Kapitel 24
Ich fahre zu Avery. Ich weiß nicht, wo ich sonst hingehen sollte. Ich habe kein Zuhause mehr. Den Gedanken, bei David zu wohnen, aber ohne ihn, halte ich nicht aus. Avery hatte recht mit seiner Vermutung, wo Donaldson zu finden sein könnte. Vielleicht kann er mir helfen, zu entscheiden, was ich als Nächstes tun soll.
Nachher, am Vormittag, werde ich noch einmal zu Davids Loft fahren und nachschauen, ob ich irgendetwas übersehen habe – irgendeinen Hinweis darauf, was ihm zugestoßen sein könnte. Ich werde auch die Polizei verständigen. Ich kann nicht noch mehr kostbare Zeit verstreichen lassen, ohne Hilfe zu holen.
Mein Bein tut weh. Aber der Schmerz ist ein guter Beifahrer. Er hält mich wach. Nun fällt mir auf, dass zwei volle Tage vergangen sind, seit ich zuletzt richtig geschlafen habe. In der Nacht, die ich mit Avery verbracht habe, sind wir nicht viel zum Schlafen gekommen.
Dieser Gedanke führt mich wieder zu Max. Ich habe viele Fragen, seit ich ihn in Beso de la Muerte gesehen habe. Könnte er über die Existenz von Vampiren Bescheid wissen? Oder weiß er nur, dass sein Boss die Geisterstadt als Versteck für seine Handlanger benutzt? Unendlich viele neue Möglichkeiten würden sich auftun, wenn Max Vampire akzeptieren könnte.
Doch die Stimme der Vernunft sagt mir, dass das unwahrscheinlich ist. Vor allem, wenn die einzigen Vampire, zu denen er Kontakt hat, die Typen in diesem gottverlassenen Loch sind.
Außerdem, wenn er erfährt, was ich mit Avery getan habe –
Ich will gar nicht daran denken.
Stattdessen schalte ich auf Autopilot und konzentriere mich ganz auf die Fahrt, die Soledad Mountain Road hinauf. Ich habe diese Strecke in den letzten achtundvierzig Stunden so oft zurückgelegt, dass ich sie im Schlaf fahren könnte. Anscheinend wird es bei mir zur Gewohnheit, mitten in der Nacht vor Averys Tür zu stehen. Ich hoffe nur, er ist wach und hat nichts dagegen, dass ich heute bei ihm übernachte. In diesem großen Haus hat er doch bestimmt ein Gästezimmer.
Aber ich komme nicht einmal bis zur Haustür. Avery steht am Auto, sobald ich vor dem Haus halte. Er muss auf mich gewartet haben, denn er trägt Jeans und einen Pulli, die Ärmel bis über die Ellbogen hochgekrempelt. Sein Gesichtsausdruck verrät Besorgnis, als er mein Bein bemerkt.
»Was ist passiert?«, fragt er und nimmt mich auf die Arme wie eine Puppe.
»He«, sage ich, so überrascht davon, auf diese Weise hochgehoben zu werden, dass ich mich tatsächlich von ihm zum Haus tragen lasse. »Du musst dir ja große Sorgen gemacht haben. Ich kann es nicht fassen. Du sprichst richtig mit mir – ich meine, durch den Mund.«
Er trägt mich ins Wohnzimmer und legt mich auf ein Sofa vor dem Kamin.
»Woher wusstest du, dass ich heute Nacht noch zurückkomme?«
Er kniet sich neben mich und zerrt an den Säumen meiner Jeans, bis er schließlich die Seitennaht aufreißt und die Wunde frei legt. Er antwortet, ohne aufzublicken. »Du meinst, weil ich angezogen bin? Ich habe nicht auf dich gewartet. Ich bin gerade erst aus dem Krankenhaus zurückgekommen.« Seine volle Aufmerksamkeit gilt meiner Schusswunde, er dreht mein Bein hierhin und dorthin, bis er offenbar irgendetwas festgestellt hat und zufrieden ist. Dann lässt er sich auf die Fersen sinken und sieht mich an. »Der Pfeil ist glatt durchgegangen.«
Ich spüre so etwas wie einen leichten Luftzug im Nacken. Ich stütze mich auf die Ellbogen und richte mich auf. »Woher weißt du, dass es ein Pfeil war?«
Er wirft mir diesen »Dämlicher Schüler«-Blick zu. »Ich bin seit zweihundert Jahren Arzt. Ich weiß, wie eine Schussverletzung durch einen Pfeil aussieht. Du hättest ihn nicht herausziehen dürfen. Es wäre wesentlich weniger schmerzhaft gewesen, wenn du ihn drin gelassen hättest, bis ich ihn fachmännisch hätte entfernen können.«
»Oh.« Ich lasse mich wieder in die Kissen sinken. »Natürlich. Und wie erkläre ich der Grenzpolizei, warum ein Pfeil aus meiner linken Wade ragt? Ein Missverständnis mit ein paar Eingeborenen?«
Er ignoriert meine Bemerkung und beugt den Kopf tief über mein Bein. Er legt die Lippen auf die verletzte Haut und saugt sachte daran.
»Wow. Das ist schräg.«
Auch diese Bemerkung ignoriert er und leckt stattdessen mit der Zunge über die Wundränder, bis ich ein Kribbeln spüre, das tief in meinem Wadenmuskel anfängt und sich dann ausbreitet. Er schleckt weiterhin an der Wunde herum, und das Gefühl ist so angenehm, dass ich aufhöre, mich dagegen zu wehren, und den Kopf auf die Kissen lege. Er fängt an, mir im Kopf ein Schlaflied vorzusingen – ein Wiegenlied, Herrgott noch mal –, und bevor ich eine bissige Bemerkung darüber machen kann, bin ich tief und fest eingeschlafen.
Das Nächste, was ich mitbekomme, ist eine sanfte Berührung am Arm. Widerwillig reiße ich mich aus dem Schlaf los und glaube einen Moment lang, ich sei zu Hause, in meinem eigenen Bett, und Max wolle mich wecken.
»Nein, Anna. Nicht Max.« Avery spricht mit leiser Stimme und streicht mir das Haar aus dem Gesicht. »Tut mir leid.«
Ich öffne die Augen, schenke Avery ein schiefes Lächeln und rapple mich zum Sitzen hoch. Ich bin immer noch auf dem Sofa, und er hat eine Decke über mich gebreitet, die so weich ist, dass sie nur aus Kaschmir sein kann. »Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen. Danke, dass du mich gestern Nacht aufgenommen hast.«
Er hält mir eine Tasse Kaffee hin. Als ich sie annehme, fragt er: Was macht dein Bein?
Ich trinke einen Schluck und gebe ihm die Tasse zurück, damit ich die Wolldecke wegschieben kann. Als ich auf meine Wade hinunterschaue, will ich meinen Augen nicht trauen. Wo der Pfeil eingedrungen ist, ist nicht einmal mehr ein Kratzer oder blauer Fleck zu sehen.
»Ein Jammer, dass du das mit deinen sterblichen Patienten nicht machen kannst. Ziemlich beeindruckend.«
Er lacht. Na ja, du hast auch deinen Teil dazu beigetragen. Du bist erstaunlich stark.
Er zögert einen Moment, während ich es mir wieder bequem mache, und fragt dann: Was ist geschehen? Ich kann nur annehmen, dass du David nicht gefunden hast.
Nein. Ich lasse ihn die Erinnerung aus meinem Kopf abgucken, und diese Traurigkeit senkt sich wieder über mich und tränkt meine Gedanken mit einer Verzweiflung, die ich gar nicht erst zu verbergen versuche.
Avery liest in meinen Gefühlen und versucht, mich zu trösten. Was willst du jetzt tun, da Donaldson tot ist?
Ich will zurück zu Davids Wohnung. Mich noch ein bisschen umschauen. Vielleicht habe ich etwas übersehen. Wenn ich nichts finde – Ich zucke mit den Schultern. »Ich werde wohl die Polizei einschalten müssen.«
Er nickt. Ich gebe dir die Privatnummer von Chief Williams. Ich habe ihm berichtet, was wir wissen, aber bisher hat er von seinen Kontakten nichts erfahren. David ist wie vom Erdboden verschluckt.
Das ist nicht gerade das, was ich hören möchte. Ich stehe vom Sofa auf. Ich habe gestern meine Reisetasche irgendwo stehenlassen, nicht?
Avery weist zur Treppe. Ich war so frei, deine Sachen in eines der Gästezimmer im ersten Stock zu bringen. Ich hoffe, das ist dir recht.
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und küsse ihn auf die Wange. Du bist ein wahrer Freund.
Ein wahrer Freund? Er legt mir die Hände auf die Schultern und küsst mich energisch auf den Mund. Ist das alles?
Aber das ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, und ich bin zu durcheinander, um ihm eine passende Antwort zu geben. Er erkennt die Signale, lässt die Hände sinken und tritt einen Schritt zurück. Aber er lächelt dabei und deutet wieder zur Treppe.
Die erste Tür links – gegenüber von meinem Schlafzimmer. Bis du geduscht hast, ist das Frühstück fertig.
Ich trotte die Treppe hinauf und frage mich, wie ich ihm all die Hilfe je vergelten soll.
Seine Stimme folgt mir. Da fällt uns schon was ein.
Das Gästezimmer ist groß, die Wände sind in zartem Gelb gestrichen. Dünne Spitzenvorhänge wehen in der Brise vor einem offenen Fenster. Die helle Morgensonne spiegelt sich in glänzend poliertem Mahagoni und den Rahmen prächtiger alter Ölgemälde, die mir vage bekannt vorkommen. Alte Meister, das möchte ich wetten, und zwar Originale, keine Kopien. Avery hat meine Tasche sogar ausgepackt. Ich finde meine Klamotten säuberlich zusammengelegt in einem Schrank. Ich hatte gar keine Toilettenartikel dabei, aber das angrenzende Badezimmer ist gut ausgestattet. Mit Sachen für Frauen. Duftende Shampoos und Badeöle und so weiter.
Hat er das extra für mich gemacht, oder hat der liebe Onkel Doktor jede Menge Damenbesuch?
Geht mich eigentlich nichts an, oder? Ich sollte einfach dankbar dafür sein, dass alles da ist.
Und das bin ich auch. Eine Dusche und saubere Kleidung beleben zumindest meinen Körper, wenn auch nicht meinen Geist. Avery erwartet mich mit Eiern und Speck und Toast, als ich wieder herunterkomme. Der Duft löst eine unwillkürliche Reaktion aus – mein Magen knurrt laut, so hungrig bin ich.
Avery hat für zwei gedeckt, an einem kleinen Tisch in einer Ecke einer riesigen Küche. Sie sieht aus wie eine Restaurantküche, mit viel Edelstahl, sämtlichen Geräten und mehreren Hektar makelloser weißer Fliesen. Er rückt mir den Stuhl zurecht, und ich lasse mich darauf sinken.
Als ich nach meiner Gabel greife, fällt mein Blick auf seine Seite des Tisches. Da steht nichts bis auf eine Tasse mit einer dunklen Flüssigkeit. Isst du nichts?
Er hält die Tasse hoch. Das ist alles, was ich brauche.
Ich fange mit den Eiern an, aber nach zwei Bissen schiebe ich den Teller schon von mir. Ich habe wohl doch keinen so großen Hunger.
Avery sieht mich lange an, steht dann auf und geht zum Kühlschrank. Er holt einen Krug heraus, gießt etwas von dem Inhalt in eine Tasse und stellt sie in die Mikrowelle. Nach dreißig Sekunden bimmelt die Uhr, und er bringt mir die Tasse.
Die Flüssigkeit hat eine dunkle, satte, unverkennbare Farbe. Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Ich nehme an, das ist kein Motoröl?
Er lacht. Nein. Das ist Blut.
Meine Augenbraue klettert noch höher. Blut? Menschliches Blut?
Nein, Schweineblut. Natürlich ist das menschliches Blut.
Ich ertappe mich dabei, wie ich mich misstrauisch in der Küche umblicke. Avery, woher hast du Menschenblut?
Von den Dienern, die ich angekettet im Keller halte. Ich zapfe ihnen jeden Tag gerade so viel ab, dass ich mich ernähren und sie so lange wie möglich am Leben halten kann.
Zuerst trifft mich Angst wie eine eiskalte, unheimliche Hand und wirft mich beinahe um. Dann sehe ich das Blitzen in seinen Augen und spüre das Gelächter in seinem Geist, das er nur mühsam zurückhält.
Nur gut, dass ich meinen Revolver nicht hier habe. Dafür würde ich dich am liebsten erschießen.
Er lässt das Lachen heraus. Für so ein hartes Weibsbild bist du ganz schön leicht hereinzulegen.
Ich berühre die Tasse, schnuppere am Inhalt. Das riecht wie Blut.
Ich sagte doch, es ist Blut. Aber keine Sorge. Ich nehme es mir aus der Blutbank im Krankenhaus. Wenn wir Konserven haben, deren Haltbarkeitsdatum abläuft, bevor wir sie verwenden können, bringt ein befreundeter Labortechniker sie beiseite und gibt sie mir. Sonst würden sie das Blut nur wegwerfen, also warum sollte ich nicht noch Nutzen daraus ziehen?
Aber ich dachte, das ist nicht die Art Blut, die wir brauchen.
Streng genommen, nein. Du könntest davon nicht lange überleben. Aber du hast erst vor gut einem Tag bei mir getrunken, also brauchst du keine echte Nahrung. Ich habe das Gefühl, dass dein Appetit auf normales Essen schon fast verschwunden ist, aber du brauchtest offensichtlich etwas im Magen. Betrachte es als kleinen Snack zwischendurch.
Er zögert, und in seinem Geist formuliert sich eine zurückhaltende Frage.
Nein, antworte ich. Ich habe nicht von Donaldson getrunken. Allerdings hätte ich ihm liebend gerne die Kehle herausgerissen, wenn er nicht zur Kooperation bereit gewesen wäre. Aber jemand hat ihn getötet, bevor es dazu kam.
Wir trinken in niedergeschlagenem Schweigen. Das Blut schmeckt seltsam. Als ich bei Avery getrunken habe, war sein Blut voller Leben, köstlich, üppig und stark. Das hier schmeckt –
»Fade und abgestanden«, erklärt Avery, der meine Reaktion aufgefangen hat. »Wie der Unterschied zwischen einem wirklich guten alten Wein und einem billigen Modewein. Wenn du von einem Lebewesen trinkst, nimmst du mehr als nur flüssige Nahrung auf. Du nimmst die Essenz ihres Lebens auf. Tiefgekühltes Blut verliert diesen Funken sehr bald. Deshalb können wir nicht ewig davon leben. Aber es ist Blut und im Notfall durchaus zu gebrauchen.«
»Das hier ist ein Notfall?«
Avery stellt seine Tasse ab und ergreift über den Tisch hinweg meine Hand. »Du hattest eine schwere Nacht. Und ich fürchte, was dir heute bevorsteht, wird auch nicht einfach.«
Das fürchte ich auch. Wie Blei liegt das Wissen auf meinen Gedanken, dass ich David noch nicht näher bin als vor meiner Fahrt nach Beso de la Muerte.
Avery drückt meine Hand. »Was würdest du tun, wenn David ein Kautionsflüchtling wäre?«
Diese Frage erwischt mich eiskalt. »Wie bitte?«
»Was würdest du tun, wenn du ihn aufspüren solltest, weil er von der Polizei gesucht wird?«
Ich stelle die Tasse ab und schürze die Lippen. Nun ja, ich würde seine Kreditkarte überprüfen, ob er vielleicht ein Flugticket gekauft oder irgendwo ein Hotelzimmer genommen hat. Ich würde seine Freunde anrufen –
Ich suche Averys Blick. Gloria. Sie ist in New York.
Avery nickt, doch ich schüttele sofort den Kopf.
Er ist nicht bei Gloria. Er wäre nie einfach gegangen, obwohl er wusste, dass ich auf dem Weg zu ihm bin. Ich habe Blut in seiner Wohnung gefunden. Seine Brieftasche und seine Schlüssel waren auch da. Die Wohnungstür war offen. David ist nicht freiwillig gegangen. Er wurde entführt. Die Frage ist nur, warum?
Ich habe inzwischen mein ungegessenes Frühstück abgeräumt und alles zum Spülbecken getragen. Avery winkt ab.
Lass das Geschirr stehen. Meine Haushälterin kommt bald.
Aber ich muss mich beschäftigen, und sei es mit einer so gewöhnlichen Tätigkeit wie Geschirrspülen. Als ich alles vorgespült und in die Maschine geräumt habe, wende ich mich wieder Avery zu.
Glaubst du, Chief Williams wird mir helfen, wenn ich ihn anrufe?
Aber natürlich. Avery holt ein kleines Notizbuch aus der Tasche, und dazu einen silbernen Kugelschreiber. Er schlägt eine leere Seite auf und schreibt. Dann reißt er die Seite heraus und gibt sie mir.
»Ich habe ihn schon angerufen und ihm die Situation erklärt. Hier steht auch die Nummer meines Büros im Krankenhaus. Falls du mich heute brauchen solltest, ruf dort an. Ich werde bis sechs im Krankenhaus sein, aber ich sage Bescheid, dass du sofort durchgestellt werden sollst.«
Ich falte den Zettel zusammen und stecke ihn in die Tasche meiner Jeans. »Ich muss dich um einen weiteren Gefallen bitten. Würdest du mir den Explorer noch einmal leihen? Wenn jemand bei Davids Wohnung auf mich wartet, halten sie sicher Ausschau nach meinem Auto.«
Er deutet auf den Küchentresen. »Bitte, bedien dich. Da liegt der Schlüssel.«
Ich nehme ihn und wende mich zum Gehen.
Danke, Avery. Wieder einmal.
Gern geschehen, Anna.
Er kommt um den Tisch herum und umarmt mich. Du weißt, dass ich jederzeit bereit bin, dir zu helfen. Ich wünschte nur, ich könnte mehr für dich tun.
Ich lasse den Kopf einen Augenblick lang an seiner Brust ruhen und ziehe Kraft aus seiner Umarmung. Dann richte ich mich auf. Drück mir die Daumen.
Er lächelt. Aber sicher.