Zwanzig Anrufungen

 

1. Spezialisierte Systeme. In seiner Kindheit wurde Nikolai Leng von einem cybernetischen System mit einer holografischen Schnittstelle unterrichtet. Das Holobild nahm die Gestalt einer jungen Formerfrau an. Seine ›Persönlichkeit‹ war ein interaktives, hochkompliziertes System, das von Psychotechnikern der Former entwickelt worden war. Nikolai liebte es.

 

2. Nie geboren. »Meinst du etwa, wir kommen alle von der Erde?« sagte Nikolai ungläubig.

»Ja«, erwiderte das Holo freundlich. »Die ersten wirklichen Siedler im Weltraum wurden auf der Erde geboren – auf sexuelle Weise hergestellt. Natürlich sind seitdem Jahrhunderte vergangen. Du bist ein Former. Former werden nicht geboren.«

»Wer lebt jetzt auf der Erde?«

»Menschen.«

»Och«, sagte Nikolai, und sein Tonfall verriet das rapide Abnehmen seines Interesses.

 

3. Ein kaputtes Bein. Es kam der Tag, an dem Nikolai einen Mechanisierer sah. Der Mann, ein Diplomat und Handelsagent, war von seiner Partei zu Nikolais Station abgeordnet worden. Nikolai und einige Kinder aus seiner Krippe spielten im Flur, als der Diplomat vorbeistakste. Ein Bein des Mechanisierers funktionierte nicht richtig, und er humpelte klickend und surrend vorbei. Nikolais Freund Alex ahmte das Humpeln des Mannes nach. Plötzlich drehte der sich zu ihnen um, und seine Plastikaugen weiteten sich. »Nichts als Gene seid ihr«, knurrte der Mechanisierer. »Ich kann euch kaufen, euch aufziehen, euch verkaufen, euch in Stücke schneiden. Und eure Schreie sind meine Musik.«

 

4. Flaum im Gesicht. Schweiß lief in den umklöppelten Kragen von Nikolais Waffenrock. Die Luft in der aufgegebenen Station war noch atembar, aber unerträglich heiß. Nikolai half seinem Sergeant, einem der toten Minenarbeiter alle Wertgegenstände abzunehmen. Der keimfreie Körper des ermordeten Formers war dehydriert, aber gut erhalten. Sie gingen in einen anderen Sektor. Die Leiche eines Mechanisierer-Piraten lag, alle Glieder von sich gestreckt, in der schwachen Schwerkraft. Er war beim Angriff getötet worden, und sein Körper war im Laufe einiger Wochen im Anzug verwest. Eine zentimeterdicke Patina aus gräulichem Flaum hatte sein Gesicht entstellt.

 

5. Nicht gutzuheißen. Nikolai hatte im Ringrat mit zwei Männern seiner Einheit Ausgang. Sie tranken in einer Null-G-Bar, die ZUM EKLEKTISCHEN EPILEPTIKER hieß. Der erste Mann war Simon Afriel, ein charmanter, ehrgeiziger Former der alten Schule. Der zweite Mann trug ein Augenimplantat der Mechanisierer. Seine Loyalität war zweifelhaft. Die drei diskutierten über Semantik. »Die Karte ist nicht das Land«, erklärte Afriel. Plötzlich zupfte der zweite Mann ein fast unsichtbares Abhörgerät von der Tischkante. »Und die Wanze nicht mehr an der Wand«, scherzte er. Sie sahen ihn nie wieder.

… Ein Mechanisierer-Pirat mit Fehlfunktionen, der seine Gene verriet. Unsichtbare Mithörende kaufen, erziehen und verkaufen dich. Der ehrgeizige junge Former in der Station, der beim Angriff umgekommen war. Fallende Psychotechniker produzieren auf sexuelle Weise den dehydrierten Körper eines Handelsagenten. Die Loyalität der holografischen Schnittstelle war zweifelhaft. Das cybernetische System half ihm, die Wertgegenstände aus den Plastikaugen zu reißen …

 

6. Spekulatives Bedauern. Die Mechanisiererfrau musterte ihn mit einer Art von spekulativem Bedauern. »Ich habe hier eine solide Handelsposition«, erklärte sie Nikolai, »aber meine Bargeldzugänge sind im Augenblick beschränkt. Sie dagegen sind gerade mit einem kleinen Vermögen vom Rat desertiert. Ich brauche Geld, Sie brauchen Sicherheit. Ich schlage eine Heirat vor.«

Nikolai dachte darüber nach. Er war noch lange nicht in der Mechanisierergesellschaft. »Schließt das auch eine sexuelle Beziehung ein?« sagte er. Die Frau sah ihn verwundert an. »Zwischen uns beiden, meinen Sie?«

 

7. Fließmuster. »Du machst dir über irgend etwas Sorgen«, sagte seine Frau. Nikolai schüttelte den Kopf. »Doch, das tust du«, bohrte sie. »Du machst dir Sorgen, weil ich das Schmuggelgut der Piraten verkauft habe. Du bist unglücklich, weil unsere Firma von den Angriffen auf dein Volk profitiert.«

Nikolai lächelte wehmütig. »Du hast wohl recht. Ich kannte noch nie jemanden, der meine innersten Gefühle so gut verstanden hat wie du.« Er sah sie liebevoll an. »Wie machst du das?«

»Ich habe Infrarotscanner«, sagte sie. »Ich erkenne die Muster der Blutströme in deinem Gesicht.«

 

8. Optoelektrisches Fernsehen. Es war erstaunlich, wieviel Platz in einer Augenhöhle war, wenn man es richtig anpackte. Der eigentliche Sehmechanismus war von den Prothesentechnikern der Mechanisierer stark miniaturisiert worden. Nikolai hatte einige weitere Geräte installieren lassen: eine Uhr, einen Biofeedback Monitor, einen Fernsehschirm, und alles war direkt mit seinem Sehnerv verbunden. Es waren sehr schöne Dinge, doch am Anfang nicht leicht zu kontrollieren. Seine Frau hatte ihm nach der Entlassung aus dem Krankenhaus auf dem Weg helfen müssen, denn er aktivierte ständig die Geräte und sah nur noch Börsenberichte. Nikolai lächelte seine Frau mit seinen neuen Plastikaugen an. »Bleib heute nacht bei mir«, sagte er. Seine Frau zuckte die Achseln. »Na gut«, sagte sie. Sie legte die Hand auf Nikolais Wohnungstür und starb fast augenblicklich. Ein Mörder hatte Kontaktgift auf die Türklinke geschmiert.

 

9. Former-Ziele. »Hören Sie«, sagte der Mörder. Sein teigiges Gesicht wirkte müde. »Jetzt kommen Sie mir nicht mit Ideologien … Überweisen Sie das Geld und sagen Sie mir einfach, wen ich umbringen soll.«

»Es ist ein Job beim Ringrat«, sagte Nikolai. Er war von den zahlreichen Psychodrogen, mit denen er seinen Kummer bekämpft hatte, sehr erschöpft, und er mußte die letzten Wogen seiner künstlichen Fröhlichkeit niederkämpfen. »Captain-Doktor Martin Leng vom Sicherheitsdienst des Ringrates. Er stammt aus der gleichen Genlinie wie ich. Meine Desertion stellte seine Loyalität in Frage. Er hat meine Frau umgebracht.«

»Former sind gute Ziele«, sagte der Mörder. Sein bein- und armloser Körper schwebte in einem durchsichtigen Nährtank, gefärbtes Plasma schützte die purpurnen Enden der abgetrennten Nervenbahnen. Ein Autodiener watete in den Tank und begann, die Arme des Mörders anzuschließen.

 

10. Investition für ein Kind. »Wir wissen, daß Sie für dieses Kind investiert haben, Anteilseigner Leng«, sagte der Psychotechniker. »Aber auch wenn Sie das Mädchen erschaffen haben – oder die Techniker bezahlt haben, die es erschufen – ist es nicht Ihr Eigentum. Nach unseren Vorschriften muß es behandelt werden wie jedes andere Kind. Es ist das Eigentum unserer Volksrepublik.«

Nikolai sah die Frau wütend an. »Ich habe sie nicht erschaffen. Sie ist der posthume Klon meiner verstorbenen Frau. Und sie ist die Besitzerin der Hinterlassenschaft meiner Frau, oder besser, des Treuhänderfonds, den ich verwalte … ich will damit sagen, daß ihr das semiautonome Firmenvermögen meiner verstorbenen Frau gehört oder daß sie wenigstens ein Vorrecht darauf hat. Sobald sie volljährig ist, wird es ihr ganz gehören … Können Sie mir folgen?«

»Nein. Ich bin Erzieherin, kein Finanzfachmann. Was wollen Sie mir sagen, Anteilseigner? Wollen Sie ihre verstorbene Frau wiedererschaffen?«

Nikolai sah sie an. Er beherrschte seine Gesichtszüge. »Ich habe es wegen der Steuervergünstigung gemacht.«

… Sollte der posthume Klon von den Angriffen profitieren. Semiautonomer Besitz hat eine stabile Handelsposition. Letzte Wellen vom Schmuggelboot der Piraten. Sein Teiggesicht nervt dich mit Ideologien. Innerste Gefühle sterben fast augenblicklich. Schmier Kontaktgift auf die Tür.

 

11. Widerspenstige Bündnistreue. »Mir gefällt es hier draußen im Randbezirk«, sagte Nikolai zum Mörder. »Haben Sie schon einmal daran gedacht, einfach abzuhauen?«

Der Mörder lachte. »Ich war früher Pirat. Ich brauchte vierzig Jahre, um in dieses Kartell aufgenommen zu werden. Wenn Sie allein sind, dann sind Sie im Eimer, Leng. Das müßten Sie doch wissen.«

»Aber Sie müssen diese Bündnisse hassen. Sie sind so lästig. Hätten Sie nicht lieber eine eigene Gruppe, in der Sie Ihre Regeln selbst aufstellen könnten?«

»Sie reden wie ein Ideologe«, sagte der Mörder. Auf seinen Unterarmprothesen blinkten Biofeedback-Anzeigen auf. »Ich habe mich mit Kyotid Zaibatsu verbündet. Denen gehört der ganze Vorort. Sogar meine Arme und Beine.«

»Und mir gehört Kyotid Zaibatsu«, sagte Nikolai. »Oh«, sagte der Mörder. »Dann sieht die Sache allerdings anders aus.«

 

12. Massendesertion. »Wir wollen in deine Gruppe aufgenommen werden«, sagte der Superkluge. »Wir müssen einfach reinkommen, niemand sonst will uns haben.«

Nikolai kritzelte abwesend mit seinem Lichtgriffel auf einem Videoschirm herum. »Wie viele seid ihr?«

»Fünfzig in unserer Genlinie. Wir haben vor unserer Massendesertion im Bereich Quantenphysik gearbeitet. Wir haben einige kleinere Durchbrüche erzielt. Ich glaube, man kann sie kommerziell verwerten.«

»Ausgezeichnet«, sagte Nikolai. Er nahm einen Ausdruck von spekulativem Bedauern an. »Ich vermute, der Ringrat hat euch auf die übliche Weise verfolgt – behauptet, ihr wärt geistig instabil, ideologisch krank, und so weiter.«

»Ja. Ihre Agenten haben achtunddreißig von uns umgebracht.« Der Superkluge tupfte unbehaglich die Schweißperlen von seiner geschwollenen Stirn. »Wir sind nicht geisteskrank, Gruppenältester. Wir werden dir keine Sorgen machen. Wir wollen nur einen ruhigen Platz haben, an dem wir unsere Arbeit vollenden können, während Gott unser Gehirn frißt.«

 

13. Datengeisel. Ein hochrangiger Beauftragter des Ringrates rief an. Nikolai nahm überrascht und neugierig den Anruf selbst entgegen. Das Gesicht des jungen Mannes erschien auf dem Bildschirm. »Ich habe Ihre Lehrerin als Geisel genommen«, sagte er.

Nikolai runzelte die Stirn. »Wie bitte?«

»Die Person, die Sie unterrichtete, als Sie noch ein Kind in der Krippe waren. Sie lieben sie. Das haben Sie ihr gesagt. Ich habe es aufgezeichnet.«

»Sie machen Witze«, sagte Nikolai. »Meine Lehrerin war nur eine cybernetische Schnittstelle. Sie können nicht ein Datensystem als Geisel nehmen.«

»Doch, das kann ich«, sagte der junge Mann grob. »Die alte Bildungsanlage mußte einer neuen mit einer gesünderen Ideologie weichen. Schauen Sie!« Ein zweites Gesicht erschien auf dem Schirm; es war das unmenschlich ebenmäßige und leicht glühende Abbild seiner cybernetischen Lehrerin. »Bitte rette mich, Nikolai«, sagte das Bild steif. »Er ist so rücksichtslos.«

Das Gesicht des jungen Mannes erschien wieder. Nikolai lachte ungläubig. »Dann haben Sie die alten Bänder aufbewahrt?« sagte Nikolai. »Ich weiß nicht, wie Ihr Spielchen heißt, aber ich nehme an, die Daten haben einen gewissen Wert. Ich will großzügig sein.« Er nannte einen Preis. Der junge Mann schüttelte den Kopf. Nikolai wurde ungeduldig. »Hören Sie!« sagte er. »Wie kommen Sie auf die Idee, eine alte Bildungsanlage hätte irgendeinen objektiven Wert?«

»Ich weiß, daß sie den hat«, sagte der junge Mann. »Ich bin selbst eine.«

 

14. Die zentrale Frage. Nikolai war an Bord des Alienschiffs. Er fühlte sich in seinem brokatbestickten Mantel unwohl. Er rückte die schwere Sonnenbrille vor den Plastikaugen zurecht. »Wir danken Ihnen für Ihren Besuch in unserer Gruppe«, begrüßte er den reptilischen Gesandten. »Das ist eine große Ehre für uns.«

Der Gesandte der Investierer hob die bunte Halskrause hinter seinem wuchtigen Kopf. »Wir wollen Geschäfte machen«, sagte er.

»Ich interessiere mich für außerirdische Philosophien«, sagte Nikolai. »Die Antworten anderer Rassen auf die großen Fragen der Existenz.«

»Aber es gibt nur eine zentrale Frage«, erwiderte der Alien. »Wir sind von Stern zu Stern geflogen, um die Antwort zu finden. Wir hoffen, daß Sie uns helfen, eine Antwort zu finden.«

Nikolai wurde vorsichtig. »Wie lautet diese Frage?«

»Was habt ihr, was wir gebrauchen können?«

 

15. Geerbte Gaben. Nikolai betrachtete das Mädchen mit den altmodischen Augen. »Mein Sicherheitschef hat mir dein Strafregister besorgt«, sagte er. »Verletzung des Urheberrechts, organisierte Erpressung, Verschwörung zur Beschränkung des Handels. Wie alt bist du?«

»Vierundvierzig«, sagte das Mädchen. »Und du?«

»Hundertzehn oder so. Ich müßte in den Akten nachsehen.« Irgend etwas an der Erscheinung des Mädchens beunruhigte ihn. »Woher hast du diese altmodischen Augen?«

»Sie gehörten meiner Mutter. Ich habe sie geerbt. Aber du bist ja ein Former. Du weißt nicht, wer deine Mutter war.«

»Ganz im Gegenteil«, sagte Nikolai. »Ich glaube sogar, daß ich deine kannte. Wir waren verheiratet. Nach ihrem Tod ließ ich dich klonen. Ich glaube, damit bin ich dein … – ach, vergiß es!«

»Vater.«

»Das klingt beinahe richtig und auf jeden Fall hast du ihre Begabung für Geldgeschäfte geerbt.« Er sah noch einmal ihre Personalakte durch. »Hättest du Interesse, die Liste deiner Verbrechen um den Tatbestand der Bigamie zu erweitern?«

… Geistig instabile Menschen haben einen gewissen Wert. Beschränkung des Handels sieht angesichts eines Videoschirms völlig anders aus. Ein paar kleine Durchbrüche in Fragen der Existenz. Deine Personalakte verfolgte ihn. Seine geschwollene Stirn kann kein Datensystem halten …

 

16. Freudenschreie. »Man darf nicht zum Gewohnheitsmensch werden«, sagte seine Frau. »Die einzige Möglichkeit, jung zu bleiben.« Sie zog einen vergoldeten Zerstäuber aus dem Strumpfband. »Versuch das mal!«

»Ich brauch keine Drogen«, sagte Nikolai lächelnd. »Ich habe meine Machtphantasien.« Er begann seine Kleider abzulegen.

Seine Frau beobachtete ihn ungeduldig. »Sei kein Frosch, Nikolai.« Sie setzte den Zerstäuber an ihre Nase und schnüffelte. Schweiß brach auf ihrem Gesicht aus, und die Röte sexueller Erregung verbreitete sich über Ohren und Hals.

Nikolai sah ihr zu, dann zuckte er die Achseln und schnüffelte vorsichtig an dem vergoldeten Röhrchen. Sofort betäubte eine erderschütternde Woge der Ekstase sein Nervensystem. Sein Körper wand sich, zuckte unkontrolliert.

Seine Frau begann ihn ungeschickt zu liebkosen. Die tobende chemische Lust ließ jeden Gedanken an Sex vergehen. »Warum … warum sollen wir uns noch die Mühe machen?« keuchte er.

Seine Frau sah ihn überrascht an. »Weil es so üblich ist.«

 

17. Flackernde Wand. Nikolai wandte sich an die flackernde Monitorwand. »Ich werde alt«, sagte er. »Ich bin bei guter Gesundheit – ich hatte mit der Auswahl meiner Langlebigkeitsprogramme viel Glück –, aber ich habe nicht mehr den Mut, den ich früher hatte. Ich habe meine Flexibilität und meinen Biß verloren. Und die Gruppe ist so groß geworden, daß ich sie nicht mehr leiten kann. Ich habe keine Wahl. Ich muß zurücktreten.« Er beobachtete scharf die Gesichter auf den Bildschirmen, ob sie eine Reaktion zeigten. In seinen zweihundert Lebensjahren hatte er die Kunst, in Gesichtern zu lesen, vollendet gelernt. Seine Fähigkeiten besaß er noch, nur der Wille dahinter war abgebröckelt. Die Gesichter der Kabinettsmitglieder, die er mit diesem Schock aus der Reserve gelockt hatte, schienen vor Ehrgeiz und Gier aufzublühen.

 

18. Legale Ziele. Die Mechanisierer hatten im Vorort ihre Drohnen losgelassen. Mit Vorladungen bewaffnet huschten die gesichtslosen Drohnen durch die dichtbevölkerten Gänge und suchten legale Ziele.

Plötzlich löste sich Nikolais früherer Sicherheitschef aus der Menge, um in Deckung zu gehen. In der Schwerelosigkeit warf er sich wie ein gepanzerter Gibbon von Handgriff zu Handgriff. Plötzlich gab eine seiner Prothesen nach, und die Drohnen stürzten sich fast vor Nikolais Tür auf ihn. Plastik brach, während elektromagnetische Zangen seine Glieder lähmten.

»Verdammt«, keuchte er. In den tiefen Falten seines alten Gesichtes glänzten Schweißbäche. »Die nehmen mich auseinander! Hilf mir, Leng!«

Nikolai schüttelte traurig den Kopf. Der alte Mann kreischte: »Du hast mich da reingebracht! Du warst der Ideologe! Ich bin nur ein armer Mörder!«

Nikolai schwieg. Die Maschinen nahmen dem alten Mann die Arme und Beine ab.

 

19. Altmodische Spaltungen. »Du bist echt fertig, Alter, du mit deinem alten Quark!« Die jungen Leute sprachen einen Slang, den Nikolai kaum verstehen konnte. Sie beobachteten ihn mit einer Mischung aus Wut, Bedauern und Ehrfurcht. Nikolai kam es vor, als könnten sie sich nur durch Brüllen verständigen. »Ich fühle mich zahlenmäßig in der Minderheit«, murmelte er.

»Du bist zahlenmäßig in der Minderheit, alter Nikolai! Diese Bar ist dein Museum, was? Dein Mausoleum! Aber erzähl uns nur deine alten Geschichten. Wir hören gern zu! Diese idiotischen Video-Ideologien, diese altmodischen Geistesspaltungen. Mechanisierer und Former, was? Der Krieg der beiden Seiten der Münze!«

»Ich bin müde«, sagte Nikolai. »Ich habe zu viel getrunken. Bringt mich nach Hause.«

Sie wechselten einen besorgten Blick. »Du bist zu Hause! Oder etwa nicht?«

 

20. Geschlossene Augen. »Ihr wart sehr freundlich«, sagte Nikolai zu den beiden Jungen. Sie waren Kosmos-Archäologen und trugen ihre akademischen Gewänder; die Umhänge waren mit Auszeichnungen und Medaillen von Terraform-Gruppen besetzt. Nikolai bemerkte plötzlich, daß er ihre Namen nicht mehr wußte. »Schon gut, Sir«, sagten sie beruhigend. »Es ist unsere Pflicht, uns an Sie zu erinnern, nicht umgekehrt.« Nikolai war es peinlich. Er hatte gar nicht bemerkt, daß er laut gesprochen hatte.

»Ich habe Gift genommen«, erklärte er entschuldigend.

»Wir wissen das«, sagten sie nickend. »Sie haben doch keine Schmerzen, oder?«

»Nein, überhaupt nicht. Ich weiß, daß ich richtig gehandelt habe. Ich bin sehr alt. Älter, als ich selbst es ertragen kann.« Er erschrak, als er in sich etwas zusammenbrechen fühlte. Stücke seines Bewußtseins bröckelten ab, während er der Leere entgegenglitt. Plötzlich erkannte er, daß er seine letzten Worte schon wieder vergessen hatte. Mit gewaltiger Anstrengung holte er die Erinnerung an sie zurück und sprach sie aus.

»Vergeblichkeit ist Freiheit!« Voller Triumph starb er, und sie drückten ihm die Augen zu.

 

Originaltitel: ›Twenty Evocatitios‹

Copyright © 1984 by Bruce Sterling

(erstmals erschienen in ›Interzone‹, Frühling 1984,

unter dem Titel

›Life in the Mechanist Shaper Era: Twenty Evocations‹)

Copyright© 1990 der deutschen Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jürgen Laugowski