Kapitel 34

Erst nachdem Avery mein Bett verlassen hat, fange ich wieder zu denken an – etwas, das anscheinend unmöglich ist, solange er mich berührt. Habe ich Avery wissen lassen, dass ich ihn liebe? Hat er es in meinen Gedanken gelesen? Ich weiß nicht einmal, ob es stimmt, aber in jenem Augenblick hat es sich so angefühlt. Und es hat alle anderen Überlegungen vollständig aus meinem Verstand gedrängt. Wichtige Dinge wie die Suche nach David, die aufzugeben ich nicht bereit bin.

Wenn Avery ein Hexer wäre, würde ich glauben, dass er mich verzaubert hat. Aber Avery ist ein Vampir. Wir zaubern nicht.

Oder?

Ich schwebe an diesem Punkt zwischen Wachen und Schlafen, als etwas Wichtiges durch meinen Kopf schießt wie ein Blitz. Ich bin hellwach. Es ist etwas, das Williams gesagt hat und wonach ich Avery fragen sollte. Die Sache mit »Du bist die Eine«. Das ist nach dem Vorfall mit Williams und allem, was danach kam, einfach untergegangen.

Jetzt kann ich ihn ja fragen.

Ich werfe die Bettdecke zurück und schlüpfe in den Morgenmantel, den Avery mir hingelegt hat. Er ist in sein eigenes Bad gegangen, um zu duschen, und als ich an seiner Zimmertür klopfe und keine Antwort bekomme, trete ich trotzdem ein. Ich warte eben hier, bis er fertig ist.

Doch die Badezimmertür ist offen, und ich höre keine Dusche rauschen. Ich tapse hinüber. Vielleicht nimmt er ja ein Bad. Erst vorgestern hat er mich in meiner Wanne aufgesucht. Da ist es nur höflich, den Besuch zu erwidern.

Aber die Dusche ist ebenso leer und trocken wie die Badewanne. Ist er vielleicht hinuntergegangen, um etwas zu trinken? Ich will gerade meine geistigen Fühler ausstrecken und nach ihm suchen, als mir einfällt, dass das hier nicht funktionieren wird – dieses verdammte weiße Rauschen. Ich werde ihn also auf die altmodische Tour suchen müssen.

Es ist dunkel und still im Haus. Meine vampirische Nachtsicht erlaubt mir, genug zu sehen, ohne Licht einzuschalten, und ich gehe hinunter ins Wohnzimmer. Die Überreste des zersplitterten Couchtischs sind weggeräumt. Ich nehme an, Avery hat sich darum gekümmert, bevor der Krankenwagen kam. Nicht eine einzige Glasscherbe weist auf den Kampf hin, der hier stattgefunden hat.

Ich schaudere. Ich bin noch nicht bereit, mich dem zu stellen, was ich Williams angetan habe, denn trotz allem, was Avery gesagt hat, weiß ich, dass es meine Schuld ist. Williams hatte solche Angst vor mir, dass er sich in eine Starre versetzt hat, einen Zustand vorübergehenden Stillstands, aus dem er vielleicht nie wieder erwachen wird. Es ist mir unbegreiflich, wie ein Neuling eine so starke, alte Seele zu solcher Verzweiflung treiben konnte.

Doch diesen Gedanken schiebe ich nun beiseite. Ich muss Avery finden. Vielleicht kann er mir helfen, das Rätsel von Williams’ Worten zu lösen. Allein schaffe ich das nicht.

Meine Suche in der Bibliothek und in der Küche bleibt erfolglos. Avery ist nirgendwo im Erdgeschoss und auch nicht auf der Terrasse. Verwundert gehe ich die Treppe wieder hinauf bis zum Flur mit den Schlafzimmern. Als ich dort ankomme, fällt mir ein, dass Avery vielleicht auf den Dachboden gegangen ist. Bin ich bereit, ihn dort zu stören? Die Intensität seines Zorns war nur mit der seiner Leidenschaft vorhin vergleichbar. Beide habe ich an ein und demselben Tag in ihm geweckt.

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich stehe auf dem Flur zwischen unseren Schlafzimmern, als ich ein Geräusch höre. Eine Tür öffnet sich. In Averys Schlafzimmer.

Aber ich war gerade dort drin. Die Tür zum Badezimmer war schon offen, und die Kleiderschränke sind begehbar. Keine Türen. Doch ich höre ein deutliches Klicken, als der Riegel eines Schlosses einrastet. Dann dringen Averys gedämpfte Schritte auf dem Teppich und Wasserrauschen aus der Dusche durch die nächtliche Stille zu mir heraus.

Unsicherheit erfasst mich. Es gibt noch eine Tür irgendwo in Averys Zimmer? Wo führt sie hin? Warum habe ich sie nicht bemerkt, als ich mich heute Nachmittag dort umgeschaut habe?

Ich stehe da wie angewurzelt und kann mich nicht entscheiden. Nach allem, was ich heute erlebt habe, traue ich meinem Instinkt nicht mehr. Ein Teil von mir will sofort in sein Schlafzimmer platzen und es auf den Kopf stellen, bis ich diese geheime Tür gefunden habe. Der andere, vernünftigere Teil fragt ständig, warum ich so etwas tun sollte. Immerhin ist dies das Haus eines Vampirs – eines alten Vampirs. Vielleicht führt die Geheimtür nur zu einer Art Safe, in dem Avery angesammelte Wertgegenstände oder Geld aufbewahrt. Welches Recht hätte ich, in so einen Raum einzubrechen? Wie sollte ich das dem Mann erklären, den ich gerade geliebt habe? Einem Mann, der mich während der vergangenen Woche mehr als einmal gerettet hat. Einem Mann, der mir vermutlich mit Leichtigkeit den Kopf abreißen könnte, wenn ich ihn noch einmal so verärgere.

Also wähle ich den Weg des geringsten Widerstands und kehre in mein Zimmer zurück. Schließlich muss Avery morgen früh wieder ins Krankenhaus. Dann kann ich herumschnüffeln, so lange ich will.


Avery weckt mich mit einem Kuss, seine Finger liebkosen mich, und wieder einmal werde ich mitgerissen. Als es vorbei ist und das rationale Denken wieder einsetzt, frage ich ihn nach Williams’ seltsamer Bemerkung.

Er räkelt sich, gähnt und blickt lächelnd auf mich herab. Ich fürchte, da musst du dich verhört haben. Ich weiß nicht, was »die Eine« oder »die Macht« bedeuten sollen. Hört sich für mich ziemlich melodramatisch an.

Aber ich schüttele den Kopf. Nein. Es war in seinem Blut. Ich kann mich nicht getäuscht haben.

Avery wendet sich von mir ab, schiebt die Bettdecke von sich und steht auf. Ich muss los. Morgenvisite.

Er beugt sich vor und streift mit den Lippen meine Stirn. Wir unterhalten uns heute Abend. Ich möchte dich zum Essen ausführen. In ein besonderes Restaurant. Wenn dir das noch nicht zu viel ist?

Ich versuche, seine Gedanken zu lesen, doch es dringt nichts zu mir durch. Ja. Das wäre schön. Aber wir müssen uns unterhalten. David –

Doch er macht eine wegwerfende Geste, und Ärger spielt um seine Mundwinkel, ehe er sich rasch wieder im Griff hat. Ich muss gehen. Ich schicke dir um acht Uhr einen Wagen.

Und bis dahin werde ich dich gar nicht mehr sehen?

Er wirft mir einen heimlichtuerischen Blick zu. Ich muss unseren Abend arrangieren. Ich glaube, das Warten wird sich lohnen.

Und dann ist er weg, hat ohne einen Blick zurück den Raum verlassen.

Heute Morgen spüre ich eine leichte Veränderung in seiner Haltung. Eine Gewissheit, dass ich ihm gehöre. Er hat es also doch in meinen Gedanken gelesen. Er hat es in der Reaktion meines Körpers gespürt.

Und es ist nur zu wahr.

Trotzdem verkrieche ich mich wieder unter der Bettdecke und warte darauf, dass er das Haus verlässt.

Verführung der Nacht: Ein Vampirthriller
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