie blitzschnell Avery in den Rücken.
Einen Augenblick lang bleibt die Zeit selbst stehen. Averys Gesicht hängt über mir, sein Blick spiegelt Überraschung, dann Traurigkeit. Ein jämmerliches Heulen bricht aus ihm hervor, und im nächsten Augenblick ist er verschwunden.