Kapitel 22
Hinter dem Felsbrocken öffnet sich gähnend der Mineneingang. Hier gibt es Licht. Glühbirnen hängen an Haken und erstrecken sich wie eine überdimensionale Lichterkette in den Tunnel hinein und außer Sicht. Es gibt hier keine Nischen, keine Verstecke. Wenn ich also jemandem begegnen sollte, habe ich zwei Möglichkeiten – mich an ihnen vorbeireden oder sie mit dem Taser überwältigen.
Ich löse den Taser von meinem Gürtel und halte ihn bereit.
Ich schiebe mich an der Wand entlang und folge ihr, bis sich der Tunnel nach etwa vierhundert Metern teilt. Der linke Gang ist dunkel, die Lichterkette folgt dem rechten. Das tue ich auch. Es ist feucht hier drin, und es riecht nach Erde und dem Mief zusammengepferchter Menschen, doch bisher ist mir niemand begegnet. Ich habe auch keine leise Unterhaltung irgendwo gehört oder Gedankenfetzen eines Vampirs aufgefangen. Die Mine scheint verlassen zu sein.
Vorsichtig schleiche ich weiter. Ich treffe auf Verschläge, die mit Decken abgeteilt sind – offenbar wohnt hier jemand. In jedem Verschlag liegt ein Haufen persönlicher Dinge – Kleidung, Schuhe, ein Buch hier und da, Radios, sogar ein, zwei Fernseher, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass die im Inneren einer Mine Empfang haben könnten. Strohhaufen dienen als Betten; Kochplatten und Konservendosen sorgen für das leibliche Wohl. Bis auf die Vampirwohnungen, natürlich. In denen gibt es keine Kochplatten. Ich frage mich, ob die Vampire Beso de la Muerte verlassen, um ihre Mahlzeit einzunehmen, oder ob sie eine Art Handel mit ihren Nachbarn geschlossen haben und sich von diesen ernähren. Für einen guten Preis, da bin ich sicher.
Es gibt auch eine provisorische Krankenstation, wie ein Feldlazarett mit zwei Edelstahl-Rollbahren und diesen Ständern, an denen man Infusionen aufhängt. In diesem Raum gibt es ansonsten nur noch einen Schrank und einen Kühlschrank an der hinteren Wand. Keine tollen medizinischen Apparate – keine Monitore oder Computer. Ein Krimineller, der als medizinischer Notfall hier landet, kann natürlich kaum mehr erwarten.
Ich mache kehrt und suche alles noch einmal ab, um vielleicht herauszufinden, welches der Vampirkämmerlein Donaldsons ist. Ich finde es, als ich ein Foto von Donaldson mit seiner Frau und den Kinderchen auf einem Stapel Zeitschriften neben seinem Bett entdecke. Das Foto wirkt hier völlig fehl am Platz, nicht nur, weil es in dieser Höhle liegt, sondern auch, weil ich den Eindruck hatte, dass Donaldson diese Welt hinter sich gelassen hätte. Warum sollte er ein Foto bei sich behalten, das ihn nur an all das erinnert, was er aus eigenem Entschluss zurückgelassen hat?
Danach muss ich ihn fragen, wenn ich ihn in die Finger bekomme.
Ich stöbere weiter herum, finde aber keine Hinweise darauf, dass David hier sein könnte. Ich weiß auch nicht, was ich erwartet hatte, aber irgendetwas müsste ich doch finden? Und sei es nur Essen und Wasser, die Donaldson nicht braucht. Die Tatsache, dass rein gar nichts da ist, weckt das vertraute Grauen in mir. Hat Donaldson ihn schon umgebracht? Liegt David verletzt irgendwo da draußen in der Wüste?
Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Jetzt muss ich eine Entscheidung treffen. Soll ich abwarten, bis Donaldson wieder aus dem Saloon kommt, oder soll ich ihn holen? Ich überlege hin und her, während ich den Weg zum Tunneleingang zurücklege. Ich habe noch immer niemanden gesehen, und das ist irgendwie unheimlich. Sind denn alle im Saloon? Oder sind ein paar in die Stadt gefahren? Avery hat nie erwähnt, wie viele Desperados in Beso de la Muerte leben, doch aus den Wohnquartieren zu schließen, hätte ich sogar mehr als die fünfzehn, zwanzig Leute erwartet, die sich schätzungsweise gerade hier aufhalten. Und offenbar ist nicht eine einzige Frau darunter. Weibliche Desperados finden die Vorstellung, wie eine Fledermaus in einer feuchten Höhle zu hausen, wohl nicht sehr reizvoll.
Bis auf das Busenwunder drüben im Saloon natürlich.
Was mich wieder zu Donaldson bringt. Ich könnte ihn mit einem gedanklichen Vampirsignal herauslocken. Aber würde nur er es auffangen oder auch alle anderen Vampire? Ich will nicht abgelenkt oder von einem ganzen Mob attackiert werden. Ich will nur Donaldson.
Also verstecke ich mich hinter dem Saloon und warte. Die Wüstenluft hat sich abgekühlt, doch der Sand unter meinen Füßen hat die Wärme des Tages gespeichert. Ich sende vorsichtig meine Gedanken aus, um nachzusehen, wie er bei dem Mädchen in der Bar vorankommt. Ich empfange von ihm nur dasselbe laszive, fleischliche Verlangen, nun zusätzlich vom Alkohol angeheizt. Er hängt mit den anderen Vampiren im Saloon herum, und sie schließen Wetten ab, wer sie heute Nacht ins Bett kriegen wird. Sofern sie in dieser Angelegenheit eine Wahl hat, spielt das in den Gedanken der männlichen Vampire keine Rolle.
Nach einer Stunde verliere ich die Geduld. Donaldson zeigt keinerlei Anzeichen, sich von der Stelle zu rühren, also muss ich dafür sorgen. Ich schiebe mich in Donaldsons Geist und stupse ihn erst einmal nur sacht an, damit er merkt, dass jemand Kontakt mit ihm sucht.
Er reagiert sofort. Ich wusste doch, da war jemand. Wer bist du?
Ich wünschte, ich könnte sein Gesicht sehen, um seine Reaktion besser einschätzen zu können. Aber das kann ich nicht, also bleibt mir nichts anderes übrig, als das Spielchen weiterzutreiben.
Komm doch heraus und sieh nach.
Ein Schnauben. Wohl eher nicht. Komm du herein.
Ich bin nicht gern unter so vielen Menschen. Außerdem haben wir etwas Privates zu besprechen.
Was denn?
Das wirst du herausfinden, wenn wir uns draußen treffen.
Was springt für mich dabei heraus?
Was willst du denn?
Eine Pause entsteht, während er über die Antwort nachdenkt. Ich nutze die Zeit, um mich zu sammeln. Es ist verdammt anstrengend, jede Spur meiner Identität aus dieser Kommunikation herauszuhalten. Er soll völlig überrascht sein, wenn er mich sieht. Denn wie er dann reagiert, wird mir eine Menge verraten.
Wie siehst du aus?
Wie bitte?
Wie siehst du aus? Ich will wissen, ob du was zu bieten hast, wofür es sich lohnen würde, die hier aufzugeben.
Herrgott. Typisch Mann. Denkt mit dem Schwanz. Vielleicht kann ich das zu meinem Vorteil nutzen.
Ich lege ein Schnurren in meine geistige Stimme. Du hast dich jedenfalls nicht beklagt, als wir letztes Mal zusammen waren.
Ich spüre, wie sein Interesse trotz des Alkoholpegels geweckt wird. Wir sind uns also schon mal begegnet?
So könnte man es auch ausdrücken. Ja.
Ein Grinsen schwingt in seiner Stimme mit. Was sagtest du noch gleich, wo ich dich finde?
Draußen. Direkt hinter dem Saloon.
Ich bin gleich da.
Er verschließt seinen Geist, wodurch ich mich im Nachteil befinde. Ich nehme an, er tut das, damit seine Freunde nichts von seinem Plan mitbekommen, doch dass er damit auch mich ausschließt, passt mir nicht.
Ich hole den Taser hervor und halte ihn bereit. Anscheinend hat der Saloon keine Hintertür, was bedeutet, dass Donaldson entweder von links oder von rechts um das Gebäude herum kommen muss. Hier gibt es keine Deckung, und Donaldsons Nachtsicht wird es ihm ermöglichen, mich im selben Moment zu sehen, in dem ich ihn sehe. Vielleicht hätte ich doch ein Treffen in der Mine arrangieren sollen.
Die Saloontüren knarren. Ich ducke mich und warte auf das Geräusch von Schritten, das mir sagen wird, aus welcher Richtung er kommt.
Eine Minute vergeht, dann zwei.
Es sind keine Schritte zu hören.
Was tut er bloß? Hat er es sich anders überlegt? Steht er auf den Stufen vorne und raucht eine verdammte Zigarre, während er darüber nachdenkt, ob er mich treffen will oder nicht? Soll ich ihn noch einmal fragen?
Nicht nötig, Anna. Ich bin hier.
Die Stimme ist so nahe, dass sie in meinem Kopf widerhallt wie ein Schrei. Ich habe mich so auf den Bereich vor mir konzentriert, dass sein Erscheinen von hinten mich völlig überrumpelt.
Genau wie damals.
Doch diesmal lasse ich den Taser nicht fallen, und ich lasse mich auch nicht von seinem plötzlichen Auftritt aus der Fassung bringen. Ich richte mich auf und drehe mich zu ihm um.
Du erkennst mich also wieder.
Er lächelt ein verhaltenes, schmallippiges Lächeln. O ja.
Dann kannst du dir wohl auch denken, warum ich hier bin, nicht wahr?
Weil du meine besondere Technik beim ersten Mal so genossen hast, dass du gern eine kleine Zugabe hättest? Nein, Moment, das ist ja gar nicht nötig. Du hast dir schon genommen, was du wolltest. Weißt du, ich bin derjenige, der sich vergewaltigt fühlen sollte. Ich wollte nur ein bisschen Spaß. Und sieh dir an, was du daraus gemacht hast.
Ich bebe vor Wut. Der Drang, ihn zu töten, ist so stark, dass allein das Bild von David vor meinem geistigen Auge mich davon abhält, ihn sofort anzugreifen.
Mit gewaltiger Anstrengung beruhige ich mich und gebe ihm einen Wink mit dem Taser. Gehen wir ein bisschen spazieren.
Doch er scheint sich weder um den Taser noch um meine Gedanken zu scheren. Warum sollte ich mit dir spazieren gehen wollen?
Wenn du es nicht tust, werde ich dich mit diesem Ding hier lahmlegen und ins Gebüsch zerren, um dir den Schädel mit einem Stein einzuschlagen.
Er schnalzt mit der Zunge. Du meine Güte. Für so ein kleines Mädchen bist du ganz schön unverschämt.
Er will mich reizen, und ich muss es schlucken. Ich muss mich von der Wut zurückziehen, die meine Vernunft außer Kraft zu setzen droht. Dem Scheißkerl, der mein Leben völlig aus der Bahn geworfen hat, so nahe zu sein, macht mir mehr zu schaffen, als ich erwartet hätte. Ich muss mich daran erinnern, weshalb ich hier bin. David.
Er fängt all das auf und reagiert nun endlich. Wer ist David?
Das löst einen weiteren Anfall blinder Wut aus. Spiel nicht Katz und Maus mit mir, Donaldson. Glaub mir, ich würde nichts lieber tun als dich umbringen. Der einzige Grund, weshalb ich das noch nicht getan habe, ist der, dass ich von dir hören will, was du mit David gemacht hast.
Er überlegt einen Moment und durchsucht meinen Geist. David? Ah, der Kerl aus der Sportbar. Das war ja mal ein schmutziger Trick. Und ich habe ihn mit dir gesehen, bei dem Brand, nicht wahr?
Auch den habe ich dir zu verdanken, du elender Bastard. Warum hast du das getan? Du musst doch gewusst haben, dass ich nicht im Haus war. Selbst wenn du nicht hineingegangen wärst, du hättest es gespürt.
Er schüttelt den Kopf, als würde ich wirres Zeug reden. Ich weiß ja nicht, woher du deine Informationen beziehst, aber du brauchst dringend eine neue Quelle. Ich habe dieses Feuer nicht gelegt. Ich wusste nicht mal, dass das dein Haus war.
Ach so, na klar. Du warst ganz zufällig in der Nähe, als es gebrannt hat.
Genau so war es, ja. Ich wurde gerufen. Ich weiß nicht, von wem. Aber als ich dich gesehen habe, bin ich möglichst schnell verschwunden. Ich dachte mir schon, dass du vielleicht ein bisschen sauer auf mich bist, wegen – na ja, du weißt schon.
Donaldson, du bist ein verfluchter Lügner, aber in einem Punkt hast du recht, ich bin verdammt sauer auf dich. Das Feuer ist mir im Moment scheißegal. Ich will wissen, wo du David hingebracht hast.
Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich nichts über deinen Freund weiß.
Das reicht. Ich schnelle vor und drücke ihm den Taser gegen den Bauch. Ich frage mich, was passieren wird, wenn ich den Abzug betätige. Wirst du hüpfen und zappeln wie ein Fisch am Haken oder einfach hintenüberkippen? Mir ist es ziemlich egal.
Er reagiert noch immer nicht mit dem leisesten Hauch von Angst. Nein, blinde Gleichgültigkeit ist die einzige Empfindung, die ich auffange. Das macht mich nur noch wütender. Ich habe den Taser auf Kontaktmodus gestellt und drücke den Abzug.
Eine solche Elektroschockpistole leitet 50000 Volt bei 162 mA in den Körper, so dass der Stromstoß ins Nervensystem dringt und das Opfer lähmt. Es spielt auch keine Rolle, wohin man zielt, denn das Nervensystem durchdringt den gesamten Körper. Ich halte das Ding direkt an Donaldsons Bauch, als ich abdrücke, doch ich bekomme nicht die erwartete Reaktion.
Nein, ich bekomme überhaupt keine Reaktion.
Er starrt mit einem verwunderten Gesichtsausdruck auf mich herab, der beinahe augenblicklich einem höhnischen Grinsen weicht. Ach, Anna. Anna. Du hast noch so viel zu lernen.
Dann versetzt er mir mit dem Handrücken einen Schlag, dass ich im Staub lande. Das kommt so unerwartet, dass ich erst mal eine Minute brauche, bis ich wieder ganz bei mir bin. Aber er setzt nicht nach, und das soll er bereuen. Ich springe auf, und vor Wut wummert mir das Blut in den Ohren. Ich spüre es durch meinen Kopf und meinen ganzen Körper rauschen, voll ungezügeltem Zorn. Es ist wild, tierisch und hässlich, und es wird mir helfen, das zu tun, was ich sofort hätte tun sollen, als Donaldson aufgetaucht ist.
Diesmal greife ich ihn mit Fäusten und Zähnen an. Diese Wildheit überrascht ihn, doch er fängt sich schnell. Er hält sich zurück und begeht den Fehler zu glauben, er sei stärker, weil er männlich ist. Er vergisst dabei eine Tatsache, die in der Natur sehr wichtig ist. Das Weibchen ist immer die bessere Jägerin und oft brutaler als das Männchen. Als ich mich auf ihn stürze, versucht er, den Angriff zu parieren und zurückzuweichen. Ich lasse es zu. Ich konzentriere mich auf mein Inneres und lege jedes Quentchen vampirischer Kraft in jeden einzelnen Schlag. Ich ziele mit den Fäusten auf seinen Magen, mit den Zähnen auf seine Kehle. Ich könnte ihn auslaugen – er ist im Nachteil, denn er hat viel Bier getrunken –, doch ich will mir nicht so viel Zeit nehmen. Mit einem endgültigen, entschlossenen Schlag stoße ich ihn zu Boden, und er landet auf dem Rücken im Dreck. Ich schlage mit beiden Fäusten auf seinen Bauch ein und setze die Zähne an seine Halsschlagader.
He, Donaldson, bist du wach? Ich will dich wach haben, sonst macht es keinen Spaß.
Zum ersten Mal fange ich eine leise Besorgnis auf, die durch den Bierdunst in Donaldsons Kopf dringt. Nun endlich dämmert ihm, dass er in Schwierigkeiten stecken könnte. Er versucht, seinen Kumpels im Saloon ein »SOS« zu schicken, aber das unterbinde ich mit einem Knurren. Meine Zähne berühren seinen Hals.
Lass das. Sonst reiße ich dir die Kehle heraus. Das ist ein kleiner Trick, den ich von dir gelernt habe.
Er lässt es bleiben, und sein Verstand schließt sich halb. Was willst du?
Das habe ich dir schon gesagt. Ich will wissen, wo du David hingebracht hast.
Und ich habe dir schon gesagt, dass ich ihn nicht habe. Du kannst gerne nachsehen. Komm in meinen Kopf. Was siehst du?
Diesmal verzichte ich auf jegliche Finesse. Ich drücke seinen Kopf in den Dreck und stoße in seinen Geist vor wie mit einem Flammenwerfer. Ich lese dort Verwirrung über das, was gerade geschieht; Ärger darüber, dass ich ihn überwältigt habe; das selbstgefällige Wissen, dass er mich trotzdem besiegen könnte, wenn er wirklich wollte; und Lust, ausgelöst von meinem Becken, das sich gegen seine Lenden presst. Er windet sich unter mir, als dieser letzte Gedanke eine körperliche Reaktion hervorruft.
Herrgott. Donaldson, du bist pervers.
Er versucht sich aufzurichten, doch ich stoße ihn zurück. Diesmal lege ich einen Arm über seine Kehle. Ich bin immer noch nicht davon überzeugt, dass er David wirklich nicht hat. Und das schmälert meine Geduld mit diesem Kerl von Minute zu Minute.
Er spürt das. Er versucht mich abzuschütteln, doch ich habe nicht vor, ihn einfach gehen zu lassen. Ich drücke den Ellbogen in seine Halsschlagader. Das geschieht instinktiv, nehme ich an. Bei einem Sterblichen hätte ich mir die Luftröhre ausgesucht, doch da wir Vampire ja nicht atmen, erscheint es mir logisch, dass Druck auf die Halsschlagader eine ähnliche Wirkung hervorrufen müsste.
Und so ist es. Als ich spüre, dass er gleich das Bewusstsein verlieren wird, gebe ich gerade so viel nach, dass meine Stimme zu ihm durchdringt.
Wo ist er?
Donaldson würgt und schüttelt den Kopf.
Ich drücke wieder fester zu.
Wo ist er?
Diesmal liegt echte Panik in seiner Stimme. Ich weiß es nicht. Du musst mir glauben. Ich habe ihn nicht entführt. Warum sollte ich?
Um mich hierher zu locken, Arschloch. Damit du zu Ende bringen kannst, was du auf diesem Parkplatz angefangen hast.
Was soll der Unsinn? Du bist keine Bedrohung für mich. Ganz im Gegenteil. Du hast doch die Oberhand.
Das klingt wahr. Trotzdem will ich ihm nicht glauben. Wenn er David nicht hat, wer hat ihn dann?
Ich glaube, ich weiß es.
Wie bitte?
Ich glaube, ich weiß, wer deinen Freund entführt haben könnte.
Ich lehne mich ein wenig zurück, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Wenn du mich verscheißern willst, Donaldson –
Nein. Lass mich los, dann sage ich es dir.
Lieber nicht. Ich denke, du solltest es mir jetzt gleich sagen.
Mein Ellbogen liegt wieder an seinem Hals. Ich lehne mich schwer darauf. Ihm wird schwindelig. Ich empfange kleine, blitzende Lichtpunkte aus seinem Geist. Als würde ich mir ein Feuerwerk anschauen. Interessant. Ich drücke noch fester zu.
Donaldsons Augen sind weit aufgerissen; Schrecken und Furcht in seinen Gedanken »schmecken« wie ein starker Cocktail aus Adrenalin und Angst. Ich genieße diesen Cocktail; ich lasse ihn durch meine eigenen Gedanken rinnen, ein Teil meines Bewusstseins werden. Das ist ein phantastisches Gefühl. Machtvoll. Sexy. Jetzt verstehe ich den Zusammenhang zwischen Macht und Sex. Die Erkenntnis, dass ich ein Leben auslöschen kann – und sei es ein so wertloses wie Donaldsons –, ist berauschend.
Anna, genug jetzt.
Die Stimme, die mich bei Avery zurückgehalten hat, ist wieder da. Meine eigene innere Stimme.
Ich will aber nicht aufhören.
Du musst. Du darfst ihn nicht töten.
Warum nicht?
Weil es falsch ist.
Das reicht mir nicht.
Dann denk daran, was mit David geschehen wird, wenn du ihn tötest. Er sagt, er wüsste vielleicht, wer ihn entführt hat.
Wahrscheinlich lügt er.
Kannst du dieses Risiko eingehen?
Widerstrebend lockere ich den Druck. Nein.
Ich rolle mich von ihm herunter, bleibe neben ihm liegen und starre in den kalten, dunklen Himmel. Ich kann spüren, wie er neben mir seine Kräfte sammelt. Als ich sicher bin, dass er sich genug erholt hat, um meine Frage beantworten zu können, reiße ich ihn hoch, so dass er vor mir sitzt.
Das ist deine letzte Chance. Wer hat David?
Doch bevor er antworten kann, ist ein heulendes Zischen zu hören, wie das hohe Summen eines Insekts. Donaldson zuckt in meinem Griff zusammen. Fassungslos blickt er auf seine Brust hinab.
Ich folge seinem Blick. Eine Pfeilspitze ragt aus seinem Hemd. Sein Mund öffnet und schließt sich wie der eines Fischs an der Luft. Ungläubig sehe ich zu, wie er in meinem Griff zerfällt, zusammenschrumpft und sich schließlich zu einem Wölkchen Asche auflöst, das davongeweht wird, als ein leichter Windhauch über uns hinwegstreicht.
Alles geschieht so schnell, und dann ist er einfach verschwunden.