Kapitel 29
Ein Vampir, der Arzt ist, hat David.
Nichts, was Lawson hätte sagen können, hätte mich dermaßen umgehauen.
Die Bedeutung ist mir vollkommen klar. Mein Verstand sagt mir, dass es viele Vampire in San Diego gibt und Avery vielleicht nicht der einzige Arzt unter ihnen ist.
Aber soweit ich weiß, ist er der einzige, der David mit mir in Verbindung bringen kann.
Warum sollte Avery David entführen? Und wenn er es getan hat – ist er dann auch für das Feuer verantwortlich?
Ich verstehe das alles nicht.
Ich sehe auf die Uhr am Armaturenbrett. Es ist fast zwei Uhr nachmittags. Avery sagte, er werde bis sechs Uhr im Krankenhaus sein. Zumindest bleibt mir noch ein wenig Zeit, das Haus zu durchsuchen, bevor er zurückkommt.
Avery.
Mein Herz ist schwer wie Blei. Ich dachte, wir seien einander verbunden. Durch mehr als Sex und Blut. Er schien mir helfen zu wollen – erst bei der Suche nach Donaldson, dann bei David. Warum sonst hätte er mir von Beso de la Muerte erzählen sollen?
Außer er dachte, ich würde dort auch sterben.
Kann ich mich wirklich so in ihm getäuscht haben?
Die Auffahrt ist leer, als ich vor dem Haus halte. Diesmal fahre ich nach hinten durch, zur Garage. Sie ist aus Stein gebaut, wie das Haus, mit drei schweren eisernen Toren vor den Stellplätzen. Ich drücke auf die Fernbedienung im Explorer, und eines der Tore gleitet nach oben. Ich fahre den Wagen hinein und schließe das Tor hinter mir.
In der Garage steht ein weiteres Auto – ein prächtig restaurierter Thunderbird aus den Sechzigern. Das Verdeck ist offen, und die aufwendig verarbeiteten Polster schimmern im Licht der Garagenbeleuchtung. Ich streiche mit dem Zeigefinger über das Leder und frage mich, ob jemand, der ein schönes Automobil wie dieses hier so liebevoll restauriert hat, zugleich ein Monster sein könnte, das mir so viel Schmerz zugefügt hat.
Ich überprüfe rasch die Garage. Es gibt keine Falltüren zu unterirdischen Räumen, keine verborgenen Leitern zu einem Dachboden. Wenn David irgendwo hier ist, dann muss er im Haus sein.
Ein überdachter Gang führt von der Garage zur Hintertür. Für den Fall, dass die Haushälterin noch da sein sollte, drücke ich auf die Klingel. Ich glaube, Avery hat gesagt, dass sie nur vormittags da ist, und als niemand aufmacht, öffne ich die Tür.
Es ist so still. Unwillkürlich schleiche ich von einem Raum zum nächsten. Im Erdgeschoss haben wir Küche, Esszimmer, Bibliothek, Wohnzimmer. Ich finde keine weiteren Türen nach draußen außer zu Terrassen und Balkonen und die Haustür im Foyer. Es gibt auch keine Kellertür, trotz seines kleinen Scherzes von heute Morgen, er halte dort unten Diener, um ihr Blut zu trinken.
Mir wird ein wenig übel, als ich mich plötzlich frage, ob das wirklich ein Scherz war. Beim Gedanken daran, dass ich vielleicht Davids Blut getrunken habe, muss ich beinahe würgen. Doch ein stärkeres, wilderes Gefühl verdrängt die Übelkeit. Wenn Avery mich Davids Blut hat trinken lassen, werde ich ihn umbringen.
Ich war bisher erst in zwei Zimmern im ersten Stock, nämlich in Averys Schlafzimmer und dem Gästezimmer, in dem Avery meine Sachen verstaut hat. Es gibt hier oben vier weitere Schlaf- oder Gästezimmer, alle kostspielig mit Antiquitäten möbliert, alle geschmackvoll mit Vorhängen und Teppichen in gedämpften Erdtönen eingerichtet. Keines dieser Zimmer sieht aus, als wäre es in jüngster Zeit benutzt worden. Nein, alle Schränke sind kahl, die Schubladen leer. Es ist wie in einem Designer-Showroom. Sogar die Porträtfotos auf den Kommoden sind falsch – hübsche Rahmen mit Postkarten-Porträts.
Nun fällt mir auf, dass es auch in Averys Schlafzimmer keinerlei persönliche Gegenstände gibt. Nach Hunderten von Jahren ist wohl nichts Persönliches mehr übrig.
Darauf also kann ich mich freuen?
Ich schüttele das Selbstmitleid ab, bevor ich darin ertrinke, und suche weiter. An beiden Enden des langen Flurs mit den Schlafzimmern ist je eine Tür. Die linke führt zu einer Hintertreppe. Ich folge ihr und komme in der Küche heraus. Dann gehe ich wieder hinauf, um die andere Tür auszuprobieren. Die Treppe dahinter führt nach oben. Anscheinend gibt es einen Dachboden.
Die Tür am Ende dieser Treppe ist verschlossen. Mit einem unguten Gefühl drücke ich das Ohr daran, höre aber nichts. Ich klopfe und rufe: »David?«
Nichts.
Ich stemme eine Schulter gegen die Tür und drücke. Holz splittert, und die Tür gibt nach. Sobald ich eintrete, schlägt mir ein fremdartiger Geruch entgegen – es stinkt nach Fäulnis und Verwesung. Obwohl ich nicht atmen muss, würge ich erstickt. Das ist ein Reflex. Die Luft hier drin ist zum Ersticken.
Vorsichtig schaue ich mich um, mit offenem Mund, und versuche, die Quelle dieses Gestanks zu finden. Er scheint von den Truhen zu kommen, die an der Giebelseite wandhoch gestapelt sind. Als ich näher komme, wird der Gestank stärker. Keine zwei Truhen sind gleich, aber alle haben ungefähr dieselbe Größe. Ein bisschen größer als ein altmodischer Schrankkoffer. Es sind acht oder neun; manche sind aus Holz, mit uralten, verrosteten Metallbeschlägen, andere aus moderneren Materialien, mit Scharnieren aus Messing oder Kunststoff.
Die modernste ist für mich am leichtesten zu erreichen. Es ist eine schlichte Holztruhe mit glänzenden Messingscharnieren. Auf den Deckel ist ein Bild gemalt, das Porträt einer jungen Frau mit goldblondem Haar, die vor einem Fenster steht. Sie ist etwa zwanzig Jahre alt, und ihr Lächeln strahlt Fröhlichkeit und Jugend aus. Sie trägt einen altmodischen Pullover, und das Haar fällt ihr in üppigen Locken über die Schultern. Das Porträt ist so lebensnah, dass es eine Fotografie sein könnte statt eines Gemäldes.
Irgendetwas drängt mich dazu, die Truhe zu öffnen und zu sehen, was sich unter einem so bezaubernden Bild verbirgt. Meine Hand zittert, als ich den Verschluss öffne. Bevor ich es sehe, weiß ich, was es ist. Es ist mehr als nur der Gestank, es ist das Gefühl des Todes. In der Truhe liegen Fotos, altmodische Daguerreotypien, vom Alter braun verfärbt, eine gelockte Haarsträhne, ein Stofffetzen.
Und menschliche Überreste.
Ein verdorrter Leichnam, der hier schon seit Jahren liegen muss. Plötzlich weiß ich, warum Avery neulich diese seltsame Bemerkung gemacht hat.
In der Verbindung zwischen einem Vampir und einem Sterblichen ist es der Vampir, der leidet.
Er hat aus persönlicher Erfahrung gesprochen. Ich habe Averys Herz gefunden. Hier auf diesem Dachboden liegen die verlorenen Geliebten dreier Jahrhunderte, während der Vampir weiterlebt, unverändert und unberührt von der Welt bis auf diese traurige Erkenntnis.
Doch dann trifft mich eine weitere Erkenntnis.
Wie ein Messer in die Brust.
David ist nicht hier.
Lawson hat entweder etwas missverstanden oder gelogen, als er behauptet hat, Davids Entführer sei Arzt und Vampir.
Und ich bin in Averys privates Heiligtum eingedrungen, auf eine Art und Weise, die er mir niemals verzeihen wird.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich ziehe mich aus diesem Dachboden-Mausoleum zurück und schließe sacht die zerstörte Tür hinter mir. Avery wird auf den ersten Blick wissen, dass jemand hier war. Die Vorstellung, dass er mit den sterblichen Überresten jener, die er einmal geliebt hat, unter einem Dach wohnt, sollte mich abstoßen. Stattdessen empfinde ich Traurigkeit und eine ungute Vorahnung. Traurigkeit, weil er sich an alles klammert, was von verlorener Liebe übrig bleibt, und das ungute Gefühl, weil ich fürchte, dass dies ein Vorgeschmack auf meine eigene Zukunft sein könnte. Jetzt weiß ich, dass es keine Truhe voll heimatlicher Erde ist, die ein Vampir von einem Ort zum anderen mit sich herumschleppt.
Ich suche Zuflucht in meinem Gästezimmer und strecke mich auf dem Bett aus, um nachzudenken. Avery wird erst in einigen Stunden nach Hause kommen. Ich glaube, so lange kann ich nicht warten. Gleich darauf halte ich den Zettel mit seiner Durchwahl im Krankenhaus in der Hand und wähle.
Seine Sekretärin nimmt ab, und als ich ihr meinen Namen nenne, höre ich das Lächeln in ihrer Stimme.
»Er ist schon auf dem Heimweg, Anna. Er sagte, ein Gast erwarte ihn zu Hause. Ich muss Ihnen sagen, dass Sie wahrhaftig ein Lächeln auf sein Gesicht gezaubert haben. Er ist in dieser Woche ein ganz anderer Mensch.«
Sanft lege ich den Hörer auf. Morgen wird er wieder ein ganz anderer Mensch sein.