Kapitel 7
Als er mich sieht, stößt er sich vom Gartentor ab und kommt mir bis zur Strandpromenade entgegen. »Ihr Haus gefällt mir sehr«, sagt er begeistert.
Er grinst und sieht sich um, was mir Gelegenheit gibt, ihn unauffällig zu mustern. Als ich ihn zuletzt gesehen habe, trug er Krankenhauskleidung und war von Kopf bis Fuß mit Stoff bedeckt. Jetzt jedoch, in dieser Aufmachung, bietet sich mir ein Blick auf muskulöse Arme, kräftige Schultern und lange, starke Beine, alles braun gebrannt. Ich brauche einen Moment, um meinen Blick von dieser unerwartet sportlichen Figur loszureißen und ihm wieder ins Gesicht zu sehen. Er trägt eine schwarze Ray-Ban-Sonnenbrille, die seine Augen verbirgt, doch sein Mund lässt ungenierte Belustigung erkennen, während er zusieht, wie ich ihn anstarre.
Ich setze eine betont neutrale Miene auf, als ich ihm wieder ins Gesicht schaue. »Wollten Sie die OP-Klamotten holen?«, frage ich. »Ich hätte sie schon zurückgebracht. Sie hätten nicht extra herkommen müssen.«
»Nein, ich bin nicht wegen der Sachen hier.« Er grinst ein wenig breiter und lässt einen Schlüsselbund mit einem Autoschlüssel vor meiner Nase klimpern.
Der Schlüsselbund kommt mir sehr bekannt vor. »Sind das meine?«
»Ja. Ich dachte, Sie hätten vielleicht gern Ihr Auto wieder. Ich habe dafür gesorgt, dass Sie es zurückbekommen.« Eine kurze Pause. »Ich habe mir auch die Freiheit genommen, es gründlich reinigen zu lassen. Es war, nun ja, in einem ziemlichen Zustand, innen, meine ich.«
Ich nehme die Schlüssel aus seiner ausgestreckten Hand und sehe ihn mit hochgezogenen Brauen an. »Wie haben Sie es geschafft, an mein Auto zu kommen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Polizei es Ihnen einfach so überlassen würde.«
Er zuckt mit den Schultern. »Ich habe Freunde, ganz oben.« Er blickt über meine Schulter. »Wo wir gerade von Freunden sprechen, wo ist eigentlich Ihr Michael? Ich dachte, er sollte Sie nach Hause bringen.«
Ich zögere. Welche Ausrede kann ich dafür vorbringen, dass ich allein bin?
Doch er gibt mir keine Gelegenheit, mir irgendetwas auszudenken. Er kommt direkt zur Sache und zwinkert mir verschwörerisch zu. »Ich hatte mir schon gedacht, dass Sie ihn nicht angerufen haben.«
Seine Selbstgefälligkeit geht mir auf die Nerven.
»Ach ja? Woher wollen Sie das wissen? Er könnte doch gerade da drin sein und uns Abendessen machen.«
Diese fedrig feinen Lachfältchen, die mir schon im Krankenhaus aufgefallen sind, breiten sich unter der Sonnenbrille aus. »Und, ist er da?«
Äh, nein. Aber das werde ich Dr. Avery nicht sagen. Und woher zum Teufel weiß er eigentlich, dass ich Michael nicht angerufen habe?
»Dachte ich’s mir doch«, erwidert er. »Sie haben sich ein Taxi rufen lassen, das Sie abholen sollte. Damit haben Sie sich wohl verraten.«
Mir bleibt kurz der Mund offen stehen. Habe ich das laut gesagt?
»Nein«, antwortet er.
Das reicht. Jetzt wird er mir unheimlich. »Also schön.« Ich lasse meine Stimme knallhart klingen. »Können Sie Gedanken lesen? Ist das irgendein Trick?«
Er legt eine Hand an meinen Ellbogen und führt mich zum Gartentor. »Bitten Sie mich doch herein«, sagt er. »Dann werde ich alle Ihre Fragen beantworten.«
Ich weiche zurück. »Nein danke.« Ich lade keine fremden Männer in mein Haus ein, und dieser Mann ist nicht nur fremd, sondern obendrein merkwürdig. Ich will nicht mit ihm allein sein, Arzt hin oder her.
Dr. Avery setzt seine Sonnenbrille ab. Sein Blick hält mich gefangen. »Ich werde Ihnen nichts tun, Anna«, sagt er leise. »Im Gegenteil, ich kann Ihnen helfen. Sie haben viele Fragen über das, was mit Donaldson geschehen ist. Ich habe die Antworten.«
Seine Stimme, samtig, aber fest und beharrlich, lässt eine angenehme Ruhe durch meinen Körper strömen. Ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass er mir nichts tun wird. Ohne zu zögern, gehe ich voran zu Tür, schließe auf und halte sie ihm auf, damit er vor mir eintritt. »Willkommen in meinem Haus.«
Als Dr. Avery auf dem Sofa Platz nimmt, grinst er zu mir hoch und sagt wieder: »Ihr Haus gefällt mir wirklich sehr. Es ist phantastisch.«
Aber ich will mich nicht ablenken lassen. Nun, da wir drin sind, fällt diese unerschütterliche Sicherheit, die ich gerade noch gefühlt habe, von mir ab. Ich setze mich auf die Sesselkante ihm gegenüber. »Also, was können Sie mir über Donaldson sagen?«
Sobald die Frage ausgesprochen ist, hallt eine primitive Warnung durch meinen Verstand. Was könnte er schon über Donaldson wissen? Außer, er hat neue Testergebnisse bekommen, und –
»Nein, nein, es ist nichts Medizinisches.«
Er hat es schon wieder getan. Ich springe vom Sessel und baue mich vor ihm auf, kochend vor Wut. »Okay, das reicht. Wie machen Sie das? Das ist nicht lustig, das ist nicht faszinierend, und Sie gehen mir damit tierisch auf die Nerven.«
Mein Wutausbruch beeindruckt ihn nicht im Mindesten. Er schlägt ein braungebranntes Bein über das andere und sieht mir direkt in die Augen.
Versuchen Sie es doch mal selbst.
Die Stimme kommt aus dem Nichts. Oder vielmehr, ich höre sie in meinem Kopf.
Sehen Sie?, fährt die Stimme fort. Jetzt versuchen Sie, etwas zu mir zu sagen.
»Was zum Teufel soll das heißen?«
Nein. Dr. Avery runzelt leicht die Stirn, als müsse er sich konzentrieren. Antworten Sie nicht mit Ihrer Stimme. Benutzen Sie Ihren Geist.
Sind Sie verrückt?
Er strahlt. Das war doch gar nicht so schwer, oder?
Ich lasse mich wieder auf den Sessel sinken, denn vor Überraschung und Grauen wird mir schwindelig. Habe ich das tatsächlich gerade getan? Meine Gedanken zu ihm … projiziert?
Natürlich haben Sie das, antwortet Dr. Avery, der übers ganze Gesicht strahlt wie ein Kind an Weihnachten. Stolz, Freude und Staunen mischen sich auf seinem Gesicht. Sie lernen wirklich schnell. Das wusste ich, sobald ich Sie im Krankenhaus gesehen habe.
Was haben Sie im Krankenhaus gesehen?
Ich halte ihn auf, bevor er mir auf diese unheimliche telepathische Art antworten kann. Ich hebe die Hand und sage grimmig: »Nein. Sprechen Sie mit mir. Ganz normal. Sonst werde ich noch verrückt.«
Ein Schatten der Enttäuschung dämpft das Leuchten auf seinem Gesicht. »Ich dachte, Sie würden sich zumindest freuen zu wissen, welch gute Fortschritte Sie machen. Die meisten kommen nicht so schnell so weit voran.«
»Die meisten was?«
Er wirft mir einen Seitenblick zu. »Kommen Sie. Sie müssen doch wissen, zu was Sie gerade werden.«
Die Härchen in meinem Nacken sträuben sich, und ich bekomme eine Gänsehaut. »Zu was ich werde?«
Er denkt: Sie hört sich allmählich an wie ein Papagei.
Mein Gott, woher weiß ich, was er denkt?
Laut sagt er: »Ich wusste, dass Sie ein paar Fragen über Donaldson haben würden, aber ich dachte, es ginge dabei eher um Was habe ich noch zu erwarten, und wie gehe ich damit um?«
»Wie gehe ich mit was um?«
Endlich scheint Avery aufzugehen, dass wir aneinander vorbeireden. Vielleicht ist er doch kein so guter Gedankenleser, wie er dachte.
Oh, normalerweise bin ich das, kommt sofort die Antwort. Ich verstehe das nicht.
Er versteht das nicht?
Ich bin wieder auf den Beinen und gehe wie eine Irre vor ihm auf und ab. »Hören Sie auf damit. Drängen Sie sich nicht so in meinen Kopf. Hören Sie mir zu. Was sind Sie? Zu was soll ich ›werden‹? Was hat das alles mit Donaldson zu tun? Herrgott, ich habe allmählich das Gefühl, ich werde verrückt.«
Er zögert nur eine Sekunde und mustert mich mit geschürzten Lippen. Dann steht er ebenfalls auf. Er nimmt meine Hand und führt mich zu dem Wandspiegel neben der Tür. »Sehen Sie mich an, Anna.«
Ich fürchte mich ein wenig, hebe aber doch den Blick zum Spiegel. Ich spüre seine Hand, fühle, wie nah sein Körper neben meinem steht. Aber da ist kein Spiegelbild. Keines. Und mein eigenes Spiegelbild ist neblig und verschwommen, und während ich hinsehe, verblasst es noch mehr.
Ich mache einen Satz rückwärts, und mein Herz hämmert dermaßen, dass ich fürchte, es könnte platzen. »Das kann nicht wahr sein.«
Warum zweifeln Sie daran?
»Hören Sie auf.« Mein Schock weicht rasendem Zorn. Ich reiße die Haustür auf. »Raus hier. Ich will Sie nicht mehr in meinem Haus haben.«
Er rührt sich nicht, sondern sieht mich nur mit traurigem, mitfühlendem Blick an. »Das geht nicht, Anna. Sie brauchen mich. Und um die Wahrheit zu sagen, ich brauche Sie auch. Da ist etwas, das Sie tun müssen, bevor Sie in die Familie aufgenommen werden können.«
Familie? Ich mag mir gar nicht vorstellen, was für eine Familie das sein könnte.
»Die einzige, die Sie jetzt noch haben«, antwortet Avery, ohne dass ich laut danach gefragt hätte. »Nun, da Sie ein Vampir sind.«