Kapitel 31
Die Stille zieht sich hin. Zehn Minuten. Dann fünfzehn, zwanzig. Als ich es nicht länger aushalte, zwinge ich mich, die Treppe hinaufzusteigen. Avery steht am Fenster, mit dem Rücken zu mir.
Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll.
Er antwortet nicht. Rührt sich nicht. Sein Geist ist eine schwarze Leere, kahl und kalt. So etwas habe ich noch nie gespürt. Sogar die Temperatur im Raum hat sich gesenkt. Ich zittere trotz der strahlenden Sonne und weiß, dass Avery das bewirkt.
Ich habe nur eine Entschuldigung dafür, beginne ich von neuem. Ich war verzweifelt und wollte David helfen. Er ist mein Freund, und ich muss alles versuchen, um ihn zu retten. Williams hat mir nichts angeboten außer der Möglichkeit, dass er eventuell eine Art Tauschgeschäft mit den Rächern aushandeln könnte. Als ich Lawson am Strand gesehen habe, dachte ich, ich könnte meinen eigenen Deal machen. Was Lawson mir erzählt hat –
Averys Stimme schneidet mir innerlich das Wort ab, ruhig und beherrscht. Du hast geglaubt, ich hätte David entführt. Du bist hierhergekommen, hast mein Haus durchsucht und bist in ein Heiligtum eingebrochen, ohne vorher auch nur mit mir zu sprechen. Und das trotz allem, was zwischen uns geschehen ist.
Er wendet mir immer noch den Rücken zu, und trotz der finsteren Energie, die er ausstrahlt, zieht mich der Drang, ihm näher zu sein, zu ihm hin. Ich bleibe neben ihm stehen, so dicht, dass wir uns beinahe berühren, doch ich kann mich ihm nicht so weit aufdrängen, ihn jetzt ungefragt anzufassen.
Das ist klug von dir, lässt er mich wissen.
Avery. Du musst auch meine Lage verstehen. Du warst ein großartiger Lehrer. Ich glaube, ohne dich hätte ich die Verwandlung nicht überstanden. Aber David ist mein bester Freund. Ich kann ihn nicht kampflos aufgeben. Ich werde ihn nicht einfach sterben lassen. Du sprichst oft von unserer Natur. Es liegt nicht in meiner Natur, ihn im Stich zu lassen.
Ich spüre, dass Avery sich bewegt, bevor meine Augen es mitbekommen. In einem Augenblick steht er noch neben mir am Dachfenster, im nächsten auf der anderen Seite des Raums, die Hand auf dem Sarg der jungen Frau.
»Das war meine Ehefrau, Marianna.« Sein Tonfall klingt zurückhaltend, argwöhnisch, seine Stimme alterslos und uralt zugleich. »Wir haben uns zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts kennengelernt, als sie noch ein junges Mädchen war. Ich wollte mich nicht in sie verlieben. Ihr Vater kam als Patient in das Krankenhaus, in dem ich tätig war. Er hatte Tuberkulose, zu jener Zeit ein Todesurteil. Seine Frau war der Krankheit bereits zum Opfer gefallen, und ich konnte nichts für ihn tun, außer ihm die Schmerzen zu nehmen. Er wusste, dass er im Sterben lag. Er flehte mich an, mich seiner Tochter anzunehmen, weil sie niemanden mehr hatte, und ich gab ihm mein Wort. Als ich sie zum ersten Mal sah, bei seiner Beerdigung, wusste ich, dass ich verloren war.«
Mit den Fingern zeichnet er die feinen Züge auf dem Porträt nach. »Sie war so wunderschön. Rein im Herzen und im Geiste. Es war lange Zeit vergangen, seit ich mir erlaubt hatte, mein Herz an eine Sterbliche zu verlieren. Ich war verletzlicher als sie. Doch trotz meiner Befürchtungen ließ ich zu, dass ich mich in sie verliebte. Anfangs war es himmlisch. Es war himmlisch, bis sie von meiner wahren ›Natur‹ erfuhr. Sie war fünfundzwanzig, als sie sich das Leben nahm.«
Sein Blick, verschwommen vor Erinnerungen, wird klar und gefährlich düster, als er mich fixiert. Erzähle mir nichts von unserer ›Natur‹, Anna. Du hast keine Ahnung, was dich erwartet. Je eher du lernst, dich von den Angelegenheiten der Sterblichen zu distanzieren, desto besser für dich.
Ich verstehe dich nicht, Avery. Du kannst dich nicht von den Angelegenheiten der Sterblichen distanziert haben – du bist Arzt.
Er winkt ab. Mein vergeblicher Versuch, für Hunderte Jahre der Unbedachtheit zu sühnen. So lange habe ich gebraucht, um zu erkennen, dass ich in Harmonie mit den Menschen leben will, statt sie als Beute zu betrachten. Als Arzt ist mir das möglich, ohne allzu sehr in ihr Leben verwickelt zu werden.
Aber diese Särge hier bezeugen die Tatsache, dass du nicht immer so gedacht hast. Du hast dich immer wieder in Sterbliche verliebt.
»Zu meinem unendlichen Bedauern«, donnert er.
Beim Klang seiner Stimme zucke ich zusammen. »In hundert Jahren empfinde ich vielleicht genauso«, sage ich ruhig. »Aber jetzt habe ich einen Freund, der seit vierundzwanzig Stunden vermisst wird. Wenn du mir nicht mehr helfen kannst oder möchtest, verstehe ich das. Aber ich werde David finden, und falls ein Vampir etwas mit dieser Entführung zu tun haben sollte, so wird er es bereuen.«
Jetzt glaubst du also, Williams hätte etwas damit zu tun. Das hat er in meinem Kopf aufgeschnappt, ehe ich es selbst gedacht habe.
Ja. Er ist außer dir der Einzige, der von uns beiden weiß. Ich glaube, du solltest wissen, was er mir heute gesagt hat. Und zwar alles.
Ich lasse ihn die Unterhaltung mit Williams aus meinem Verstand ablesen. Als ich mich an seine Bemerkungen erinnere, Avery wolle mich aus San Diego fort haben, erstarrt Avery.
»Ich habe nie behauptet, ich wolle, dass du die Stadt verlässt.«
»Nun, offensichtlich will er mich aus dem Weg haben. Kannst du dir vorstellen, was der Grund dafür sein könnte?«
Avery denkt darüber nach und erlaubt mir Zugang zu seinem Geist, damit ich seinen Überlegungen folgen kann. Doch gleich darauf schüttelt er den Kopf.
Dass du ein Vampir geworden bist, bedeutet für Williams keinerlei Bedrohung. Er ist eine alte Seele. Beinahe so alt wie ich. Du irrst dich.
Nein.
Ich bin einen Schritt zurückgewichen. Ich weiß nicht viel über Williams, aber irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Zunächst einmal hat er gelogen, was deine Gefühle für mich angeht. Und wenn es stimmt, dass ich keinerlei Bedrohung für ihn bin, warum will er mich dann glauben lassen, du wolltest, dass ich weggehe? Das ist das einzige Argument, das mich möglicherweise dazu bringen könnte, zu gehen.
Wie ich dir bereits sagte, erwidert Avery steif, habe ich nie behauptet, ich wolle, dass du gehst.
Was ist es dann? Was an mir könnte ihm gefährlich werden?
Avery geht zur Tür. Ich will nicht länger in diesem Raum bleiben. Ich gehe wieder nach unten.
Er wartet, lässt mich vorgehen, zieht dann die Tür hinter uns zu und bemerkt: Wenn du Fragen über Williams hast, kannst du sie ihm gleich selbst stellen. Er wird in einer halben Stunde hier sein.
Das wird eine lange halbe Stunde. Avery verschwindet in der Bibliothek und lässt mich im Wohnzimmer warten, allein mit meinen eigenen Gedanken. Ich bin am Ende meiner Möglichkeiten angelangt. Donaldson ist tot, Lawson behauptet, die Rächer hätten mit Davids Entführung nichts zu tun, und anscheinend habe ich es mir auch noch mit meinem besten und einzigen Verbündeten Avery verdorben. Wird er mir erlauben, Williams in die Mangel zu nehmen? Oder wird er mich daran hindern, zu tun, was ich tun muss?
Als es klingelt und Avery nicht erscheint, um aufzumachen, gehe ich selbst zur Tür. Williams ist genauso gekleidet wie heute Vormittag, er hat sogar wieder eine Zigarre in der Hand. Er wirkt überrascht, mich zu sehen.
»Ich hatte Avery erwartet.«
»Warum?«, erwidere ich. »Sie wollten mich anrufen, schon vergessen?«
Er zuckt mit den Schultern und drängt sich an mir vorbei. »Ist er hier?«
»Ist das von Bedeutung?«
Er versucht, in meinen Kopf einzudringen, aber ich lasse ihn nicht. Und ich weiß, dass er Averys Anwesenheit nicht spüren kann, weil das »Sicherheitssystem« des Hauses das verhindert.
Also schön. Wahrscheinlich ist es ohnehin besser, wir unterhalten uns unter vier Augen.
Er geht voran ins Wohnzimmer. Er gibt sich, als sei er hier zu Hause, geht zum Sideboard gegenüber vom Kamin und holt Gläser und eine Karaffe heraus. Er hebt ein Glas in meine Richtung. »Möchten Sie etwas trinken?«
Ich schüttele den Kopf und sehe zu, wie er sich zwei Fingerbreit einschenkt. Sogar aus dieser Entfernung erkenne ich sein Getränk an dem kraftvollen Eichenduft. Scotch.
Williams nippt daran und lächelt anerkennend. Avery hat immer nur das Beste.
Er setzt sich aufs Sofa, schlägt ein Bein über und sieht mich an. Wollen Sie sich setzen, oder haben Sie die Absicht, den ganzen Abend lang unheilverkündend über mir aufzuragen?
Ich habe nicht einmal vor, den Abend mit Ihnen zu verbringen. Sagen Sie mir, was Sie herausgefunden haben.
Ein wenig ungeduldig runzelt er die Stirn. Sie müssen wirklich lernen, es langsamer angehen zu lassen. Mit etwas Glück werden Sie sehr, sehr lange leben. Wenn Sie jedoch darauf bestehen, sich mit voller Kraft voraus auf jedes kleine Problemchen zu stürzen, das sich Ihnen stellt, dann wird das, so fürchte ich, Ihr Verderben sein.
Problemchen? Ich trete einen Schritt auf ihn zu, und Empörung strömt aus jeder Pore meines Körpers wie Schweiß. Diese blinde Wut ist überwältigend, und sie macht mir Angst.
Williams jedoch scheint unbeeindruckt und ganz gewiss nicht verängstigt. Die einzige Reaktion auf meinen lautlosen Temperamentsausbruch ist eine hochgezogene Augenbraue. Sehen Sie, was ich meine? Sie werden sich ausbrennen, wenn Sie so weitermachen. So etwas kann geschehen, ich habe es selbst schon gesehen.
Er spielt mit mir.
Ich weiß es. Ich sollte damit umgehen können. Aber in den vergangenen paar Tagen ist zu viel mit mir passiert, ich habe zu viele geistige und körperliche Veränderungen durchgemacht und keine Chance gehabt, mich daran zu gewöhnen. Die ganze Wut, Frustration und Angst kochen in mir hoch. Eben war ich noch menschlich, im nächsten Augenblick bin ich ein Tier. Angetrieben von dem einzigen Gedanken, dass ich Williams dieses selbstzufriedene Lächeln vom Gesicht wischen will, stürze ich mich auf ihn, mit gebleckten Zähnen und klauenartigen Fingernägeln.
Dieser wilde Angriff bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Er ist auf eine so heftige Reaktion nicht vorbereitet. Das Glas fliegt ihm aus der Hand, die Arme heben sich, um das Gesicht zu schützen. Aber er ist älter und stärker, und sobald der Schreck überwunden ist, beginnt er zu kämpfen.
Ich merke sofort, dass ich ihm nicht gewachsen bin. Im Gegensatz zu Donaldson ist er ein erfahrener und geschickter Kämpfer. Er schleudert mich auf den Rücken und klemmt mich unter sich fest wie ein Insekt unter der Nadelspitze. Er bleckt die Lippen und enthüllt spitze Zähne, eine Hand liegt an meiner Kehle.
Was habe ich Ihnen gesagt?, zischt er in meinem Kopf. Ungeduld wird Ihr Verderben sein.
Ich sehe ihm in die Augen. Er wird mich töten, will mich töten, und ich bin machtlos. Ich kann mich nicht retten.
Ich schließe die Augen und biete ihm die pulsierende Arterie dar wie ein Geschenk. Ich will, dass es vorbei ist. Ich kann David nicht retten. Ich kann mich selbst nicht retten.
Auf einmal will ich nur noch, dass es endlich vorbei ist.