Versunkene Gärten
Mirasols Raupe kroch unter einem stürmischen Marshimmel durch das Ödland des Mare Hadriacum. An den Grenzen der Troposphäre wanden sich Jetströme wie schmutzige, verwirbelte Strähnen durch den blaß lilafarbenen Himmel. Mirasol betrachtete die Luftströme durch das vergitterte Glas der Führerkanzel. Ihr genmoduliertes Gehirn spuckte einen Begriff nach dem anderen aus: Schlangennest, eine Versammlung dunkler Aale, eine Karte schwarzer Arterien.
Seit dem Morgen war die Raupe beständig zum Hellas-Basin hinuntergekrochen, und der Luftdruck stieg. Der Mars lag unter dieser dicken Luftdecke wie ein fiebernder Patient und schwitzte verschüttetes Eis aus.
Am Horizont bildeten sich unter den träge fließenden Jetströmen mit explosiver Geschwindigkeit Gewitterwolken.
Das Basin war Mirasol fremd. Ihre Partei, die Modellisten, waren einem Erlösungscamp im Norden von Syrtis Major zugeteilt worden. Dort waren Windgeschwindigkeiten von zweihundert Meilen pro Stunde nichts ungewöhnliches, und das unter künstlichem Druck stehende Camp war dreimal von Wanderdünen begraben worden.
Sie hatte acht Tage gebraucht, um den Äquator zu erreichen.
Von hoch droben hatte ihr die Regal-Partei beim Navigieren geholfen. Ihr Stadtstaat im Orbit, der Terraform-Kluster, war eine Schnittstelle unzähliger Überwachungssatelliten. Die Regals demonstrierten mit ihrer Hilfsbereitschaft, daß sie alles genau beobachteten.
Die Raupe schwankte heftig, als ihre sechs spitzen Füße den Abhang einer Bergsenkung hinunterstiegen. Mirasol sah plötzlich das Spiegelbild ihres eigenen Gesichts im Glas, bleich und gespannt, die dunklen Augen verträumt und verhangen. Es war ein kahles Gesicht mit der anonymen Schönheit einer genmodulierten Frau. Sie rieb sich die Augen mit Fingern, deren Nägel sie abgekaut hatte.
Hoch über ihr zog im Westen eine Wolke aus aufgewirbeltem Erdreich vorbei und gab den Blick auf die Leiter frei, das mächtige Ankerkabel des Terraform-Kluster.
Über den Wolken verblaßte das Kabel allmählich und verschwand im metallisch glänzenden Kluster, der frei im Weltraum schwebte.
Mirasol starrte die Weltraumstadt mit einer unbehaglichen Mischung aus Neid, Furcht und Verehrung an. Sie war noch nie so nahe am Kluster oder der lebenswichtigen Leiter gewesen, die ihn mit der Marsoberfläche verband. Wie die meisten Angehörigen der jüngeren Generation ihrer Partei war sie noch nie im Weltraum gewesen. Die Regals hatten dafür gesorgt, daß ihre Partei im Erlösungslager in Syrtis unter Quarantäne blieb.
Das Leben hatten es auf dem Mars nicht leicht gehabt. Einhundert Jahre lang hatten die Regals vom Terraform-Kluster aus die Marsoberfläche mit riesigen Eisbrocken bombardiert. Diese Planetenanpassung war das ehrgeizigste, überheblichste und erfolgreichste aller Werke des Menschen im Weltraum gewesen.
Der Aufprall dieser gewaltigen Brocken hatte ungeheure Krater in die Kruste des Planeten gerissen und riesige Mengen Staub in die hauchdünne Marsatmosphäre gewirbelt. Als die Temperatur stieg, brandeten bislang vergrabene Ozeane aus dem marsianischen Permafrost herauf und hinterließen Netze von gewundenen Ödlandstreifen und weite Flächen von feuchtem Schlamm, glatt und steril wie ein Fernseher. Auf diesen großen freien Flächen und an den überfrorenen Wänden der Kanäle, Klippen und Krater hatten sich implantierte Flechten festgeklammert und ihr gefräßiges Leben begonnen. In den Ebenen von Eridanie, in den gewundenen, riesigen Canyons des Coprates Basin und in den feuchten, eisigen Regionen der abschmelzenden Pole überwucherten nun finstere Wälder das ganze Land – eine Katastrophe für alles Anorganische.
Während das Terraform-Projekt Gestalt angenommen hatte, hatte auch der Terraform-Kluster an Macht gewonnen.
Als neutrale Instanz zwischen den kriegführenden Parteien der Menschheit war der T-K von entscheidender Bedeutung für die Finanziers und Banker jeder Sekte. Selbst die fremden Investierer, diese ungeheuer reichen, zwischen den Sternen reisenden Reptilien, fanden den T-K nützlich und förderten ihn.
Und während die Bürger von T-K, die Regals, ihre Macht vergrößerten, gingen kleinere Parteien unter und gerieten unter ihren Einfluß. Der Mars war mit bankrotten Parteien übersät, die von Finanziers in die Zange genommen und von den T-K-Plutokraten auf die Marsoberfläche deportiert worden waren.
Nachdem sie im Weltraum versagt hatten, nahmen die Flüchtlinge die Barmherzigkeit der Regals an und kümmerten sich als Ökologen um die Versunkenen Gärten. Dutzende von Parteien standen, streng voneinander isoliert, in erbärmlichen Erlösungscamps unter Quarantäne und führten ein elendes Leben.
Und die vorausschauenden Regals wußten ihre Macht gut zu nutzen. Die Parteien wurden mit der esoterisch-bioästhetischen, posthumanistischen Philosophie eingewickelt und von den Rundfunksendungen der Regals unablässig bearbeitet, bis sie deren Lehren und Kultur verinnerlicht hatten. Mit der Zeit zerbrach selbst die störrischste Partei und wurde in den kulturellen Blutkreislauf von T-K aufgenommen, und dann erlaubte man es den Parteimitgliedern, ihre Erlösungscamps zu verlassen und über die Leiter hinaufzusteigen. Aber zuerst mußten sie sich bewähren. Die Modellisten hatten seit Jahren auf ihre Chance gewartet, und durch den bevorstehenden Wettkampf im Ibis Crater war sie endlich gekommen. Es war ein ökologischer Wettstreit zwischen den Parteien, der dem Sieger den Regal-Status einbringen würde. Sechs Parteien hatten ihre Besten zum alten Ibis Crater geschickt, jeder bewaffnet mit den besten Biotechnologien seiner Gruppe. Es war ein Krieg der Versunkenen Gärten, und die Leiter war der Preis.
Mirasols Raupe folgte einem Hohlweg durch ein chaotisches Gelände voller überfrorener Felstrümmer, das von Karsten und Bergsenken durchzogen war. Nach zwei Stunden endete die Spalte plötzlich. Vor Mirasol erhob sich eine Gebirgskette aus massiven glatten Flächen und Blöcken, einige mit einem glasigen Schimmer, der durch die Hitze der Einschläge entstanden war, andere von Flechten überwuchert.
Als die Raupe die Böschung hinaufkroch, kam die Sonne heraus, und Mirasol sah den Außenrand des Kraters; eine grünweiße Zickzacklinie, Flechten und glänzender Schnee.
Die Sauerstoffanzeigen stiegen gleichmäßig weiter. Feuchte, warme Luft wallte über den Kraterrand und ließ einen Eisschauer herabregnen. Ein Asteroid aus den Saturnringen, eine halbe Million Tonnen schwer, war hier mit fünfzehn Kilometern pro Sekunde aufgeschlagen. Und zwei Jahrhunderte lang hatten der Regen, die vorkriechenden Gletscher und die Flechten den Kraterrand angenagt, bis die rauhen Wundränder zusammengefallen und vernarbt waren.
Die Raupe quälte sich in einem welligen, leeren Gletscherbett bergauf. Ein kalter Bergwind fegte den Kanal herunter, in dem sich blühende Flechtenkolonien an freiliegende Eisadern klammerten.
Einige Felsbrocken trugen Sedimentschichten der alten Mars-Meere. Der Aufprall hatte sie aus dem Berg geschlagen und auf den Rücken geworfen.
Es war Winter, die richtige Jahreszeit, um die Versunkenen Gärten zu pflegen. Der trügerische Schutt am Kraterrand war durch den gefrorenen Schlamm zementiert. Die Raupe erreichte den Fuß des Gletschers und kämpfte sich über die Eisfläche hinauf. Auf dem unebenen Hang hatten sich Hunderte abwechselnd roter und weißer Schichten abgelagert; winterlicher Schnee und der Staub, der von den Sommerstürmen aufgewirbelt wurde. Mit den Jahren hatten sich die Schichten verworfen und durch die Strömung des Gletschers gewellt.
Mirasol erreichte den Gipfel. Die Raupe kroch wie eine Spinne über den schneebedeckten Rand des Kraters. Drunten, in der schüsselförmigen, acht Kilometer tiefen Senke, lag ein brodelnder Ozean aus Luft.
Mirasol starrte hinunter. In diesem gigantischen, zwanzig Kilometer durchmessenden Luftsumpf tanzte ein durchbrochener Kreis majestätischer Regenwolken in dunklen Gewändern wie Prinzessinnen bei einer Quadrille, und das linsenförmige Luftmeer war ihr Tanzboden.
Dichte Wälder aus grüngelben Mangroven umringten einen flachen See und schickten sich an, auch die verstreuten Inseln im Zentrum zu erobern. Strahlend rote Ibisse saßen als farbige Tupfer in den Bäumen. Plötzlich flog ein ganzer Schwarm von ihnen auf. Millionen von Tieren schwangen sich in die Luft und verteilten sich im Krater. Mirasol fand dieses einfallslose und riskante ökologische Konzept abstoßend, diese schiere, primitive Vitalität.
Sie war gekommen, um es zu zerstören, und der Gedanke erfüllte sie mit Trauer.
Dann erinnerte sie sich an die langen Jahre, in denen sie ihren Regal-Lehrern geschmeichelt und ihnen geholfen hatte, ihre eigene Kultur zu vernichten. Als die Chance der Leiter kam, hatte man sie ausgewählt. Sie schob die Trauer fort und erinnerte sich an ihren Ehrgeiz und ihre Rivalen.
Die Geschichte der Menschheit im Weltraum war ein langer Heldengang von Ehrgeiz und Feindschaft. Von Anfang an hatten die Raumkolonien um Selbständigkeit gekämpft und bald ihre Bande zur erschöpften Erde gekappt. Die autarken lebenserhaltenden Systeme hatten eine Mentalität von Stadtstaaten erzeugt. Eigenartige Ideologien waren in dieser isolierten Treibhausatmosphäre aufgeblüht, und häufig brachen Untergruppen aus.
Der Weltraum war zu groß für die Polizei. Pionier-Eliten drängten weiter hinaus und trotzten jedem, der etwa die Entwicklung ihrer perversen Technologien durch Gesetze oder restriktive Maßnahmen aufhalten wollte. Ganz plötzlich war der Fortschritt der Wissenschaft zu einem verrückten, hastigen Taumeln geworden. Die erschütternden Erkenntnisse neuer Wissenschaften und Techniken hatten ganze Gesellschaften vernichtet.
Die zerschmetterten Kulturen gerannen zu Parteien, die voneinander so nachhaltig entfremdet waren, daß sie nur noch als Menschheit bezeichnet wurden, weil ein besserer Begriff fehlte. Die Former zum Beispiel hatten die Kontrolle über ihre eigenen Gene gewonnen und sich in einem künstlichen Evolutionsschub völlig von der Menschheit getrennt. Ihre Rivalen, die Mechanisierer, hatten das Fleisch durch hochentwickelte Prothesen ersetzt.
Mirasols Gruppe, die Modellisten, war ein selbständiger Zweig der Former-Partei.
Die Modellisten waren auf zerebrale Asymmetrie spezialisiert. Mit extrem erweiterten rechten Hirnhälften waren sie äußerst intuitiv, dachten in Metaphern und Bildern und machten plötzliche Erkenntnissprünge. Ihr Erfindergeist und ihre schnellen, nicht voraussehbaren Reaktionen hatten ihnen zunächst einen Vorsprung im Wettkampf verschafft. Doch diese Vorteile wurden von großen Schwächen begleitet: Autismus, Fugue und Paranoia. Modellierte Gehirne gerieten leicht außer Kontrolle und verfingen sich in grotesken Phantasien.
An diesen Schwierigkeiten war die Kolonie zugrunde gegangen. Die Industrie der Modellisten ging unter und wurde von ihren wirtschaftlichen Konkurrenten überrannt. Der Wettbewerb war viel schärfer geworden. Die Former- und Mechanisiererkartelle hatten geschäftliche Aktivitäten in eine Art endemische Kriegsführung verwandelt. Der Wurf der Modellisten war ins Leere gegangen, und es kam der Tag, an dem ihnen die Regal-Plutokraten ihren Wohnkluster unter dem Hintern wegkauften. In gewisser Weise war das sogar ein Akt der Barmherzigkeit, denn die Regals waren höflich und stolz auf ihre Fähigkeit, Flüchtlinge und Versager zu assimilieren.
Die Regals hatten selbst als Dissidenten und Deserteure begonnen. Ihre posthumanistische Philosophie hatte ihnen die moralische Macht und die unerschütterliche Selbstsicherheit verliehen, alle Parteien aus den Randbereichen der Menschheit zu dominieren und zu absorbieren. Und sie genossen die Unterstützung der Investierer, die über ungeheuren Reichtum und die geheimen Techniken des Sternenantriebs verfügten.
Das Radar der Raupe machte Mirasol auf das Landfahrzeug eines Konkurrenten aufmerksam. Sie beugte sich in ihrem Pilotensitz vor und holte das Bild des Fahrzeuges auf den Schirm. Es war eine plumpe Kugel, die unsicher auf vier langen, spindeldürren Beinen balancierte. Sie hob sich als Silhouette vor dem Horizont ab und wackelte rasch auf dem gegenüberliegenden Kraterrand entlang, um schließlich hinter der Kuppe zu verschwinden.
Mirasol fragte sich, ob sie betrügen wollten. Sie war selbst in Versuchung, ihre Chancen mit einem kleinen Trick zu verbessern – sie könnte ein paar tiefgefrorene Pakete aerobischer Bakterien oder ein paar Dutzend Insekteneier den Hang hinunterwerfen. Aber sie fürchtete die Überwachungsanlage der T-K-Richter. Es stand zuviel auf dem Spiel: nicht nur ihre eigene Karriere, sondern das Schicksal ihrer ganzen Partei, die bankrott und verzweifelt im kalten Erlösungslager hockte. Angeblich wollte der Herrscher von T-K, das posthumane Wesen mit Namen Lobster-King, höchstpersönlich den Wettbewerb überwachen. Unter seinen schwarzen, unparteiischen Augen zu betrügen, wäre schrecklich.
Auf dem Außenhang des Kraters und etwas unter ihr tauchte ein zweiter Konkurrent auf, der sich holpernd und mit irrwitziger, aggressiver Anmut näherte. Der lange, schmale Körper des Fahrzeuges ringelte sich seitwärts wie eine Klapperschlange und reckte einen wuchtigen, glänzenden Kopf hoch, der an eine facettierte Spiegelkugel erinnerte.
Die beiden Rivalen näherten sich dem Startpunkt, wo die sechs Bewerber vom Regal-Wettkampfleiter ihre letzten Instruktionen erhalten würden. Mirasol eilte weiter.
Als das Camp auf ihrem Bildschirm auftauchte, war Mirasol schockiert. Der riesige Platz war absurd geschmückt: ein Drogentraum aus schillernden Kuppeln und bunten Minaretten, die sich in der flechtenüberzogenen Wüste erhoben wie bizarre Kerzenleuchter. Das Camp paßte zu den Regals.
Hier würden die Schiedsrichter und Fachleute der Biokünste leben und den Krater beurteilen, in dem die neu eingebrachten Ökosysteme miteinander um die Vorherrschaft kämpften.
Die Luftschleusen des Camps waren von glänzenden grünen Flechtendickichten umgeben, die von entwichener Feuchtigkeit lebten. Mirasol lenkte ihre Raupe durch die gähnende Luftschleuse in die Garage. Im Innern der Garage säuberten und polierten Robot-Mechaniker das aufgerollte, hundert Meter lange Schlangenfahrzeug und den schwarzen Bauch eines achtbeinigen Geländewagens. Der schwarze Geländewagen hatte den auf einem Periskop sitzenden Kopf eingezogen, als wollte er gleich losspringen. Der dicke Bauch war mit einem roten Stundenglas und den Firmenabzeichen seiner Partei gekennzeichnet.
Die Gerüche von Staub und Schmieröl, vermischt mit Blumendüften, erfüllten die Garage. Mirasol überließ die Mechaniker sich selbst und ging steif einen langen Flur hinunter. Sie streckte ihren Rücken und ihre Schultern, um die verspannten Muskeln zu lockern. Eine Gewittertür zersprang vor ihr in Fasern und setzte sich hinter ihr selbsttätig wieder zusammen.
Sie stand in einem Speisesaal, in dem die schrille, eintönige Musik der Regals klimperte und klapperte. In die Wände waren hohe Bildschirme eingelassen, die verblüffend schöne Gartenansichten zeigten. Ein aufgedunsener Servo, der mit seiner organometallischen Hülle und dem feisten, lächelnden Kopf beinahe krank aussah, führte sie zu ihrem Stuhl.
Mirasol setzte sich und beulte das schwere weiße Tischtuch mit den Knien ein. Am Tisch standen sieben Stühle. Der hohe Stuhl der Regal-Kampfrichterin stand am Kopfende. Die Position, die man Mirasol zugewiesen hatte, gab ihr sofort zu verstehen, welchen Status man ihr zumaß. Sie saß am fernen Ende des Tisches zur Linken der Kampfrichterin.
Zwei ihrer Rivalen hatten ihre Plätze schon eingenommen. Einer war ein großer, rothaariger Former mit langen, dünnen Armen. Seine scharfen Gesichtszüge und die hellen, ängstlichen Augen gaben ihm das Aussehen eines neugierigen Vogels. Der zweite war ein langweiliger, grobschlächtiger Mechanisierer mit Prothesenhänden und einer paramilitärischen Tunika, die an den Schultern mit einem roten Stundenglas gekennzeichnet war.
Mirasol musterte ihre beiden Rivalen schweigend mit schrägen Blicken. Wie sie selbst waren die beiden noch jung. Die Regals hatten viel für junge Menschen übrig, und sie ermunterten die von ihnen gefangengenommenen Parteien, ihre Bevölkerungszahl schnell zu vergrößern.
Diese kluge Strategie ließ die alten Hüter jeder Partei in einer Woge von Nachkommen untergehen, die von Geburt an von den Regals indoktriniert worden waren.
Der vogelähnliche Mann, der sich auf seinem Platz direkt rechts neben der Kampfrichterin offenbar nicht wohl fühlte, sah aus, als wollte er sprechen, wagte es aber nicht. Der Piraten-Mech starrte seine künstliche Hand an. Er hatte sich kleine Kopfhörer in die Ohren gesteckt.
Vor jedem Platz stand eine Druckflasche mit Schnaps. Die Regals, die in der Schwerelosigkeit des Weltraums lebten, benutzten diese Flaschen aus Gewohnheit, und wenn eine davon hier auf dem Tisch stand, dann war sie zugleich ein Gunstbeweis und eine Demütigung.
Die Tür öffnete sich wieder flatternd, und zwei weitere Rivalen platzten herein, als wären sie um die Wette gerannt. Der erste war ein taumelnder Mech, der immer noch nicht an die Schwerelosigkeit gewöhnt war. Seine weichen Knochen wurden von einem äußeren Korsett gestützt. Die zweite war eine stark mutierte Formerin, deren gekrümmte Beine in Greifhänden endeten. Die Ruderhände waren mit schweren Ringen geschmückt, die aneinanderstießen und klimperten, während die Frau über den Parkettboden lief.
Die Frau mit den seltsamen Beinen nahm dem Vogelmann gegenüber Platz. Sie begannen sich zögernd in einer Sprache zu unterhalten, welcher keiner der anderen Anwesenden folgen konnte. Der Mann im Stützkorsett, der hörbar keuchte, hing, offenbar unter Schmerzen, Mirasol gegenüber auf seinem Stuhl. Seine Plastikaugen funkelten wie Glasmurmeln. Seine Schwierigkeiten mit der Schwerkraft bewiesen, daß er zum ersten Mal auf dem Mars war, und sein Platz bei Tisch bedeutete, daß seine Partei Macht besaß. Mirasol verachtete ihn.
Mirasol fühlte sich gefangen wie in einem Alptraum. Alles an ihren Konkurrenten schien zu beweisen, daß sie krank und unfähig zum Überleben waren. Sie hatten gehetzte, gierige Blicke wie verhungernde Menschen in einem Rettungsboot, die mit heimlicher Vorfreude darauf warten, daß der erste stirbt.
Sie bemerkte ihr Spiegelbild in der Wölbung eines Löffels und erkannte mit einer blitzartigen Einsicht, wie sie den anderen erscheinen mußte. Ihre intuitive rechte Hirnhälfte war über alle Maßen angeschwollen und hatte ihren Schädel verformt. Ihr Gesicht zeigte die glatte Schönheit ihres genetischen Erbes, doch ihr Gesichtsausdruck war leer. Ihre Figur war unter der bestickten Pilotenweste und der schmucklosen, unauffälligen Bluse und den Hosen nicht zu erkennen. Ihre Fingerspitzen waren vom Kauen wund. Sie hatte die gleiche Ausstrahlung wie die hinfälligen, niedergedrückten älteren Angehörigen ihrer Partei, die sich der Weite des Alls gestellt und versagt hatten, und sie haßte sich dafür.
Sie warteten auf den sechsten Konkurrenten. Plötzlich erreichte die klimpernde Musik einen Höhepunkt, und die Regal-Kampfrichterin trat ein. Ihr Name war Arkadya Sorienti AGmbH. Sie gehörte der herrschenden Oligarchie von T-K an und schwankte mit den vorsichtigen Schritten einer Frau, die nicht an die Schwerkraft gewöhnt ist, durch die aufplatzende Tür.
Sie trug die Kleidung eines hochrangigen Investierer-Diplomaten. Die Regals waren stolz auf ihre diplomatischen Verbindungen mit den fremden Investierern, da deren Schutz ihnen gewaltigen Wohlstand schenkte. Die kniehohen Stiefel der Frau hatten aufgesetzte, vogelähnliche Krallen und waren geschuppt wie Investiererhaut. Sie trug ein schweres Kleid aus juwelenbesetzten Goldbändern und ein steifes, langes Jackett mit bestickten Manschetten. Ihr blondes Haar war im Stil einer Computerverdrahtung geflochten. Die Haut ihrer nackten Beine glänzte gläsern, als wäre sie frisch emailliert worden. Ihre Augenlider funkelten in weichen, reptilischen Pastelltönen.
Die Robodiener halfen der Ehrenwerten Aktiengesellschaft auf den Stuhl. Die Sorienti beugte sich strahlend vor und faltete ihre zierlichen kleinen Hände, die so mit Ringen und Reifen überladen waren, daß sie funkelnden Panzerhandschuhen ähnelten.
»Ich hoffe, ihr fünf habt die Gelegenheit genutzt, euch informell etwas kennenzulernen«, sagte sie zuckersüß, als wäre so etwas die leichteste Sache der Welt. »Es tut mir leid, daß ich aufgehalten wurde. Unser sechster Teilnehmer wird nicht mehr kommen.«
Es gab keine Erklärung. Die Regals sprachen nie über Maßnahmen, die als Bestrafung verstanden werden konnten. Die Blicke der Bewerber, die zwischen Berechnung und Schreck schwankten, zeigten, daß sie sich das Allerschlimmste ausmalten.
Die beiden gedrungenen Servos kreisten um den Tisch und teilten von Tabletts, die sie auf ihren Patschhänden balancierten, das Essen aus. Die Wettkämpfer pickten unbehaglich auf ihren Tellern herum.
Der Bildschirm hinter der Kampfrichterin flackerte und gerann zu einem schematischen Diagramm des Ibis Crater. »Bitte beachten Sie die neugezogenen Grenzlinien«, sagte die Sorienti AGmbH. »Ich hoffe sehr, daß Sie sich nicht gegenseitig ins Gehege kommen – nicht nur rein physisch, sondern auch biologisch.« Sie blickte sie ernst an. »Einige von Ihnen planen vielleicht, Herbizide einzusetzen. Das ist gestattet, aber die Ausbreitung der Sprühmittel über die Grenzen Ihres jeweiligen Sektors hinaus gilt als schwerer Verstoß. Bakteriologischer Aufbau ist eine sehr subtile Kunst. Die Verbreitung genmodulierter Krankheitskeime ist ein ästhetischer Stilbruch. Bitte bedenken Sie, daß Ihre Handlungen hier in etwas eingreifen, das im Normalfall völlig natürlich ablaufen würde. Deshalb darf die Phase der biologischen Impfung nur zwölf Stunden dauern. Danach soll das veränderte System Zeit bekommen, sich ohne weiters Eingreifen von außen selbst zu stabilisieren. Übertreiben Sie Ihre Rolle nicht und beschränken Sie sich darauf, wie Katalysatoren eine Initialzündung zu geben.«
Die Ansprache der Sorienti AGmbH war formell und zeremoniell. Mirasol studierte den Bildschirm und bemerkte befriedigt, daß ihr Territorium vergrößert worden war.
Von oben gesehen war der scheinbar runde und glatte Krater stark vernarbt.
In Mirasols Sektor, es war der südliche, erstreckten sich die Reste eines großen Erdrutsches wie eine lange Narbe; die Kraterwand war eingebrochen und in die Senke geströmt. Das einfache Ökosystem hatte sich rasch erholt, und Mangroven gediehen prächtig auf den flachen Schutthängen. Die oberen Bereiche der Hänge wurden von Flechten und Gletschern angenagt.
Der sechste Sektor war völlig verschwunden, und Mirasol hatte beinahe zwanzig Quadratkilometer neues Land dazubekommen.
Dadurch hatte das Ökosystem ihrer Partei mehr Platz, Wurzeln zu schlagen, bevor der tödliche Kampf richtig begann.
Es war nicht der erste Wettkampf dieser Art. Die Regals hielten solche Wettbewerbe schon seit Jahrzehnten als objektive Tests für die Fähigkeiten rivalisierender Parteien ab. Die Wettkämpfe unterstützten die ›Teile und herrsche‹-Politik der Regals, denn sie brachten die Parteien gegeneinander auf.
Und in den kommenden Jahrhunderten, während das Leben auf dem Mars immer leichter wurde, sollten die Gärten aus den Kratern wuchern und sich auf der ganzen Oberfläche ausbreiten. Der Mars sollte ein Dschungel völlig unterschiedlicher Schöpfungen werden, die miteinander im Krieg lagen. Für die Regals waren die Wettkämpfe sehr exakte Simulationen der denkbaren zukünftigen Entwicklungen.
Und die Wettkämpfe gaben den Parteien Motive für ihre Arbeit. Angestachelt von den Gartenkriegen hatten die Ökologen gewaltige Fortschritte gemacht. Aber da Wissenschaft und Stilempfinden sich weiterentwickelt hatten, waren viele der älteren Krater inzwischen ökoästhetische Peinlichkeiten.
Der Ibis Crater war ein frühes, sehr ungeschicktes Experiment. Die Partei, die ihn erschaffen hatte, gab es schon lange nicht mehr, und seine primitiven Geschöpfe wurden aus heutiger Sicht als geschmacklos betrachtet.
Jede Partei kampierte am Rande eines eigenen Kraters und versuchte, ihn zum Leben zu bringen. Aber die Wettkämpfe waren eine Abkürzung zur Leiter. Die fleischgewordenen Philosophien der Wettkämpfer trugen einen Stellvertreterkrieg um die Vorherrschaft aus. Die sinusförmigen Kurven des Wachstums, das Zunehmen und Abnehmen von Expansionen und Aussterben, rollte über die Monitore der Regal-Kampfrichter wie die Aktienkurse an der Börse.
Der komplizierte Kampf wurde nach verschiedenen Fachgebieten bewertet: Technologie, Philosophie, Biologie und Ästhetik. Die Sieger durften ihre Camps verlassen und am Reichtum und der Macht der Regals teilhaben. Sie durften durch die juwelengeschmückten Gänge des T-K streifen und seine Vorzüge genießen: ein verlängertes Leben, Firmenaktien, kosmopolitische Toleranz und die interstellare Förderung durch die Investierer.
Als die Morgendämmerung einen roten Schimmer über die Landschaft legte, warteten die fünf Wettkämpfer, rund um den Ibis Crater verteilt, schon auf ihr Signal. Es war ein ruhiger Tag, nur einige ferne Jetströme verunstalteten den Himmel. Mirasol beobachtete das rosafarbene Sonnenlicht, das allmählich die westliche Innenwand des Kraters hinunterkroch. Die Vögel in den Mangrovendickichten begannen sich zu regen.
Mirasol wartete gespannt. Sie hatte sich eine Stelle über dem Schutt des Erdrutsches gesucht. Ihr Radar zeigte, daß ihre Rivalen sich auf dem Hang bewegten: links von ihr waren die Stundenglas-Raupe und die Schlange mit dem glänzenden Kopf; rechts erkannte sie ein Kettenfahrzeug, das an eine Gottesanbeterin erinnerte, und die Kugel auf Stelzen.
Das Signal kam unvermittelt wie ein Blitz: ein Eismeteor löste sich aus dem Orbit und prallte mit einer gewaltigen Schockwelle aus kaltem Dampf auf. Mirasol rannte los.
Die Strategie der Modellierer bestand darin, sich auf die oberen Hänge und auf den Erdrutsch zu konzentrieren und eine ökologische Nische auszugestalten, mit der sie sich auszeichnen konnten. In ihrem kalten Krater in Syrtis Major hatten sie einige Erfahrungen mit alpinen Arten gewonnen, und diesen Vorteil wollten sie hier nutzen. Der langgestreckte Hang des Erdrutsches, der hoch über dem Wasserspiegel lag, sollte ihre Basis bilden. Die Raupe holperte bergab und versprühte Bakterien, die die Flechten vernichten würden.
Plötzlich war die Luft voller Vögel. Auf der gegenüberliegenden Seite des Kraters war die Stelzenkugel zum Wasserspiegel hinuntergerast und legte Mangroven um. Die feinen Rauchwolken verrieten, daß ein schwerer Schneidlaser eingesetzt wurde.
Woge auf Woge starteten die Vögel von ihren Nestern und irrten verängstigt durch die Luft. Zuerst waren ihre gehetzten Schreie nur als leises Raunen zu hören. Dann, als die Angst sich ausbreitete, hallte das Gekreisch zwischen den Kraterwänden hin und her und baute sich zu einem panischen Tumult auf. In der morgendlich feuchten Luft des Kraters tanzten Millionen scharlachroter Punkte, wirbelten umeinander und verdichteten sich wie Blutstropfen im freien Fall.
Mirasol verstreute die Samen ihrer Gebirgspflanzen. Die Raupe kroch langsam die Böschung hinunter und sprühte Dünger in Spalten und Nischen. Mirasol hob Felsbrocken hoch und setzte eine wuselnde Armee von wirbellosen Tieren aus: Nematoden, Milben, Asseln und genmodulierte Tausendfüßler. Sie sprühte die Felsen mit Gelatine ein, damit die Tiere Nahrung fanden, bis die Moose und Farne sich festgesetzt hatten.
Die Schreie der Vögel waren entsetzlich. Hangabwärts platschten die anderen Parteien auf Höhe des Wasserspiegels wie verrückt im Schlamm und legten Mangroven um, damit ihre eigenen Geschöpfe einen Platz fanden. Die große Schlange wand sich durch den Wald, verknotete sich und riß ganze Mangrovengehölze mit den Wurzeln aus. Mirasol sah, wie das Dach des Facettenkopfes aufsprang und eine Wolke von Fledermäusen freigab.
Das Gottesanbeterinnen-Fahrzeug marschierte methodisch an den Grenzen seines Sektors entlang und zerlegte alles, was ihm in den Weg kam, zu Kleinholz. Die Stundenglas-Raupe war durch ihr Territorium gepoltert und hatte ein Gitternetz schlammiger Wege und Quadrate brennender Pflanzen hinterlassen. Hinter ihr stieg eine Rauchwolke auf. Es war ein gewagtes Unternehmen. Sie sterilisierte den Sektor mit Feuer, um ihren eigenen Geschöpfen einen Feldvorteil zu verschaffen. Selbst ein kleiner Vorteil konnte entscheidend sein, wenn sich die Organismen exponentiell vermehrten. Aber der Ibis Crater war ein geschlossenes System. Der Einsatz von Feuer erforderte große Umsicht. Im Krater gab es nicht unendlich viel Luft.
Mirasol arbeitete verbissen. Als nächstes waren die Insekten an der Reihe. Sie wurden oft zugunsten von großen Meeresgeschöpfen oder wunderschönen Raubtieren vernachlässigt, doch wenn man die Biomasse Gramm um Gramm aufwog, waren Insekten nicht zu schlagen. Sie warf einen Karton bergab zum Ufer hinunter, wo er schmolz und Wassertermiten freigab. Sie schob flache Felsplatten beiseite und pflanzte Eibehälter unter die von der Sonne gewärmten Flächen. Sie gab eine Wolke blattfressender Mücken frei, deren winzige Körper von Bakterien übersät waren. Im Bauch der Raupe wurden die tiefgefrorenen Packungen eine nach der anderen aus dem Regal genommen, aufgetaut und durch Mündungen ausgespuckt, mit Legeröhren gepflanzt oder in die von den spitzen Füßen aufgerissenen Löcher versenkt.
Jede Partei erschuf eine potentielle Welt. In der Nähe des Ufers hatte die Gottesanbeterin zwei Tiere ausgesetzt, die an riesige schwarze Segelflugzeuge erinnerten. Sie fuhren mit weit aufgesperrten Mäulern durch die Ibisschwärme. Auf den Felsen vor den Inseln im Zentrum des Kratersees tummelten sich schuppige Walrösser und stießen Dampf aus. Die Stelzenkugel legte auf den Trümmern der Mangroven einen Orchideengarten an. Die Schlange war im Wasser verschwunden, ihr Facettenkopf erzeugte V-förmige Wellen.
Im Stundenglas-Sektor stieg immer noch Rauch auf. Das Feuer breitete sich aus, und die Spinne rannte hastig durch die schachbrettartigen Straßen. Mirasol beobachtete, in welche Richtung der Rauch zog, während sie eine Herde Murmeltiere und Erdhörnchen freigab.
Sie hatten einen Fehler gemacht. Da der Rauch in der schwachen marsianischen Schwerkraft rasch nach oben stieg, entstand an den Hängen ein scharfer Fallwind, der das Vakuum wieder füllte. Die Mangroven brannten lichterloh. Ganze Geflechte brennender Äste flogen hoch in die Luft hinauf.
Die Spinne drang in die Flammen vor und versuchte sie zu ersticken und niederzutrampeln. Mirasol lachte und stellte sich vor, wie diese Flammen in den Datenbanken der Kampfrichter gesammelt wurden. Ihre Geröllhänge waren feuersicher. Hier konnte nichts brennen.
Der Ibisschwarm zog in einem großen Kreis am Ufer entlang. In den gelichteten Reihen rasten die dunklen Gestalten der Luftraubtiere herum. Die lange Dampffahne des Meteors war verweht und abgerissen. Ein stinkender Wind kam auf.
Im Sektor der Schlange brannte es jetzt auch. Die Schlange schwamm, umgeben von gelbgrünen Algenteppichen, im schlammigen Wasser des Sees. Bevor der Pilot es bemerkte, fraß sich das Feuer schon in einen großen Abfallhaufen vor, der am Ufer liegengeblieben war. Es gab keinen natürlichen Schutz, die Luft fegte den entblößten Hang hinunter. Die Rauchsäule spuckte und wand sich, und in den schwarzen Wolken tanzten Funken.
Ein Ibisschwarm stürzte sich in die Wolke. Nur eine Handvoll kam wieder heraus; einige von ihnen brannten. Mirasol wußte jetzt, was Angst war. Während der Rauch zum Kraterrand aufstieg, kühlte er ab und begann draußen wieder herunterzufallen. Ein vertikaler Wind war entstanden, ein Kreislauf von heißem Rauch und kaltem Wind.
Ihre Raupe verstreute die Samen einer Grassorte, die den Zwerg-Bergziegen als Nahrung dienen sollte. Direkt vor ihr fiel ein Ibis aus dem Himmel, in dessen Nacken ein dunkler, sich windender Umriß saß, nur Klauen und Zähne. Sie eilte hinüber und tötete das Raubtier; dann blieb sie stehen und blickte verzweifelt über den Krater.
Die Brände breiteten sich mit unnatürlicher Geschwindigkeit aus. An einem Dutzend Stellen stiegen kleine Qualmwolken auf und entzündeten mit gespenstischer Präzision große Holzhaufen. Ihr moduliertes Gehirn suchte nach einem Muster. Die Feuer, die im Gottesanbeterinnen-Sektor ausbrachen, konnten nicht durch herabfallende Trümmer entstanden sein.
In der Spinnenzone hatten die Flammen mühelos die Feuerbarriere übersprungen. Das Muster fühlte sich falsch an, schrecklich falsch, als hätte die Zerstörung einen ganz eigenen Impuls, eine wütende Synergie, die ihre Kraft aus sich selbst bezog.
Die Katastrophe entwickelte sich immer schneller. Mirasol befürchtete die Kontrolle zu verlieren – die schweißnasse Angst eines Menschen aus dem Weltraum, wenn er das Zischen entweichender Luft hört, oder das Gefühl eines Selbstmörders, wenn der erste helle Blutschwall hervorbricht.
Eine Stunde später war der Garten unter ihr nur noch ein heißer Schutthaufen. Die dichten Rauchsäulen hatten sich im oberen Bereich der Troposphäre über dem Garten zu Gewitterwolken verdichtet. Dann senkte sich die herabregnende Asche wie grauer Nebel in den Krater. Kreischende Vögel kreisten unter den unheildrohenden Wolken, stürzten zu Dutzenden und Hunderten ab. Ihre Körper tanzten auf den Wellen des Sees, ihr helles Gefieder war von stahlgrauer Asche verschmiert.
Das Landfahrzeug der anderen Partei kämpfte immer noch gegen die Flammen und polterte unbeschadet durch das vom Feuer versengte Grenzland. Ihre Bemühungen waren sinnlos, ein armseliges Ritual angesichts dieser Katastrophe.
Selbst die bösartige Reinheit des Feuers war müde und verschmutzt. Der Sauerstoffgehalt sank. Die Flammen brannten schwächer und breiteten sich langsamer aus, der Kohlenmonoxidgehalt stieg.
Wo sich das Gas ausbreitete, konnte nichts überleben. Selbst die Flammen erstickten, als sich der Kohlenmonoxiddunst über die zerstörten, glimmenden Hänge des Kraters legte.
Mirasol beobachtete eine Gruppe gestreifter Gazellen, die den Hang hinaufkletterten, um Luft zu bekommen. Ihre dunklen Augen, frisch aus dem Labor, verdrehten sich in zeitloser animalischer Furcht. Ihre Felle waren versengt, ihre Lungen pumpten schwer, vor ihren Mäulern stand Schaum. Eins nach dem anderen brachen die Tiere zuckend zusammen, taumelten gegen die Felsen, glitten aus und stürzten. Es war ein gräßlicher Anblick, das Bild eines verbrannten Frühlings.
Ein trübroter Blitz, etwas unter ihr auf der linken Seite, erregte ihre Aufmerksamkeit. Ein großes rotes Tier huschte durch die Felsen. Sie wendete ihr Geländefahrzeug und fuhr darauf zu. Sie zuckte zusammen, als eine dunkle Wolke giftigen Qualms ihre Sichtscheibe verdunkelte.
Sie sah das Tier wieder, als es aus der Deckung brach. Es war versengt, es keuchte. Es sah aus wie ein großer roter Affe. Sie stieß vor und packte es mit den Greifarmen der Raupe. In der Luft festgehalten, ruderte es mit den Armen und trat und hämmerte mit einem glühenden Ast vor die Greifarme des Fahrzeugs. Voller Abscheu und Bedauern zermalmte sie es. Die Hülle aus vernähten Ibisfedern zerriß und enthüllte blutleeres menschliches Fleisch.
Mit dem zweiten Greifarm des Geländefahrzeugs zog sie ihm den schweren Federschmuck vom Kopf. Die engsitzende Maske löste sich, und der Kopf des toten Mannes sank nach vorn. Sie hob ihn und sah in ein mit Sternen tätowiertes Gesicht.
Der Ornithopter kreiste über dem ausgebrannten Garten, die langen roten Schwingen bewegten sich mit traumhaft fließenden Bewegungen. Mirasol beobachtete das bemalte Gesicht der Ehrenwerten Sorienti AGmbH, während diese auf den glänzenden Videoschirm starrte.
Die mächtigen Kameras des Ornithopters projizierten Bild um Bild auf den Tischbildschirm. Neben dem Bildschirm lagen die eleganten Mätzchen der Sorienti: ein Inhalationsgerät, eine halbleere juwelenbesetzte Druckflasche, eine Lorgnette und ein Stapel Videokassetten.
»Dafür gibt es keine Präzedenzfälle«, murmelte die Ehrenwerte Aktiengesellschaft. »Es ist nicht alles ausgestorben, nur die Lungenatmer wurden ausgelöscht. Unter den niederen Tieren muß es viele Überlebende geben: Fische, Insekten und Würmer. Der Regen hat die Asche jetzt hinuntergedrückt, und Sie können erkennen, daß die Vegetation sich das Terrain zurückerobert. Ihr eigener Abschnitt scheint fast unbeschädigt.«
»Ja«, sagte Mirasol. »Die Eingeborenen konnten ihn nicht mit ihren Fackeln erreichen, bevor der Sturm sich selbst auslöschte.«
Die Sorienti lehnte sich zwischen die quastenbesetzten Armlehnen ihrer Couch zurück. »Ich wünschte, Sie würden sie nicht in dieser Lautstärke erwähnen, nicht einmal hier unter uns.«