Kapitel 13

Vielleicht hätte ich ihn doch nicht bitten sollen, so direkt zu sein. Ein Lachen steigt in mir auf. »Du machst Witze, oder?«

Kommt es dir denn so vor, als würde ich scherzen?

Der Drang zu lachen entweicht aus mir wie Luft aus einem angestochenen Ballon. Nein, tut es nicht. Aber ich verstehe das nicht. Gerade eben hast du behauptet, ich wäre nicht wie Donaldson. Jetzt sagst du mir, ich solle ihn finden und umbringen.

Er zögert einen Herzschlag lang, dann fragt er: »Hast du heute Abend noch nicht ferngesehen? Oder die Nachrichten im Radio gehört?«

Ich schüttele den Kopf.

Avery blickt grimmig drein und runzelt die Stirn. Er stützt die Ellbogen auf den Schreibtisch und beugt sich zu mir vor. Donaldson hat wieder getötet. Zwei weitere Opfer wurden in der Nähe der Grenze gefunden. Er wird immer dreister und unvorsichtiger. Chief Williams ist es gelungen, die meisten Einzelheiten vor der Presse geheim zu halten, aber es wird nicht lange dauern, bis die Tatsache durchsickert, dass ein Mörder frei herumläuft, der seine Opfer ausblutet.

Ich springe auf und gehe vor dem Schreibtisch auf und ab. Aber die Polizei sucht doch nach Donaldson. Sie werden ihn finden und verhaften.

Das ist nicht unsere Art.

Wie bitte?

Wir müssen uns selbst um unsere Leute kümmern, Anna. Wir können es nicht riskieren, dass die Öffentlichkeit durch diese Sache auf unsere Gemeinde aufmerksam wird. Denk daran, was ich dir über die Leute erzählt habe, die versuchen, uns aufzuspüren und zu zerstören. Donaldsons Opfer sind genau die Anzeichen, nach denen diese Leute suchen. Chief Williams mag sehr einflussreich sein, aber diese Morde werden dennoch nicht unbemerkt bleiben.

Aber niemand wird es merken, wenn ich ihn aufspüre und umbringe?

Wenn du vorsichtig bist.

Argwohn verdrängt jetzt meine Überraschung, vor allem, da Avery seine Gedanken wieder sorgfältig verschließt. Ich lasse meine Zweifel in meine Stimme einfließen. »Ist das ein abgekartetes Spiel?«

Er blickt verwundert drein. »Ein abgekartetes Spiel? Was soll das heißen?«

Ich weise auf die Tür. »Ich meine, ich wurde nicht eingeladen, mich deinem exklusiven kleinen Kreis anzuschließen. Vielleicht willst du mich loswerden, indem du mich auf Donaldson ansetzt.«

»Wenn ich dich loswerden wollte, Anna, hätte ich dich schon im Krankenhaus töten können. Du hattest viel Blut verloren. Ich hätte dir leicht den Rest aussaugen können, und niemand hätte etwas bemerkt.«

Diese abrupte Antwort klingt aufrichtig, und seine Gedanken bestätigen die Wahrheit.

»Warum hast du dann mich dafür ausgewählt? Es gibt gewiss Leute, die besser qualifiziert wären als ich.«

Er sieht mich an, als hätte ich eine sehr dumme Frage gestellt. »Warst du nicht auf Donaldsons Spur, als er dich angegriffen hat? Bestreitest du damit nicht deinen Lebensunterhalt?«

Nun bin ich an der Reihe, ihn anzustarren. »Mit einem gewaltigen Unterschied. Als ich Donaldson verfolgt habe, geschah das in der Absicht, ihn den Behörden zu überstellen. Ich bin bereit, das wieder zu tun, aber ich werde ihn nicht ermorden.«

Obwohl er mich gerade darum gebeten hat, drücken seine Gedanken nun Skepsis aus, ob ich in der Lage wäre, Donaldson zu fassen.

Ich spüre, wie mir die Hitze in die Wangen steigt, denn ich weiß, dass er daran denkt, mit welcher Leichtigkeit er mich gerade überwältigt hat.

Diesmal werde ich bereit sein.

Er zieht eine Augenbraue hoch. Donaldson wird ebenfalls bereit sein und mit dir rechnen.

Woher soll er wissen, dass ich komme?

Averys grüne Augen werden schmal. Zwischen dir und ihm besteht eine Verbindung. Er wird deine Nähe spüren können, lange, bevor er dich sieht. Du wirst deine Gedanken vor ihm verbergen können, doch er wird deine Gegenwart fühlen. Das kannst du zu deinem Vorteil nutzen, aber es könnte auch gefährlich sein.

Warum?

Der Nachteil ist: Er wird wissen, dass jemand in der Nähe ist, den er verwandelt hat. Wenn du deine Gedanken sorgfältig vor ihm verbirgst, wird er nicht wissen, wer du bist. Bisher ist es uns gelungen, deinen Namen aus den Polizeiakten und Presseberichten herauszuhalten. Er wurde gestört, bevor er dich endgültig erledigen konnte, aber da er so viele Menschen getötet hat, fällt ihm vielleicht nicht auf, dass du auf der Liste seiner Opfer fehlst.

Und der Vorteil?

Du wirst ihn ebenfalls spüren können. Du wirst auch fühlen können, wo er sich aufgehalten hat. Wenn du dich auf seine Gedanken konzentrierst, wirst du wissen, wohin er will. Du kannst ihm eine Falle stellen –

Es klopft diskret an der Tür. Avery erhebt sich und durchquert den Raum. Er öffnet die Tür gerade so weit, dass er mit dem Besucher sprechen kann, ohne meine Anwesenheit preiszugeben.

Es ist Polizeichef Williams. Seine Gedanken sind voller Sorge. Ein weiterer Leichnam wurde gefunden. Ich muss jetzt gehen.

Ich sehe zu, wie Avery die Hand ausstreckt. Wir werden uns darum kümmern, das versichere ich Ihnen.

Williams seufzt. Das müssen wir. Solchen Ärger hatten wir schon lange nicht mehr. Es gefällt mir hier, Avery. Ich möchte nicht gezwungen sein, schon wieder umzuziehen, nur wegen dieses Renegaten. Er muss ausgeschaltet werden.

Avery tritt einen Moment vor die Tür und zieht sie hinter sich zu. Dann kommt er wieder herein und schließt erneut die Tür hinter sich.

Ich nehme an, mit diesem Manöver wollte er verhindern, dass ich seine letzten Worte an den Polizeichef belausche. Das spielt keine Rolle. Ich habe mich schon entschieden.

Ich stehe auf. »Ich gehe jetzt auch, Avery.«

Er versucht, meine Gedanken zu lesen. Als es ihm nicht gelingt, runzelt er die Stirn und wirft mir einen harten Blick zu. Du lehnst es ab, uns zu helfen?

»Ich lehne es ab, mich in solche Gefahr zu begeben. Du hast hier eine nette Selbsthilfegruppe, mit einigen der prominentesten Bürger San Diegos. Ich nehme an, du hast mich heute Abend hierher eingeladen, um mir diese Karotte vor die Nase zu halten. Ich darf auch zu diesem exklusiven kleinen Club gehören, wenn ich euch diesen einen kleinen Gefallen tue. Das Problem ist, als jüngstes Mitglied bin ich zugleich das entbehrlichste. Wenn ich Donaldson töte, umso besser. Wenn Donaldson mich tötet, gerät euer Machtgefüge dadurch nicht ins Wanken. Ihr würdet gewiss einen anderen, frisch verwandelten Vampir finden, der meinen Platz einnehmen kann. Du hast behauptet, das hier sei kein abgekartetes Spiel gewesen. Tut mir leid, aber es fällt mir schwer, dir das zu glauben.«

Avery ist sehr still geworden. Er hört aufmerksam zu, mit gerunzelter Stirn, und lässt sich seine Gefühle nicht anmerken.

Das bestätigt mir, dass meine Einschätzung der Situation korrekt war. Ich gehe ihm zur Tür entgegen, und endlich öffnet er mir seinen Geist.

Ich kann dich nicht zwingen, das zu tun, Anna.

Sein Tonfall klingt weich, beinahe verführerisch.

Ich weiß. Deshalb gehe ich jetzt.

Ich werde dich nicht aufhalten.

Avery tritt von der Tür zurück. Mein Haus steht dir immer offen. Im Lauf der Zeit wirst du weitere Fragen haben. Ich stehe dir immer zur Verfügung, jetzt und in Zukunft.

Das klingt so förmlich, als rezitiere er eine offizielle, zeremonielle Verabschiedung unter Vampiren.

Er lächelt über diese Interpretation. Nun, wir werden ja sehen, wie veraltet sich deine Sprechweise nach dreihundert Jahren anhört.

Das war viel zu einfach.

Ich habe das Verdeck des Jaguars geöffnet und brause über die Ardath Road in westlicher Richtung nach Hause. Avery hat weder versucht, mich zu seinem Plan zu überreden, noch, mich zum Bleiben zu bewegen.

Beides ist mir unverständlich.

Aber es ist ein Uhr morgens, die Nacht ist wolkenlos und die Straße menschenleer. Ich will das Gefühl abschütteln, das Avery und sein fröhliches Trüppchen Vampire mir eingegeben haben, also lasse ich dem Jaguar die Zügel schießen. Nichts macht so schnell einen klaren Kopf wie ein Achtzylinder mit 390 PS.

Ich hätte es besser wissen müssen.

Der Cop erwischt mich an der Kreuzung Torrey Pines und Ardath. Ich sehe ihn im selben Moment wie er mich, und ich weiß, dass die kleine Radarpistole, die er auf meinen Wagen gerichtet hat, ihm in diesem Augenblick sagt, dass ich mit knapp zweihundert Sachen an ihm vorbeirase. Es hat keinen Zweck, jetzt noch eine Notbremsung hinzulegen oder ihn gar abschütteln zu wollen, also gehe ich einfach vom Gas und lasse mich von dem schwarz-weißen Wagen einholen.

Mit blinkendem Blaulicht folgt er mir. Ich fahre rechts ran und warte darauf, dass er zu mir kommt. Ich habe lange genug mit Polizisten zu tun gehabt, um zu wissen, dass man keinesfalls aus dem Auto springt oder anfängt, in der Handtasche nach den Papieren zu kramen. Das macht sie nur nervös. Deshalb bleibe ich ruhig sitzen, lasse beide Hände am Lenkrad, braves Mädchen, und beobachte im Rückspiegel, wie er näher kommt. Er ist groß, massig wie ein Wrestler, und trägt die Dienstmütze tief ins Gesicht gezogen.

Er leuchtet mit einer Taschenlampe direkt in meine Augen. »Guten Morgen, Miss. Wissen Sie, warum ich Sie angehalten habe?«

Reflexartig hebe ich die Hand, um meine Augen zu schützen. »Ich bin zu schnell gefahren.«

Er lässt die Taschenlampe nicht sinken. »Bitte legen Sie Ihre Hände wieder ans Lenkrad.«

»Bitte richten Sie die Taschenlampe woanders hin. Sie blenden mich.«

Er lässt sie immer noch nicht sinken, sondern hält sie mir noch dichter vors Gesicht. Das grelle Licht lässt kleine Schmerzpunkte, wie von Nadelstichen, hinter meinen Augen aufflammen. Ist das auch so eine Besonderheit von Vampiren? Ich kann im Sonnenlicht herumlaufen, aber der Strahl einer Taschenlampe ist mir unerträglich?

Ich höre eher als dass ich sehe, wie er meine Wagentür öffnet. Die Stimme des Polizisten erklingt hart und barsch direkt an meinem Ohr. »Steigen Sie bitte aus dem Wagen«, sagt er.

Ich tue es und taumele dabei ein wenig. Es ist beinahe so, als würde das grelle Licht nicht nur mein Sehvermögen, sondern auch meinen Gleichgewichtssinn beeinträchtigen.

»Haben Sie getrunken, Miss?«

O Gott. Sicher meint er Alkohol. Wie viel Wein habe ich getrunken? Ich erinnere mich nur an ein Glas. Aber es wäre wohl nicht klug, ihm das zu sagen. »Nein, Officer. Ich habe nichts getrunken. Das Problem ist dieses Licht direkt in meinen Augen. Ist es wirklich notwendig, mich so zu blenden?«

Offenbar nimmt er Anstoß an meinem Tonfall, denn bevor ich noch etwas sagen kann, gräbt er die Hände in meine Schultern und wirbelt mich herum, so dass ich mit dem Bauch am Auto stehe. Er reißt mir die Hände auf den Rücken.

»Ich fürchte, ich muss Sie mitnehmen«, sagt er und lässt die Handschellen zuschnappen.

Das geht so schnell, dass ich gar keine Zeit habe zu reagieren. »Sie verhaften mich?«, quieke ich mit vor Empörung schriller Stimme. »Weshalb?«

»Fahren unter Alkoholeinfluss, Miss«, sagt er und stößt mich zu seinem Wagen.

Ich sperre mich. »Moment mal. Müssen Sie nicht erst einen Alcotest oder so etwas durchführen? Ich sage Ihnen doch, ich habe nichts getrunken.«

Doch selbst wenn ich betrunken gewesen wäre, hätte der Lauf seiner Waffe, die sich nun in mein Kreuz bohrt, mich schlagartig nüchtern gemacht. »Was soll das?«

»Steig ein, Miststück«, sagt er mit giftiger Stimme. »Oder ich ramme dir auf der Stelle einen Pflock durchs Herz.«

Verführung der Nacht: Ein Vampirthriller
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