Die Dunkle Frau lächelte das seltsame, rätselhafte Lächeln, das man auf den ältesten Statuen Griechenlands und Ägyptens sehen kann. »Du kennst meinen Namen?«
»Ich weiß, daß du die Dunkle Frau aus dem Meer bist; dies muß dein Titel sein, denn es kann nicht zwei von deiner Art geben.«
»Ah«, sagte sie, »alter Philosoph, du hast deine Klugheit nicht verloren. Mag sein, daß du mir jetzt schmeicheln willst, nachdem du mir in deinem langen Leben so viele schwere Verletzungen zugefügt hast. Wir sind alte Feinde, du und ich. Du hast mich viele Male gesehen und dein Wissen aus meinem dunklen Reich gestohlen. Du hast dein System aufgebaut, um mich zu verletzen. Und jetzt sollst du mich in Fleisch und Blut sehen.« Die Dunkle Frau schloß und öffnete die Augenlider und blickte ihn mit ihrem schlangengrünen Blick an.
»Höre, Philosoph!« rief sie. »Dies ist der Tag der Tage, an dem die große Woge der Veränderung über die Welt zieht, und mit ihr wird der Geist der Zeit – was heißen soll, das Bewußtsein der Menschen – für immer transformiert. In diesem ehrfurchtgebietenden Augenblick sind die ehernen Gesetze von Notwendigkeit und Schicksal, die sonst diese Welt regieren, aufgehoben. Die dunklen Wesen und Geister, welche diese Existenzebene regierten, dürfen ein letztes Mal auf Erden wandeln.«
De Maillet sagte: »Ich habe einmal gelesen, daß die Menschen in ihren letzten Tagen manchmal verborgene Wahrheiten erkennen und prophetische Visionen haben. Heißt das, daß ich sterbe?«
»O Sterblicher, die ganze Welt liegt im Sterben, und eine neue wird geboren: Eine Welt, die von dir selbst und den anderen deiner Art zum Leben erweckt wurde. Es wird eine ödere, kältere Welt, in welcher eine grimmige, gnadenlose Erleuchtung die warmen, verträumten Legenden, Dogmen und Romantizismen aus den Köpfen der Menschen brennen wird.«
»Aber mein System«, rief de Maillet. »Wird mein System in der neuen Welt der Klarheit und des Lichtes triumphieren? Wird mein Name nicht vergessen werden? Werden mich die Beweise bestätigen?«
Die Dunkle Frau lachte laut und zeigte ihm eine graue Mundhöhle voller scharfer, gezackter Zähne. »Du bittest mich um eine Prophezeiung? Ich bin die Mutter der Phantasien, die Mutter von Glaube, Hoffnung und Kirche.«
De Maillet starrte sie an und hielt schützend seinen Elfenbeinstock vor die Brust. »Du bist die Ignoranz.«
»Das bin ich«, sagte die Dunkle Frau. »Also bitte mich um keine Gefälligkeiten, du, der du mich in der ganzen Welt verfolgt und belästigt hast; du, der du durch deine gelehrten Bücher und das Vorbild deines Lebens mich auch nach dem Tode noch belästigen wirst. Frage lieber nach meinen Töchtern, wenn du schon fragen mußt.«
Die Dunkle Frau machte eine Geste mit ihrer schiefergrauen Hand, und drei verrückte Schwestern sprangen vor de Maillets Füßen aus dem Sand.
»Ich bin der Glaube«, sagte die erste Schwester. »Ich bin die, welche in den Geist der Menschen eintritt, wenn die Kraft seiner Vernunft erschöpft ist, wenn er sich störrisch an seine eigenen Wünsche und ehrgeizigen Ziele klammert und an sie glaubt, weil er fürchtet, verrückt zu werden. Du hast mich aus deinem Kopf und mit deinen Büchern auch aus den Köpfen mancher anderer Menschen vertrieben; aber ich werde weiterleben, solange es Unwissenheit und Furcht gibt.«
»Warum scheinst du dann so bedrückt?« sagte de Maillet. »Und warum ist dein Gesicht so bleich?«
»Oh, Gelehrter, du hast mich verwundet. In der neuen Zeit, die nun heraufdämmert, wird es auch anderen möglich sein, ohne mich zu leben, wie du es schon getan hast. Du und deine Brüder, ihr mit den Augen, die alles sehen und nichts fürchten, ihr werdet mich in eure Kataloge und Abhandlungen aufnehmen und mich mit scharfen Argumenten und skeptischer Logik bezwingen. Deshalb zittere ich und vermag deinen Blick nicht zu ertragen.«
»Aber was wird aus meinem System, Geist? Wird es für wahr befunden werden?«
»Du mußt glauben, daß es so kommen wird«, sagte der Glaube und versank im Sand.
Die zweite Schwester trat vor ihn. »Ich bin die Hoffnung«, sagte sie anklagend, »und auch ich werde schwer verwundet werden. Ich werde nicht mehr die große, blinde Hoffnung auf Erlösung sein. Nur winzige Fragmente von mir werden bleiben: Hoffnung auf Macht, auf Reichtum oder irdischen Ruhm, oder einfach Hoffnung auf ein Ende der Schmerzen. Diese kommende Zeit wird nicht die Zeit großer Hoffnungen sein. Vielmehr wird es Pläne geben, Voraussagen, Theorien und Hypothesen, denn die Menschen werden ihr Schicksal selbst in die Hände nehmen und nur sich selbst die Schuld oder den Ruhm dafür anrechnen. Ich werde nicht völlig vernichtet werden; aber du wirst mir meine Pracht rauben.«
»Aber was wird mit meinem System, Geist? Du, deren Augen immer auf die Zukunft gerichtet sind? Wird mein Werk überdauern?«
»Du mußt hoffen, daß es überdauern wird«, sagte sie und verschwand im Sand.
De Maillet wandte sich an den Geist der Kirche. »Du hättest mein sein sollen!« sagte die letzte Schwester, indem sie mit einem knochigen Arm, dessen Hand am Gelenk abgetrennt war, auf ihn deutete. Die Augen der Erscheinung hinter dem Schleier waren fest geschlossen. »Wenn nicht von meinen Theologen, dann hättest du von mir verbrannt werden sollen!«
»Ich habe mich nie gegen dich gestellt«, erwiderte de Maillet. »Jedenfalls nicht öffentlich.«
»Aber deine Logik hat mir die Hände abgeschlagen!« klagte der Geist. »Deine Nachkommen in den Tagen, die jetzt anbrechen, werden schreien: ›Zerschmettere dieses ungeheuerliche Ding!‹ Sie werden mich verhöhnen, sie werden mich zu etwas machen, das von frei denkenden Menschen gescheut werden muß.
Dein Herz war nicht mein, Philosoph. Es gehörte der Wissenschaft und dem weltlichen Ruhm. Jedesmal, wenn du die flammende Hölle verachtet und angezweifelt hast, wurden die Flammen etwas kleiner. Indem du seine weltlichen Maschinerien entdecktest, hast du den Gott der Propheten zu einem Gott der Uhrmacher verkommen lassen, zu einem gespenstischen Mechaniker. Die Dämonen, die in Wüsten lauern; die Geister von Wäldern und Tälern; die Legionen von Geistern und Engeln, alle, alle werden in erbarmungslosem Licht vergehen!
Nie wieder werde ich die Seelen der Gläubigen sammeln, auf daß sie bestraft und gerichtet werden. Wenn die große Veränderung geschehen ist, wird es keine Seelen mehr geben. Der Mensch wird nicht mehr sein als ein kluges Tier, geboren aus den Lenden von Affen. Die geschärften Geister der Menschen werden all meine schönen Bilder in Stücke schlagen.« Die Kirche kehrte dem Philosophen weinend den Rücken.
De Maillet stützte sich auf seinen Stock. »Du hättest die Wahrheit nicht verbergen dürfen«, sagte er.
»Die Wahrheit!« rief die Ignoranz. »Oh, Sterblicher, die Wahrheit existiert nur im Kopf der Menschen. Ihr selbst habt diese große Veränderung in der Welt bewirkt. Das runde, behagliche Firmament wurde eurem Ehrgeiz zu klein. Nein, ihr wolltet Sterne im Newtonschen Raum haben und ganze Universen, die euren Gesetzen folgten! Jedes Gesetz und jedes Datum, das dem Großen Geheimnis entrungen wird, schwächt Gott und stellt den Menschen an seinen Platz! Ich sehe, daß mein Schicksal auf deiner Stirn geschrieben steht. Der Tag wird kommen, in einer gräßlichen Zukunft, an dem der Mensch alles umfassen kann, und seine Allwissenheit wird der letzte Schritt zu meiner Zerstörung sein. Sieh meinen Haß!«
Aus den Tiefen des Meeres brandete eine brodelnde Wassermasse aufs Land und schlug de Maillet nieder. Der Stock wurde ihm aus den Händen gerissen, und er roch den Schlamm. Während er geblendet im dunklen Wasser herumtappte, packte er einen runden Kieselstein vom Strand. Er kam spritzend wieder auf die Füße.
Seine Brille war weg. Er sah sich wild nach der Erscheinung der Dunklen Frau um. »So!« rief er und schüttelte den Stein in der geballten Faust. »Dies wird dich überwinden, Dunkler Geist! Dies ist der Beweis: Ich setze meinen Glauben und meine Hoffnung darauf, und in mir selbst …«
Ein dumpfes Brüllen kam vom Meer. De Maillet sah undeutlich, wie die Wellen zurückwichen und sich eine riesige Wand, in der helle Blitze zuckten, aufbaute, um auf das Land herabzubrechen. Der Sturm erfaßte ihn mit schrecklicher Gewalt, es knackte, donnerte und brüllte, als würden die Mauern des Himmels selbst unter einer Belagerung zerbrechen.
Keuchend, stolpernd, den Stein an sein pochendes Herz gepreßt, floh Benoit de Maillet in die tiefe Dunkelheit.
Ein reines, gleißendes Licht reizte die Lider des alten Mannes. De Maillet öffnete stöhnend die Augen und sah einen strahlenden Sommermorgen.
Plötzlich schob sich das Gesicht seines Dieners Torquetil vor seine Augen. De Maillet packte den jungen, livrierten Mann an der Schulter. »Torquetil!«
»Hurra!« rief Torquetil, der sich losmachte und freudig in die Luft sprang. »Er bewegt sich, er lebt! Mein Herr spricht zu mir!«
Er hörte rauhe Hochrufe. De Maillet setzte sich benommen auf. Eine bunte Versammlung von Hausdienern, Fischern und Städtern drängte sich um ihn. Einige waren mit halb abgebrannten Fackeln gerüstet. »Wir haben die ganze Nacht nach Euch gesucht«, sagte Torquetil. »Ich kam mit dem Wagen, sobald das Wetter sich verschlechterte, aber Ihr wart nicht mehr da!«
»Hilf mir auf«, sagte de Maillet. Der junge Bretone schob seine Schulter unter de Maillets Arm und half ihm auf die Füße. »Monsieurs Kleider sind durchnäßt«, sagte Torquetil.
De Maillet starrte kurzsichtig blinzelnd den Stein an, den er immer noch in der Hand hatte.
»Der junge Herr, der hier war, dachte daran, daß wir auch in den Lover's Rocks nachsehen sollten«, sagte Torquetil, indem er höflich auf den gut gekleideten Jean Martine den Jüngeren deutete.
»Es war nichts weiter«, sagte der junge Händler, der nähertrat. »Nachdem wir uns … äh … getrennt hatten, machte ich mir plötzlich Sorgen um Euer Exzellenz. Das Wetter verschlechterte sich ganz plötzlich, und ich dachte, Euer Exzellenz hätten vielleicht hier Schutz gesucht.« Er lächelte de Maillet wohlwollend an, offenbar erfreut über seine Findigkeit, als es darum ging, einen exzentrischen alten Mann zu suchen. »Die Felsen waren sehr hoch; im Wind und in der Dunkelheit verirrten sich meine Diener. Ich hoffe, Euer Exzellenz sind nicht verletzt.«
»Ich habe meine Brille verloren«, sagte de Maillet. »Torquetil, hast du meine Reservebrille?«
»Aber natürlich, Monsieur.« Er zog die Brille hervor. De Maillet klemmte sie sich hastig auf die Nase und studierte den von Wellen geglätteten Stein. »Bemerkenswert«, sagte er. »Wirklich bemerkenswert! Nun habe ich so lange die Ufer dieses großen Meeres erkundet und nur einen einzigen von dieser Art gefunden. Immerhin, diesen hier habe ich. Dieser wenigstens gehört mir.«
Torquetil blickte flehend zu Jean Martine; der Händler lächelte gequält. »Wir müssen Euer Exzellenz trockene Kleider beschaffen«, sagte er. »Mein Wagen wartet nicht weit entfernt auf der Straße. Er steht Euch zur Verfügung.«
»Kommt, Monsieur«, sagte Torquetil übertrieben vorsichtig. Er senkte die Stimme. »Es ziemt sich nicht, daß die gewöhnlichen Leute Euch so sehen.«
Hinter der kleinen Menge regte sich plötzlich etwas, und drei zerlumpte Kinder drängten sich nach vorn. »Wir haben ihn gefunden, wir haben ihn gefunden!« riefen sie. Eins von ihnen hob de Maillets Elfenbeinstock hoch.
»Ausgezeichnet!« sagte de Maillet. »Gib ihnen eine Kleinigkeit, Torquetil.« Der Diener warf ihnen ein paar Kupfermünzen zu, und sie klaubten sie eifrig vom Boden auf. »Und was ist mit meinem Sonnenschirm?« sagte de Maillet.
Torquetil machte ein trauriges Gesicht. »Leider, Monsieur, Euer wundervoller Sonnenschirm, so einmalig und so farbenprächtig! Der Wind, der schreckliche Wind hat ihn in Stücke gerissen; der Stoff ist fortgeweht, der Schirm ist verbogen.«
»Ich verstehe«, sagte de Maillet. Er schwieg einen Augenblick lang, dann seufzte er schwer.
Martine räusperte sich. »Wenn Euer Exzellenz geruhen wollen, das Warenhaus meines Vaters in der Stadt zu besuchen – vielleicht findet sich ein neuer Sonnenschirm für Euch.«
»Nicht so wichtig«, sagte de Maillet unerschüttert. Er polierte den Stein an der Brust seiner nassen Weste und steckte ihn in die Tasche. Die Kinder, die ihn beobachtet hatten, deuteten mit den Fingern auf ihn und kicherten hinter vorgehaltener Hand.
»Sie lachen«, bemerkte de Maillet. »Die Nachwelt wird lachen. Aber ich habe meine Antwort.« Er stützte sich schwer auf den Stock, dann wandte er sich zum Gehen. Torquetil half ihm den Hang hinauf. Plötzlich blieb de Maillet stehen und richtete sich groß auf. »Und wenn schon«, sagte er fest. »Wenn sie über mich lachen, dann weiß ich wenigstens, daß ich noch lebe! Nicht wahr, Torquetil?«
Torquetil lächelte. »Wie Ihr wünscht, Gnädiger Herr.« Er klopfte etwas Sand von den Schultern seines Herrn. »Laßt uns heimgehen. Der Koch hat versprochen, daß es keine Currygerichte mehr gibt.«
Originaltitel: ›Telliamed‹
Copyright © 1984 by Mercury Press, Inc.
(erstmals erschienen in »The Magazine of Fantasy & Science Fiction«,
September 1984)
Copyright © 1990 der deutschen Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jürgen Langowski