Kapitel 35
Als ich sicher bin, dass Avery weg ist, nachdem ich durch das Fenster gegenüber vom Bett beobachtet habe, wie sein Auto die Auffahrt entlang verschwindet, stehe ich auf, dusche und ziehe Jeans und ein T-Shirt an. Ich höre die Haushälterin in der Küche werkeln – meine Zeit ist also begrenzt. Sie wird heraufkommen, um die Betten zu machen, wenn sie ihre Pflichten unten erledigt hat.
In mir tobt ein Kampf. Es fühlt sich vollkommen richtig an, dass ich Avery inzwischen so vertraue. Doch das Bedürfnis, alle seine Geheimnisse zu erfahren, ist überwältigend. Ich kann es nicht erklären. Ich weiß nur, dass ich sie erfahren muss.
Ich schleiche mich in sein Zimmer und schließe hinter mir ab. Dann mustere ich alles ganz genau – an zwei Wänden stehen Bücherregale, an der dritten ist ein offener Kamin, Fenster in der vierten Wand. Die Tür zum Bad befindet sich gegenüber vom Bett. Die einzig logische Stelle für eine Geheimtür wäre hinter einem der Bücherregale.
Ich streiche mit den Händen über die Borde, spähe hinter Bücher, ziehe einen Stuhl heran, damit ich hinaufklettern und über dem Regal nachsehen kann. Nichts sticht mir ins Auge; kein türförmiger Umriss ist zu erkennen.
Was nun?
Ich trete zurück und sehe noch einmal genau hin. Was ist mir bisher entgangen?
Der Türknauf wackelt, als jemand von der anderen Seite daran dreht. Dann höre ich ein sachtes Klopfen.
»Hier ist das Hausmädchen, Miss. Soll ich später wiederkommen?«
Ich seufze genervt und gehe zur Tür, um sie einzulassen. »Entschuldigung«, sage ich und öffne weit die Tür.
Sie ist anders, als ich erwartet hatte. Sie ist jung, etwa Mitte zwanzig, und auf exotische Weise schön. Das glänzende schwarze Haar fällt glatt auf ihre Schultern herab und umrahmt ein schmales Gesicht mit riesigen, dunklen Augen und vollen Lippen. Eine Mischung aus hispanischen und asiatischen Vorfahren vielleicht, oder osteuropäischer Herkunft. Sie trägt Jeans und ein schlabberiges T-Shirt mit einer weißen Leinenschürze darüber. Offenbar ist es ihr peinlich, dass sie mich gestört hat.
Ich strecke die Hand aus. »Mein Name ist Anna Strong. Ich bin eine Freundin von Dr. Avery.« Ich lächle sie an. »Aber das wussten Sie schon, nicht wahr?«
Schüchtern erwidert sie den Händedruck. »Dr. Avery hat mir gesagt, dass er Besuch hat. Und dass ich Sie nicht stören soll.«
»Das haben Sie nicht. Wirklich nicht. Dann lasse ich Sie mal in Ruhe arbeiten, Miss –«
»Ich heiße Dena. Und ich kann später wiederkommen.«
Sie ist so ernst – es wirkt beinahe tadelnd. Ganz anders als die meisten Zwanzigjährigen. Sie scheint sich beinahe vor mir zu fürchten.
Warum?
Ich winke ihr zu, als ich an ihr vorbei in den Flur gehe. »Nein. Ich will Sie nicht von der Arbeit abhalten. Ich bin dann unten, ja?«
Sie nickt und wendet sich ab, und da bemerke ich zwei winzige Punkte an ihrem Hals. Sie sind nicht frisch, aber wer auch immer sie verursacht haben mag, hat die Fähigkeit der Vampire, sie rasch verheilen zu lassen, nicht genutzt. Ich berühre sie an der Schulter, und sie zuckt zusammen.
»Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber ich bin neugierig. Wie lange arbeiten Sie schon für Dr. Avery?«
Dena zuckt mit den Schultern, und als sei ihr bewusst, was ich eben entdeckt habe, zieht sie den Kragen ihres T-Shirts ein wenig höher. »Nicht lange. Vor ein paar Monaten hatte ich einen Unfall. Ich kam als Patientin zu Dr. Avery, und er war so freundlich, mir diese Arbeit anzubieten, als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Ich hatte meinen Job verloren. Er lässt mich vormittags hier arbeiten, damit ich nachmittags die Schule besuchen kann. Er hat mir sehr geholfen.«
Aber ihr Tonfall klingt wenig überzeugend. Und während sie spricht, weicht sie vor mir zurück und knetet ihre Schürze zwischen den Fingern. Sie ist kein Vampir, da bin ich sicher, denn ich kann keinen Zugang zu ihrem Geist finden. Aber sie fürchtet sich vor mir, weil sie erkannt hat, dass ich einer bin.
Ich lächle sie sanftmütig an und versuche, ihr die Angst zu nehmen. »Ich lasse Sie jetzt in Ruhe, Dena.«
Sie lässt mich keinen Moment aus den Augen. Ich spüre ihren Blick im Rücken, als ich in mein Gästezimmer zurückkehre. Zum ersten Mal erkenne ich, dass Avery auch eine dunkle Seite hat. Trotz seines Geredes darüber, dass er mit den Menschen zusammenarbeiten will, statt sie als Beute zu betrachten, hat er dieses Mädchen benutzt. Das weiß ich so sicher, wie ich meine neue Kraft erkenne, wie ich weiß, dass ich nicht mehr menschlich bin. Und genauso sicher spürt sie diesen Unterschied. Vielleicht hat sie sich ihm anfangs sogar angeboten und fand es aufregend oder schmeichelhaft, dass der gutaussehende Arzt Interesse an ihr zeigte. Aber jetzt gefällt es ihr nicht mehr. Trinkt er immer noch von ihr? War es ihr Blut, das er mir an dem Morgen anbot, als ich aus Beso de la Muerte zurückkam?
Voll zorniger Ungeduld warte ich ab, bis Dena in Averys Zimmer fertig ist. Ich bin entschlossener denn je, herauszufinden, was er dort versteckt. Wenn wir zusammen sind, ist es wirklich so, als stünde ich in seinem Bann. Er lässt mich alles andere vergessen bis auf die Berührung seiner Hände, den Geschmack seines Blutes. Aber ich weiß sehr wenig über ihn – nur das, was er mich wissen lassen möchte. Mein gesamtes Wissen darüber, was es bedeutet, ein Vampir zu sein, entstammt seinen Ansichten, seinen Vorstellungen, und ich habe mich von ihm beeinflussen lassen.
Es wird höchste Zeit, dass ich mehr erfahre. Vielleicht sind einige dieser Geheimnisse hier in diesem Haus versteckt.
Dena schleicht auf Zehenspitzen an meinem Zimmer vorbei; sie will schleunigst weg von hier und hat Angst, ich könnte sie aufhalten. Das höre ich an ihren zögernden Schritten, und ich sehe es in ihrem angespannten Gesicht, als sie an meiner offenen Zimmertür vorbeihastet. Ich lasse sie gehen, höre die Haustür zufallen, den Riegel des Schlosses einrasten, ein Auto starten. Als ich davon ausgehen kann, dass ich allein bin, kehre ich in Averys Zimmer zurück.
Diesmal spare ich mir die Finesse. Ich zerre Bücher aus den Regalen, rücke sie mit Hilfe meiner Vampirkräfte ein Stück vor und streiche mit den Händen über die Wand dahinter, auf der Suche nach Ritzen oder Türspalten.
Nichts.
Scheiße.
Am Fußende des Bettes lasse ich mich auf den Boden sinken. Ich versuche mich genau zu erinnern, was ich letzte Nacht gehört habe. Avery ist von irgendwo an dieser Wand ins Bad gegangen.
Oder war es die andere Wand?
Ich wende mich dem Kamin zu. Er ist aus Stein, mit einem gewaltigen Kaminsims, einer leicht erhöhten Platte davor und Nischen links und rechts, in denen Feuerholz gestapelt ist. Die beiden Nischen sind über einen Meter achtzig hoch, und die rechte ist vom Boden bis zur Decke mit frisch zersägten, duftenden Scheitern Zedern- und Kiefernholz bestückt. Die linke ist aber nur halb voll. Und als ich sie näher betrachte, entdecke ich einen feinen Umriss.
Aber wenn das die Tür ist, wie komme ich hinein? Avery musste gestern Abend jedenfalls nicht all dieses Holz ausräumen und wieder aufstapeln, als er in sein Schlafzimmer zurückkehrte. Ich habe gehört, wie sich die Tür schloss und er danach sofort weiterging.
Es muss irgendeine Vorrichtung geben, mit der man die Tür öffnet.
Ich trete noch einen Schritt näher. Der Kaminsims ist aus einem Stück, irgendein schweres, dunkles Holz. Ich streiche mit den Fingern darüber, von oben und unten, ohne zu wissen, was ich eigentlich suche, und ohne irgendetwas zu erspüren, das eine Tür öffnen könnte. Ich trete wieder zurück und blicke zu den beiden großen Wandleuchtern aus Messing auf, die den Kamin flankieren. Könnten sie mir den Weg hinein öffnen?
Ich greife nach dem linken Kerzenhalter. Ich ziehe, drücke, drehe.
Nichts.
Ich gehe auf die andere Seite. Als ich diesmal ziehe, höre ich ein knirschendes Geräusch, als würde ein Getriebe in Gang gesetzt. Ich mache einen Satz rückwärts und sehe zu, wie die linke Seite des Kamins nach hinten aufklappt und die ganze Wand in einem Gang verschwindet, der direkt vor mir in die schwarze Leere führt.
Ich habe Averys geheime Kammer gefunden.
Ich muss einen Moment warten, bis meine Augen sich von dem hellen, sonnendurchfluteten Schlafzimmer auf den dunklen Gang umgestellt haben. Sobald meine Vampirsinne das Sehen übernommen haben, trete ich über die Schwelle.
Eine lange, hölzerne Treppe führt offenbar steil hinab, fast wie eine Leiter. Die Treppe ist schmal, kaum einen halben Meter breit. Die Wand auf einer Seite ist aus Stein, vermutlich die Außenmauer des Hauses, die andere aus Holz. Daran ist ein Geländer befestigt, an dem ich mich nun festhalte und den Abstieg beginne. Ich kann nicht bis zum Fuß der Treppe sehen. Ich kann auch nichts hören. Diese unheimliche Stille lässt mich unwillkürlich erschauern.
Es müssen um die hundert Stufen sein. Als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, stehe ich auf gestampfter Erde. Der faulige Geruch verrotteter Vegetation sagt mir, dass ich tief unter der Erde sein muss. Avery hat sich eine kleine unterirdische Festung gebaut.
Ich entdecke eine Tür, etwa fünfzehn Meter vom Fuß der Treppe entfernt. Ich weiß jetzt schon, dass sie nicht abgeschlossen sein wird. Avery rechnet nicht damit, dass irgendjemand diesen Ort ohne seine Hilfe finden könnte. Und ich behalte recht. Die Tür lässt sich einfach aufschieben.
Dahinter ist ein großer Raum, etwa sieben mal acht oder neun Meter, mit aufgestapelten Holzkisten an einer Wand und Regalen an der nächsten. Rechts von der Tür ist ein Lichtschalter. Ich drücke darauf, und der Raum wird in ein kaltes Licht getaucht. In den Regalen stehen Keramiksachen, Vasen, Schmuckgegenstände aus Gold und Silber, die glänzen und glitzern, trotz der schwachen unterirdischen Beleuchtung – aber mehr Licht braucht ein Vampir auch nicht.
Ich verstehe nicht viel von Kunst, aber ich erkenne, welch einen Schatz ich hier vor mir habe. Die anmutige Schönheit uralten chinesischen Porzellans, die komplizierten Verzierungen an ägyptischen Antiquitäten, die schlichte Pracht von Töpferwaren und Schmuck der Maya – ich habe die Quelle von Averys Reichtum entdeckt. Über Jahrhunderte hinweg angesammelt, nehme ich an, Stück für Stück verkauft, wenn Notwendigkeit dazu besteht. Ich weiß nicht, was in diesen Kisten ist, aber ich würde auf weitere Schätze wetten. Mit dem Inhalt dieses Raums könnte man ein kleines Museum bestücken – oder einem Unsterblichen für alle Ewigkeit einen luxuriösen Lebensstil sichern.
Hier ist im Grunde nichts, was Avery belastet. Natürlich kann ich nicht wissen, wie er an diese Schätze gekommen ist. Da er ein Vampir ist, ging es dabei vielleicht nicht immer mit rechten Dingen zu. Aber welches große Vermögen, ob es nun einem Menschen oder einem Vampir gehört, wurde je ohne einen Hauch von Unmoral angehäuft? Ich habe nichts gefunden, was ein weiteres Eindringen in Averys Privatsphäre rechtfertigt. Wieder einmal habe ich das Schlimmste angenommen und mich in ihm getäuscht.
Casper hatte recht. Meine Instinkte sind wirklich alles andere als zuverlässig. Nun, zumindest kann ich es diesmal wieder in Ordnung bringen. Ich kann verhindern, dass Avery von meinem Eindringen in seine unterirdische Schatzkammer erfährt. Es wird nicht leicht sein, das aus meinen Gedanken herauszuhalten, aber ich werde es schaffen. Ich will nicht noch einmal riskieren, ihn wegen eines vagen, völlig unbegründeten Verdachts zu verlieren.
Ich muss mich zusammennehmen und mich auf die Suche nach David konzentrieren. Ich werde ganz von vorn anfangen müssen. Noch heute Abend fahre ich nach Beso de la Muerte. Das wird Avery nicht gefallen, aber er wird damit leben müssen.
Als ich mich umdrehe und zur Tür zurückgehe, bemerke ich erst, dass sich noch etwas in diesem Raum befindet. Ein Bündel tief in den Schatten, das aussieht wie ein aufgerollter Teppich, der dort längs an der Wand liegt.
Vermutlich ein kostbarer Orientteppich, aus irgendeinem königlichen Schloss entwendet.
Ich würdige ihn kaum eines Blickes – zunächst.
Aber dann –
Eine winzige Bewegung.
Habe ich mir das eingebildet?
Den Blick starr auf den Teppich gerichtet, werde ich geradezu unwillkürlich dorthin gezogen. Eisige, schwarze Stille hüllt mich ein.
Ich wappne mich für das Schlimmste.
Ich knie mich hin, ziehe eine Ecke des Teppichs zurück und zittere dabei so sehr, dass ich den Teppich mit beiden Händen packen muss.
Ich glaube, ich weiß es. Ich glaube, ich bin bereit.
Doch das Grauen dessen, was ich entdecke, ist schrecklicher als alles, was ich mir vorgestellt hatte.
Ich habe David gefunden.
Gefesselt und geknebelt liegt er still und bleich wie der Tod auf dem Boden.