Kapitel 33

Avery zieht mich von Williams weg. Was hast du getan?

Doch weder sein Tonfall noch seine Miene wirken zornig oder verbittert. Ich blicke in seinen Geist, finde aber auch dort nichts, was ich lesen könnte. Verzweiflung überkommt mich. Ich weiß es nicht.

Er drückt mich an seine Brust und wiegt mich wie ein Kind. Ist schon gut.

Ich will mich in Avery verkriechen, mich von seinen starken Armen vor einer Gefahr schützen lassen, die ich nicht einmal begreife. Aber ich weiß, dass das nicht möglich ist. Die Gefahr liegt in mir selbst. Widerstrebend trete ich zurück.

Ich weiß nicht, was passiert ist.

Averys Blick gleitet von Williams’ Gesicht zu meinem. Du hast ihn doch nicht leer getrunken?

Meine Augen weiten sich. Das ist eine einfache Frage, aber sie deutet an, dass Avery weiß, ich hätte Williams leer trinken können, und das überrascht mich. Nein. Er hat mit mir gesprochen. Kurz bevor –

Etwas regt sich in Averys Geist, verschiebt sich ein wenig. Was hat er gesagt?

Er schirmt nun seine Gedanken ein wenig ab, aber diesmal ist es anders. Es geht nicht nur darum, dass ich sie nicht lesen soll – er beschützt etwas. Sich selbst? Vor mir?

Er runzelt die Stirn. Sag es mir, Anna. Was hat er gesagt?

Ich habe es nicht verstanden. Er hat gesagt: »Du bist die Eine.« Dass ich die Macht hätte. Er hat gesagt, ich solle dich fragen, was das bedeutet. Und dann war er weg. Avery, ist er tot?

Avery geht zu Williams, kniet sich neben ihn und drückt eine Hand auf seine Brust. Er ist nicht tot.

Was dann?

Er ist in Stasis.

Stasis? Was bedeutet das?

Avery fährt sich mit der Hand übers Gesicht, als sei er plötzlich sehr müde. Das geschieht manchmal mit uns. Es ist ein Rückzug aus der Realität. Eine Art vorübergehender Stillstand aller Körperfunktionen. Vampire versetzen sich in diese Starre, wenn sie unter starkem Druck stehen oder spüren, dass sie dem Tode nahe sind. Er hat befürchtet, du würdest ihn töten.

Ich erschauere. Ich habe auch befürchtet, dass ich ihn töten würde. Ich wollte es. Er weiß nicht, wo David ist oder wer ihn hat, und doch hätte er mich belogen, wenn ich mir diese Information nicht einfach genommen hätte.

Ich hebe den Blick und sehe Avery an. Er beobachtet mich genau, und ein düsterer Ausdruck zieht seine Mundwinkel nach unten. Er wusste, dass du mit ihm fertig warst, als du dir genommen hattest, was du wolltest. Er dachte, du würdest ihn töten. Auf diese Weise wollte er sich schützen.

Aber ich hätte ihn trotzdem töten können.

Er ist ein Risiko eingegangen und hat darauf gesetzt, dass noch genug Menschlichkeit in dir ist, die dich daran hindern würde. Er hatte recht, nicht wahr?

Wirklich? Ich bin nicht sicher.

Ich wende mich von Avery ab, und von Williams. Ich kann sie beide nicht mehr sehen.

Wie lange wird er so bleiben?

Ich spüre Avery herankommen. Seine Hände berühren meine Schultern. Als er spricht, flüstert er dicht an meinem Ohr.

»Das kann man nie sagen. Es könnten ein paar Stunden sein. Aber auch Tage oder Wochen, vielleicht sogar für immer.«

»Was machen wir jetzt mit ihm? Was sagen wir seiner Frau?«

Avery dreht mich zu sich herum. Die Wahrheit. Williams hat sie gewiss auf diese Möglichkeit vorbereitet. Und für den Rest der Welt hat Chief Williams einen Schlaganfall erlitten. Wir haben eine Einrichtung ganz in der Nähe, auch für solche Fälle. Dort wird man sich gut um ihn kümmern. Du hast nichts Schlimmes getan. Jetzt muss ich ein paar Leute anrufen. Vielleicht wäre es besser, du gehst nach oben. Es muss niemand wissen, dass du hier warst.

Widerstrebend stimme ich ihm zu. Es wäre nichts gewonnen, wenn wir die Sache durch meine Anwesenheit noch komplizierter machen. Niemand wird die Wahrheit erfahren, außer Williams’ Frau, und ich bin ziemlich sicher, dass Avery ihr eine leicht abgewandelte Version der Ereignisse präsentieren wird. Wieder einmal verdanke ich Avery mein Leben. Er scheint immer nur mein Bestes zu wollen.

Ich schleppe mich die Treppe hinauf zu meinem Zimmer. Ich strecke mich auf dem Bett aus, höre den Krankenwagen vorfahren, höre Stimmen, die zu mir herauf und wieder weg treiben, höre, wie Avery eine Geschichte erzählt, die als Wahrheit akzeptiert wird, weil sie aus seinem Mund kommt. Schließlich verstummen die Stimmen, die Sirene verhallt in der Ferne, und schon ist Avery an meiner Seite.

Es ist vorbei. Du bist in Sicherheit.

Aber David nicht.

Avery setzt sich auf die Bettkante und zieht mich zu sich heran. Es tut mir leid um David. Aber Williams war deine letzte Hoffnung, ihn aufzuspüren. Du musst dich jetzt damit abfinden.

Verzweiflung legt sich auf mich wie ein samtener Vorhang, der alle Hoffnung aussperrt, dick und schwarz. Trotzdem schüttele ich den Kopf und kämpfe dagegen an.

Ich verstehe das nicht, sage ich. Warum wurde David überhaupt entführt? Was soll das bringen? Ich habe alles schon tausend Mal durchgedacht. Wenn es Donaldson oder die Rächer gewesen wären, hätte ich zumindest den Zusammenhang verstanden. Sie wissen, dass ich ein Vampir bin. Aber David weiß nichts von allem, was passiert ist. Er stellt für niemanden eine Bedrohung dar. Ich kann mich nicht damit abfinden, ehe ich herausgefunden habe, was mit ihm geschehen ist und warum. Ich kann nicht anders.

Avery lässt die Arme sinken. Gereiztheit und Ungeduld graben Falten in seine Stirn, obwohl er sich bemüht, sie aus seinen Gedanken herauszuhalten. Seine Stimme klingt sogar geduldig und verständnisvoll.

»Was, glaubst du, könntest du jetzt noch tun? Alle Spuren, die du verfolgt hast, führten ins Leere. Es ist niemand mehr da, der dir helfen könnte.«

»Dann fange ich eben von vorne an. Ich fahre noch einmal nach Beso de la Muerte. Ich unterhalte mich mit Donaldsons Vampirkumpels. Vielleicht habe ich mich getäuscht, was Donaldson angeht. Vielleicht ist David doch irgendwo dort –«

»Glaubst du wirklich, dass er noch leben würde, wenn er dort wäre?« Avery steht auf. »Du musst damit aufhören. Du musst akzeptieren, dass David verloren ist. Du musst lernen, dich von den Sterblichen zu lösen. Das ist eine Lektion, die man am besten gleich zu Anfang lernt. Sie wird dir Jahrhunderte des Kummers ersparen. Eines Tages wirst du auf all das zurückblicken und erkennen, dass es das Beste war, was dir hätte passieren können.«

Averys Heftigkeit ist wie ein Messerstich. Er schlägt mit der Faust in die Handfläche und geht erregt auf und ab. »Es hätte schlimmer kommen können«, fährt er fort. »Ist dir nicht bewusst, dass es deine Eltern oder Max hätte treffen können? Das ist eine Warnung. Du bist nicht mehr wie sie. Du bist unsterblich. Du wirst mit ansehen, wie deine Eltern dahinschwinden und sterben, und Max wird von nun an ein Gefäß sein, aus dem du trinkst, weiter nichts. Du brauchst sie nicht mehr, Anna. Du brauchst niemanden –«

Außer mir.

Avery öffnet mir seinen Geist, und der Sturm negativer Gefühle ist vorüber. Stattdessen sind seine Gedanken nun voller Liebe, überwältigender, absoluter Liebe. Er sitzt wieder neben mir auf dem Bett und sieht mich fragend an.

Meine Gedanken sind völlig durcheinander. Ich will zurückweichen, doch seine Gefühle sind so intensiv, dass ich mitgerissen werde. Ich liege in seinen Armen und kann nicht mehr unterscheiden, wo seine Leidenschaft endet und meine beginnt.

Ich kämpfe nicht dagegen an. Ich will nicht. Ich verstehe zwar nicht, was hier vor sich geht, aber er bietet mir das Einzige, was ich scheinbar nur in seinen Armen finden kann – Sicherheit. Ich lasse mich von ihm ausziehen, spüre, wie seine Hand eine brennende Spur über meinen Bauch zieht, meine Oberschenkel berührt und sich aufwärtstastet. Bald will ich es ebenso sehr wie er. Aber das hier ist mehr als sexuelles Begehren, und ich bin fassungslos über meine eigene heftige Erwiderung seines Drängens. Ich höre mich seinen Namen rufen, immer wieder. Und mehr.

Liebe, intensiv und unerbittlich wie eine Sturmflut, durchdringt mein Wesen.

Kann er es spüren?

Will ich, dass er es spürt?

Es ist zu spät, sich jetzt solche Gedanken zu machen. Gefangen in einem Netz aus Erregung, lasse ich mich von meinem Begehren davontragen, bis es mich in schwindelnde Höhen der Leidenschaft trägt, von denen ich bislang nichts geahnt hatte.

Verführung der Nacht: Ein Vampirthriller
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