Kapitel 38

Das Kleid ist aus Seide, so zart gewebt, dass sich der Stoff anfühlt wie ein Flüstern auf der Haut. Die Bänder aus Edelsteinen kreuzen sich am Oberteil, schmiegen sich an jede Brust und heben sie hervor, und der weit schwingende Rock fällt bis zu den Knöcheln. Es ist hellrot – die Farbe von Blut, die Farbe des Lebens. Es ist ein Kleid, das ohne Unterwäsche getragen werden will – ein Kleid, das zum Sex einladen und ihn möglichst leicht erreichbar machen soll.

Avery hat mit Bedacht gewählt. Was auch immer er heute Abend vorhat, es kann keinen Zweifel daran geben, wie er den Abend ausklingen lassen will. Und warum sollte er sich das nicht so vorstellen? Schließlich hat fast jeder Abend, seit ich ihn kenne, so geendet.

Es wird ihn wohl überraschen, dass dieser Abend so ganz anders enden wird.

Aber leicht wird das nicht. Ich muss meinen Geist sauber schrubben und jede Spur der Sorge um David daraus tilgen, die Erinnerungen an meine morgendliche Entdeckung und den Hass, der sich in meinem Magen verhärtet wie trocknender Beton. Avery muss glauben, ich sei noch dieselbe Frau, mit der er heute Morgen geschlafen hat. Wenn er irgendeinen Verdacht schöpft, wird er mich töten, daran zweifle ich nicht.

Ich streiche mit den Händen über meinen Körper. Ich weiß nicht, wie ich in Averys Meisterwerk der Verführung aussehe. Es gibt keine Spiegel im Haus, und selbst wenn, könnte ich sie nicht gebrauchen. Ich kann auch kein Make-up auftragen oder irgendetwas mit meinem Haar anstellen, außer es zu kämmen. Also zupfe ich mit den Fingern mein von der Dusche nasses Haar zurecht und verteile ungeduldig etwas Lipgloss auf meine trockenen Lippen.

Ich will es hinter mir haben. Es ist eine Ironie, dass ich Averys eigene Stärke gegen ihn einsetzen werde. Er hat mir mit seinem Blut auch seine Kraft gegeben. Das hat Williams gespürt, als ich ihn angegriffen habe, und deshalb konnte ich ihn besiegen. Das begreife ich jetzt.

Ich schaue auf die Uhr. Es ist zehn vor acht. Der Wagen muss jeden Moment kommen. Wird Avery selbst darin sitzen? Ich glaube es nicht. Ich glaube, er will mir einen großen Auftritt lassen. Vielleicht soll ich irgendeine vergoldete Treppe herunterschweben oder wie eine Vision in einem von Kerzen erleuchteten Garten erscheinen. Schließlich ist er Romantiker.

Und ich bin darauf hereingefallen.

Ich seufze und schlüpfe in echte Fick-mich-Schuhe, Slingpumps mit 10-Zentimeter-Absätzen von Manolo Blahnik. Avery hat an alles gedacht. Die Schuhe habe ich unten in dem Kleidersack gefunden.

Punkt acht Uhr biegt eine schwarze Mercedes-Limousine in die Auffahrt ein. Ich öffne die Tür, um den Fahrer zu begrüßen, und bin nicht erstaunt, als ich sofort spüre, dass er ein Vampir ist. Er muss sehr jung verwandelt worden sein, denn er sieht aus, als wäre er Mitte zwanzig. Sein schlanker Körper steckt in einem schwarzen Smoking. Er hebt zwei Finger und lächelt zur Begrüßung. Ich lese in seinen Gedanken, dass ihm das Kleid gefällt und er die Frau darin »scharf« findet. Anscheinend ist es ihm egal, dass ich das alles mitverfolgen kann, auch die körperlichen Reaktionen.

Die Dreistigkeit der Jugend.

Aber mir ist es auch egal. So egal, dass ich ihn nicht einmal frage, wie lange er schon Vampir ist. Ich will nur, dass er mich zu Avery bringt.

»Sind schon unterwegs«, sagt er grinsend.

Als ich auf dem Rücksitz Platz genommen habe, setzt er sich ans Lenkrad. Von dem Moment an sind mir seine Gedanken verschlossen. Ich blicke mich in der Limousine um, sehe Lautsprecher und höre ein sanftes Rauschen. Avery hat auch dieses Auto mit seinem persönlichen Schutzschild ausgestattet. Eigentlich bin ich darüber erleichtert. Denn das bedeutet, dass ich meine Gedanken nicht hüten muss.

Der Fahrer dreht sich um und sieht mich an. »Mein Name ist Robert«, sagt er. »Und Dr. Avery lässt ausrichten, Sie sollten sich zurücklehnen, sich entspannen und die Fahrt genießen. In der Minibar ist gekühlter Champagner.«

»Wo fahren wir denn hin?«

Wieder dieses Lächeln. »Das ist eine Überraschung.«

Dann wendet er sich wieder ab, drückt auf einen Knopf, eine verdunkelte Scheibe fährt zwischen uns hoch, und ich bin allein auf dem Rücksitz, allein mit meinen Gedanken und einer Flasche 1962er Dom Perignon.

Die Nacht ist mondlos, die Luft still. Ich beobachte durch die Fenster, dass wir die Küste hochfahren. In Del Mar biegt Robert auf eine Seitenstraße ab, die sich von der Küste ins Vorgebirge emporschlängelt. Ich lehne mich zurück, nippe Champagner aus einer Kristallschale und genieße die Vorfreude auf das gewaltige Chaos, das ich in Averys Welt anrichten werde. Dasselbe Chaos, das er in meiner angerichtet hat. Die Vorstellung von seinem lichterloh brennenden Haus wärmt mich und stärkt meine Entschlossenheit.

Doch all das muss ich jetzt sogar aus meinem Unterbewusstsein verdrängen. Ich muss eine andere Art von Feuer schüren. Er muss glauben, ich käme in Liebe zu ihm, bereit, das Leben anzunehmen, das er mir bietet. Und es ist wirklich nicht so schwierig, diesen Schalter umzulegen. Immerhin glüht die Leidenschaft, die sich entzündet, wann immer wir zusammen sind, ebenso heiß wie der Hass in mir.

Der Wagen wird langsamer und hält vor dem Tor der Einfahrt zu einem privaten Club – zumindest steht das auf dem Schild neben dem Wachhäuschen. Ein Mann in Uniform steckt den Kopf aus dem Häuschen und nickt Robert zu. Das Tor öffnet sich. Ich stelle mein Glas weg und schaue hinaus, um zu sehen, was Avery sich für mich ausgedacht hat.

Es ist so ziemlich das, was ich erwartet hatte.

Lampions beleuchten eine Auffahrt, die zu einer weitläufigen Villa im Kolonialstil mit Säulenvorbau führt. Das Haus schwebt in der Nacht wie ein bleiches Spukschiff. Es brennt nirgends künstliches Licht. Nur Kerzen flackern in jedem Fenster. Eine märchenhafte Kulisse.

Robert hält, und ein livrierter Diener eilt die Treppe herab, um mir die Wagentür aufzuhalten. Wortlos tritt er beiseite, als ich aussteige, geht dann an mir vorbei die Treppe hinauf und hält mir die Haustür auf. Ich erwarte, dass Avery mich drinnen empfängt, doch das Einzige, was mich begrüßt, ist leise Musik, die durch eine offene Glastür vor mir hereintreibt. Ich blicke mich um, aber der Diener ist verschwunden. Ich soll mich wohl allein zurechtfinden.

Die offene Glastür führt zu einem Rosengarten, die Luft ist von Blumenduft erfüllt. Doch auch hier wartet niemand, deshalb folge ich einem Pfad brennender Fackeln zu einer großen Terrasse. Das ist eine Pool-Terrasse, und das schimmernde Wasser verschmilzt ohne Bruch mit dem Horizont. Ein Tisch ist für zwei gedeckt.

Aber immer noch kein Avery.

Ich gehe zu dem Tisch und schenke mir ein Glas Champagner ein – das zweite heute Abend. Aber es wird das letzte sein. Ich muss einen klaren Kopf behalten.

Aber warum denn?

Die Frage treibt vom anderen Ende des Swimmingpools durch die stille Nachtluft zu mir. Ich drehe mich um und beobachte, wie Avery in der Tür eines kleinen Badehauses erscheint und auf mich zugeht. Er hat eine silberne Vase mit roten Rosen in der Hand.

Dies ist der perfekte Abend, um dich dem Augenblick hinzugeben. Keine Vernunft, keine Hemmungen, kein »klarer Kopf« ist vonnöten. Dieser Abend ist nur für dich.

Er kommt näher, und seine Augen glitzern im Mondlicht wie die Flammen der Kerzen, die im Pool schwimmen. Er stellt die Vase auf den Tisch.

Eigentlich sollten sie schon hier stehen, wenn du ankommst. Er streckt den Zeigefinger aus, an dem ein Blutstropfen im Kerzenschein schimmert. Aber ich habe mich an einem Dorn gestochen, und es hört einfach nicht auf zu bluten.

Ich stelle das Champagnerglas auf den Tisch und umfasse seine Hand mit beiden Händen. Ich führe den Finger an die Lippen und sauge zart an der Wunde, bearbeite den Einstich mit der Zunge, bis ich spüre, dass die Haut sich schließt, ganz ähnlich, wie er es bei meinem verletzten Bein gemacht hat. Ganz ähnlich, wie ich es vorhin bei David gemacht habe. Ich halte meinen Geist sorgfältig verschlossen.

Als ich zu Avery aufblicke, hat er die Augen geschlossen und schwankt ein wenig – ob er dem verführerischen Klang der Musik nachgibt, die nun lauter zu uns dringt, oder dem Gefühl meiner Zunge auf seiner Haut, kann ich nicht sagen. Er kommt wieder zu sich, als er meinen Blick spürt.

»Du bist eine gute Schülerin«, sagt er. »Wenn ich nicht aufpasse, erfährst du alle meine Geheimnisse und brauchst mich nicht mehr.«

Ich sehe ihm in die Augen. »Ich glaube, es gibt noch ein paar Geheimnisse, die du mir vorenthalten hast, nicht wahr?«

Er tritt einen Schritt zurück, doch statt mir zu antworten, betrachtet er mich und das Kleid. »Wunderschön. Ich wusste, dass es genau das Richtige für dich ist, sobald ich es gesehen habe. Du siehst phantastisch aus, Anna.«

Er hat sich auch herausgeputzt und trägt einen gut geschnittenen schwarzen Smoking. Allerdings ohne Fliege, und der Kragen seines weißen Seidenhemds ist offen. Damit es schneller zur Sache gehen kann.

Er lacht über meine Gedanken. Warum nicht? Wir sind doch längst über die albernen präkoitalen Spielchen hinaus, meinst du nicht auch?

Ich schätze, die Flitterwochen sind vorbei.

»Ganz im Gegenteil.« Avery spricht diese Worte laut aus, greift dabei in seine Tasche und holt eine kleine, samtbezogene Schachtel heraus. »Für uns beide werden die Flitterwochen nie zu Ende gehen.«

Er hält mir das Schächtelchen hin, und ein Lächeln spielt um seine Mundwinkel. Doch sein Blick ist ernst, während er zusieht, wie ich das Schächtelchen nehme und aufklappe.

Darin liegt ein Ring, Platin, mit einem Diamanten, der jeder lebenden Frau den Atem verschlagen würde. Da bin ich sicher, denn selbst ich keuche bei diesem Anblick auf.

Er hat mich völlig überrumpelt. Ich hatte Verführung erwartet. Oder eine Demonstration des guten Lebensstils als Vampir. Mit einem Antrag hatte ich nicht gerechnet.

Falls dies denn einer ist.

Ich blicke zu ihm auf und lasse ihn meine Verwirrung lesen.

Er lacht. »Ich habe es geschafft, du bist sprachlos. Zum ersten Mal, seit ich dich kenne.«

Ich gebe ihm die kleine Schatulle zurück. »Das ist ein sehr schöner Ring. Ich kann ihn nicht annehmen.«

Doch er weigert sich, ihn zurückzunehmen, und drückt ihn mir wieder in die Hand. »Du verstehst mich falsch. Das soll kein Heiratsantrag sein. Jedenfalls noch nicht. Ich weiß, dass es zu früh für dich ist. Aber ich möchte, dass du den Ring trotzdem annimmst, als Zeichen meines Dankes.«

Deines Dankes? Wofür?

Er wendet sich ab, um sich ein Glas Champagner einzuschenken und meines vom Tisch zu nehmen. Er reicht mir mein Glas und hebt das seine, mit strahlenden Augen. »Auf Anna. Die mich von den Toten zurück ins Leben geholt hat. Buchstäblich. Dafür wäre kein bloßes Dankeschön angemessen.«

Er trinkt einen Schluck und wartet darauf, dass ich ebenfalls trinke. Ich mustere ihn über den Rand des Glases hinweg. Er glaubt tatsächlich, er sei in mich verliebt. Aber vor allem glaubt er, ich sei in ihn verliebt. Er glaubt, er habe gewonnen.

Plötzlich steht mir alles deutlich vor Augen.

Alles, was mir zugestoßen ist. Das Feuer, Williams, die Rächer. Avery steckt hinter allem.

Aber warum?

Verführung der Nacht: Ein Vampirthriller
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