Kapitel 23
Ich brauche eine Sekunde, bis ich begreife, was passiert ist. Aber in dieser Sekunde bemerke ich eine Bewegung irgendwo vor mir, tief in den Schatten. Ich höre ein Klick, als eine Armbrust gespannt wird, und weiß, dass mir nur ein Augenblick Zeit bleibt, bevor sich dieses Summen in einen Pfeil verwandelt, der auf meine Brust zufliegt.
Ich hechte hinter ein Grüppchen kleiner Felsbrocken, die einzige Deckung weit und breit. Ich ducke mich tief und versuche, mich möglichst klein zu machen. Das Summen kommt näher, und ein Pfeil zischt über meinen Kopf hinweg.
Angst schnürt mir die Kehle zu. Ich schicke meine geistigen Fühler aus und versuche, irgendetwas aufzuschnappen, vielleicht den Angreifer zu identifizieren. Aber es kommt nichts zurück. Ich kann nicht einmal bestimmen, ob der Schütze Mensch oder Vampir ist, männlich oder weiblich.
Nicht, dass das einen Unterschied machen würde. Ein hölzerner Pfeil durchs Herz ist fatal, ganz gleich, wer die Armbrust hält.
Diese wird nun wieder geladen. Übermenschliches Gehör ist nicht immer ein Segen. Ich wappne mich für den Schuss und grabe mich in den Dreck wie ein Maulwurf. Wieder dieses Schwirren und der stumme Lufthauch, als der Pfeil vorbeisaust. Wie oft will er es denn noch versuchen?
Diese Frage wird gleich darauf beantwortet, als der nächste Pfeil geflogen kommt. Aber diesmal hat der Schütze besser gezielt. Ich schreie auf, als sich der Pfeil in meine linke Wade bohrt. Ich hatte mich darauf konzentriert, meinen Oberkörper zu schützen. Die Deckung reichte nicht für die Beine. Offensichtlich ist das nicht unbemerkt geblieben.
Glühend heißer Schmerz rast durch meinen Körper und sammelt sich in meiner Brust. Das ist kein tödlicher Schuss, aber die Wunde wird mich behindern, wenn ich versuche zu fliehen – falls ich das versuchen werde.
Ich strecke den Arm aus und zerre an dem Pfeil. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schnell Vampire heilen, aber es tut trotzdem höllisch weh, als der Pfeil mein Fleisch zerreißt. Vor Schmerz und Zorn brennen Tränen auf meinem Gesicht. Ich umklammere den Pfeil, weil er eine gute Waffe abgeben würde, falls der Angreifer ein Vampir sein und auf die Idee kommen sollte, für den tödlichen Schuss näher heranzukommen.
Ich hoffe, dass er das tut. Zusätzlich zu dem Pfeil ziehe ich noch den Revolver aus dem Schulterhalfter. Jetzt bin ich für alles bereit.
Aber nichts geschieht. Keine weiteren Pfeile. Keine Schritte in der Nacht. Ich höre nichts außer der Musik aus dem Saloon hinter mir, die ich durch meine intensive Konzentration auf den Angreifer bisher aus meinem Bewusstsein verdrängt hatte. Ich bin ziemlich sicher, dass er weg ist. Mein vampirisches Warnsystem hat sich wieder ausgeschaltet, in meinem Kopf schrillen keine Alarmglocken mehr.
Mit einem erleichterten Stöhnen strecke ich mich im Sand aus und massiere die zerfetzte Wadenmuskulatur. Ich spüre warmes, klebriges Blut an meinen Fingern. Neugierig hebe ich die Hand zum Mund und koste.
Dann trifft es mich wie ein Schlag, wie ekelhaft das ist, was ich gerade tue. Nicht zu fassen, dass ich mir das eigene Blut von den Fingern schlecke.
Trotzdem.
Die Hand stiehlt sich wieder hinab, um mehr zu holen.
Es schmeckt nicht übel.
Anna, reiß dich zusammen.
Meine kleine Stimme ist wieder da. Und mit ihr eine Woge von Traurigkeit, die mich bis ins Innerste erschüttert.
David.
Ich bin bei der Suche nach ihm keinen Schritt vorangekommen. Donaldson war meine einzige Hoffnung. Bei diesem Fiasko habe ich nur eines in Erfahrung gebracht – ich bin ziemlich sicher, dass er mir die Wahrheit gesagt hat. Er hat David nicht entführt.
Aber er dachte, er wüsste, wer es getan hat.
Hat er zumindest behauptet.
Himmel.
Vorsichtig setze ich mich auf. Ich suche die Umgebung ab und entdecke nichts als Wüste. Keine Lebewesen, außer solchen, die hoppeln, krabbeln oder gleiten. Davon bekomme ich noch als Tote eine Gänsehaut.
Ich überlege, ob ich mir einen von Donaldsons Vampirkumpeln schnappen soll, der seine Geschichte vielleicht bestätigen könnte. An einem Ort wie diesem wäre ein Entführungsopfer wertvolle Tauschware, so gut wie bares Geld. Vielleicht hat er damit angegeben und sogar ausgeplaudert, wo er den Kerl versteckt hält.
Aber das bezweifle ich. Donaldson war mir geistig völlig ausgeliefert und hat mir dabei nichts verraten. Und zum Schluss hatte er wirklich Angst. Er wusste, dass ich ihn töten wollte.
Hier kann ich also nichts mehr tun. Mit einem weiteren Stöhnen rapple ich mich auf. Mein rechtes Bein gibt ein wenig nach, als ich es vorsichtig belaste, aber ich kann auftreten. Ich werde sicher nicht zurück zum Auto rennen, aber gehen kann ich.
Den Pfeil noch in der einen, den Revolver in der anderen Hand verlasse ich humpelnd Beso de la Muerte.
Ich brauche viel länger für den Rückweg zum Auto als vorhin für den Weg zu Donaldsons Versteck. Trotz der Wunderheilung der Vampire zwingt mich der Schmerz zu einem gemächlichen Hinken. Ich schnappe mir einen toten Ast als Krücke, aber er ist mir keine große Hilfe. Für meine Mühe bekomme ich nichts weiter als einen Handteller voller Splitter.
Fünfundvierzig lange Minuten später erreiche ich den Explorer. Zum Glück steht er noch da, wo ich ihn gelassen habe. Ich glaube, den ganzen Weg nach Tijuana würde ich nicht mehr schaffen. Beim Gedanken an die Grenze lege ich diesmal das Schulterhalfter ab und stecke den Revolver und die Handschellen ins Handschuhfach. Ich weiß nicht, wie ich mein blutendes Bein erklären soll, falls ich an der Grenze angehalten werde, aber ich will es nicht noch komplizierter machen, indem ich mich mit einer Schusswaffe erwischen lasse. Ich habe keine Ahnung, was aus dem Taser geworden ist. Vermutlich liegt er noch irgendwo hinter dem Saloon im Staub. Er hat ohnehin nicht viel genützt.
Jetzt will ich nur noch nach Hause.
Nach Hause.
Und wo genau soll das sein?
Als ich losfahre, legt sich eine düstere Stimmung über mich. Ich habe immer noch keine Ahnung, wo David ist und wie es ihm geht. Ich war davon ausgegangen, dass Donaldson als Einziger ein Motiv hatte, ihn zu entführen. Jetzt fange ich wieder bei null an. Nein, noch unter null. Wer sonst hasst mich so sehr, dass er meinen Partner entführen würde? David und ich haben in den vergangenen Jahren eine Menge Kautionsflüchtige gestellt, aber wir sind noch recht neu in diesem Geschäft. Von diesen sitzen alle, die verurteilt wurden, noch in Gefängnissen im ganzen Land. Natürlich könnten es Verwandte von irgendjemandem sein, den wir geschnappt haben. Aber was sollte das bringen? Vor allem, da sich noch niemand gemeldet hat, um die Lorbeeren dafür zu ernten. Das ist also sehr unwahrscheinlich.
Ich habe die Grenze fast erreicht und blicke an mir hinab, um nachzuschauen, wie schlimm mein Bein aussieht. Zum Glück ist es das linke, also das Bein an der Tür, denn da ist es am dunkelsten, so dass man die zerrissene Hose und die Blutflecken nur schwer erkennen kann, wenn man durch das Autofenster hereinschaut. Außerdem ist es schon sehr spät, fast drei Uhr morgens, und die gelangweilten Grenzpolizisten stellen nur die üblichen Fragen nach dem Geburtsort und wollen wissen, ob ich etwas zu verzollen hätte.
Ich ringe mir ein Lächeln ab und sage: »San Diego, Kalifornien, und nein, nichts zu verzollen.«
Als er mich durchwinkt, hätte ich am liebsten hinzugefügt: »Bis auf die Tatsache, dass ich gerade die Nacht damit verbracht habe, an einem der touristisch weniger erschlossenen Orte Mexikos nach meinem entführten Freund zu suchen, wobei ich von einem Pfeil angeschossen und beinahe zu Staub zerblasen worden wäre. Obendrein habe ich immer noch keine Spur zu meinem vermissten Freund, weil der Vampir, von dem ich dachte, er hätte ihn entführt, behauptet hat, er wüsste nichts darüber, und jetzt ist er tot, also werde ich von ihm auch nichts mehr erfahren. Ich bin so müde, dass ich kaum mehr die Augen offen halten kann. Wenn ich es noch bis zu Avery schaffe, wäre das ein Wunder. Oh, ach ja, da ist noch etwas. Ich hoffe bei Gott, dass ich nie wieder hierherkommen muss. Nie.«
Aber vor einem mexikanischen Grenzpolizisten einen hysterischen Schreikrampf zu bekommen, würde mir jetzt wohl auch nicht weiterhelfen, also behalte ich diese wesentlichen Informationen lieber für mich.