Spitzel
Für Rudy Rucker
Das Shuttle verließ den Orbit und brachte den Spitzel nach Washington D.C. hinunter. Er fühlte sich ausgezeichnet. Der Spitzel drehte sich auf seinem Sitz herum und grinste durch das Plexiglas zu den fröhlich glühenden Leitwerken des Shuttles hinaus.
Weit drunten trug das unnatürliche Grün der genmodulierten Wälder noch die schwachen Narben ehemaliger Straßen und Zäune. Der Spitzel fuhr sich mit langen, dünnen, beweglichen Fingern durch sein kurzgeschnittenes blaues Haar. Er war seit zehn Monaten nicht mehr auf festem Boden gewesen. Das Gefühl der Abgeschiedenheit, das für die orbitale Zaibatsu-Serie typisch war, fiel wie eine kühle, knisternde Schlangenhaut von ihm ab.
Das Shuttle bremste unter leichtem, nicht unangenehmem Schaudern auf Mach 4 herunter. Der Spitzel drehte sich in die andere Richtung und schielte mit halbgeschlossenen grünen Augen an dem schlafenden Plutokraten neben sich vorbei zu der Frau, die jenseits des Gangs saß. Sie hatte den kühlen, ausgehungerten Blick einer Zaibatsu. Ihre hohlen, blutunterlaufenen Augen … die Frau sah aus, als hätte sie Mühe mit der Schwerkraft, nachdem sie zuviel Zeit in der niedrigen Gravitation ihrer Zaibatsu-Station verbracht hatte. Sie würde dafür bezahlen, wenn sie landeten, denn dann mußte sie wie eine Greisin mühsam von Wasserbett zu Wasserbett schlurfen …
Der Spitzel blickte nach unten; seine Hände zuckten und machten unbewußte Greifbewegungen in seinem Schoß. Er hob sie und schüttelte die Spannung heraus. Dumme kleine Hände …
Die Wälder von Maryland Piedmont huschten wie ein grüner Videofilm vorbei. Washington und die DNS-Labors von Rockville, Maryland, waren noch 1080 tickende Sekunden entfernt. Er konnte sich nicht erinnern, schon einmal so einen Spaß gehabt zu haben. Im rechten Ohr flüsterte sein Computer, flüsterte und flüsterte …
Das Shuttle stürzte auf die verstärkte Landebahn hinab, wo es von Bodenfahrzeugen zum Abkühlen eingeschäumt wurde. Der Spitzel stieg von der Liege und ergriff seinen Koffer.
Der Hubschrauber des Sicherheitsdienstes der Replicon Corporation erwartete ihn bereits. Auf dem Flug zur Hauptverwaltung von Replicon in Rockville nahm er einen Drink. Aus seinem Unterbewußtsein drangen Informationen über die Bauart des Hubschraubers empor. Die Techniken, die er im Ausbildungslager gelernt hatte, zuckten wie psychotische Nachwehen durch sein Kleinhirn. Unter dem Einfluß von Schwerkraft, frischer Luft und dicken Polstern fielen große Teile seiner Persönlichkeit in sich zusammen.
Er fühlte sich süß und weich wie der Kern einer verfaulten Melone. Also gut, fließend und glatt wie Schmieröl … Einem Impuls folgend öffnete er seinen Koffer, nahm seinen automatischen Kamm aus dem Necessaire und schaltete ihn mit dem irisierenden Nagel seines rechten Daumens ein. Schwarze Farbe aus den vibrierenden Zähnen des Kamms glättete seine blauen Haare und tönte sie nach.
Er löste den winzigen Stecker aus der Verbindung mit dem rechten Hörnerv und nahm den Computer-Ohrring ab. Er summte vor sich hin, um die Leere nach dem beständigen Flüstern zu überbrücken, und öffnete ein flaches Kästchen, das im Innern des Koffers befestigt war. Er steckte den Minicomp-Ohrring in sein gepolstertes Fach. Im Kästchen lagen noch sieben weitere: kleine, mit Juwelen besetzte Kugeln, vollgepackt mit miniaturisierten Schaltkreisen und geladen mit modernster Software. Er stöpselte einen neuen ein und hakte ihn in sein Ohrläppchen. Der Ring teilte ihm flüsternd seine Fähigkeiten mit, falls er sie vergessen hatte. Er hörte nur mit halbem Ohr zu.
Der Hubschrauber landete auf dem Replicon-Zeichen in der Mitte des Flachdachs der vierstöckigen Hauptverwaltung. Der Spitzel ging zum Aufzug. Er biß ein Stück von seinem Fingernagel ab und warf es in den versenkten Schlitz eines Bioanalysators. Dann wiegte er sich auf seinen nagelneuen Fersen und grinste, während er von Kameras und Ultraschallgeräten abgetastet, gewogen und gemessen wurde.
Die Fahrstuhltür glitt auf. Er trat hinein und starrte fröhlich die Wand an. Sie öffnete sich wieder, und er wanderte durch einen edelholzvertäfelten Flur zum Büro des Sicherheitschefs von Replicon.
Er übergab dem Sekretär seine Beglaubigungen und wiegte sich wieder auf den Hacken, während der junge Mann die Informationen in seinen Tischcomputer fütterte. Der Spitzel kniff die grünen Augen zusammen; die Muzak weichte ihn auf wie ein heißes Bad.
Der Sicherheitschef war ganz ergrautes Haar und gebräunte Falten und große Keramikzähne. Der Spitzel setzte sich und wurde wachsweich, während sich die Schwingungen des Mannes über ihn ergossen. Der Mann sprühte vor Eifer und Korruption wie ein verrostetes Giftmüllfaß. »Willkommen in Rockville, Eugene.«
»Danke, Sir«, sagte der Spitzel. Er richtete sich etwas auf; er begann auf den raubtierhaften Anstrich des Mannes zu reagieren. »Es ist mir ein Vergnügen.«
Der Sicherheitschef blickte abwesend auf einen nur für ihn sichtbaren Datenschirm. »Sie haben ausgezeichnete Empfehlungen, Eugene. Ich habe hier die Daten von zweien Ihrer Einsätze für andere Mitglieder der Synthesis. Beim Amsterdam Gill Piracy-Fall standen Sie unter einem Druck, der einen normalen Agenten zerbrochen hätte.«
»Ich war der Klassenbeste«, sagte der Spitzel mit einem einfältigen Lächeln. Er konnte sich nicht an den Amsterdam-Fall erinnern. Es war ihm alles entglitten, gelöscht vom Schleier. Der Spitzel betrachtete erfreut einen japanischen Kimono, der als Wandschmuck diente.
»Wir hier bei Replicon fordern nicht oft die Hilfe von euch Zaibatsu an«, sagte der Sicherheitschef. »Aber unserem Kartell wurde von der Koordinationsabteilung der Synthesis eine äußerst wichtige Operation übertragen. Sie sind zwar kein Mitglied von Synthesis, aber Ihre hervorragende Zaibatsu-Ausbildung, die für die Mission unerläßlich ist, gab den Ausschlag.«
Der Spitzel lächelte unverbindlich und wackelte in seinen verzierten Schuhen mit den Zehen. Gerede über Loyalität und Ideologien langweilte ihn. Synthesis und ihre ehrgeizigen Bemühungen, den Planeten mit einem riesigen kybernetisch-ökonomischen Netz zu überziehen, waren ihm herzlich gleichgültig.
Selbst seine Gefühle für seine Herkunft, die Zaibatsu-Serie, waren nicht »patriotischer« als die warmen Empfindungen, die ein Wurm für einen Apfelkern hegt. Er wartete darauf, daß der Mann zur Sache kam; er wußte, daß sein Ohrcomp die Unterhaltung noch einmal abspielen konnte, falls er etwas verpaßt hatte.
Der Sicherheitschef spielte mit einem elektronischen Griffel und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Sie waren nicht leicht für uns«, sagte er, »diese postindustriellen Jahre. Die besten Köpfe zogen in die Orbitalfabriken hinaus, während der Planet durch Überbevölkerung und Umweltverschmutzung ruiniert wurde. Und jetzt sind wir soweit heruntergekommen, daß wir ohne Hilfe von Euch Orbitern nicht einmal mehr den augenblicklichen Stand halten können. Ich hoffe, Sie verstehen unsere Lage.«
»Vollkommen«, sagte der Spitzel. Sein Agententraining und die Fähigkeiten des Schleiers machten es ihm leicht, in die Haut des Mannes zu schlüpfen und durch seine Augen zu blicken. Es gefiel ihm nicht besonders, aber es war nicht schwer.
»Inzwischen wird es ruhiger, denn die verrücktesten Banden haben sich gegenseitig umgebracht oder sind in den Raum emigriert. Die Erde kann sich nicht die kulturelle Vielfalt erlauben, die Sie in Ihren Orbitstädten haben. Die Erde muß ihre verbliebenen Ressourcen unter der Führung von Synthesis vereinen. Die konventionellen Kriege sind ein für alle Mal vorbei. Jetzt stehen wir vor einem Krieg der Bewußtseinszustände.«
Der Sicherheitschef kritzelte abwesend mit dem Lichtgriffel auf einem Videoschirm herum. »Es ist eine Sache, mit kriminellen Gruppen wie den Gill-Piraten fertigzuwerden, aber eine ganz andere, sich diesen … äh … Kulten und Sekten zu stellen, die sich einfach weigern, sich der Synthesis anzuschließen. Nach dem Bevölkerungsrückgang am Beginn des Zweiten Jahrtausends sind nun große Teile der Dritten Welt ins Kraut geschossen … Das gilt ganz besonders für Mittelamerika und für den Süden der Volksrepublik Mexiko … dort sind wir auf einen Dissidentenkult gestoßen, der sich Maya Resurgence nennt. Wir von Synthesis stehen einer kulturellen Geisteshaltung gegenüber – die in Ihrer Organisation, Eugene, übrigens als Paradigma bezeichnet würde –, die diametral allem entgegengesetzt ist, was die Synthesis ausmacht. Wenn wir diese Gruppe aufhalten können, bevor sie sich etabliert, dann haben wir noch einmal Glück gehabt. Aber wenn sich ihr Einfluß weiter ausdehnt, könnte dies auf Seiten der Synthesis militärische Aktionen provozieren. Und wenn wir gezwungen sind, zu den Waffen zu greifen, wird unser zerbrechliches Bündnis sofort zerfallen. Wir können uns die Wiederaufrüstung nicht leisten, Eugene. Wir können uns das Mißtrauen nicht leisten. Wir brauchen alles, was wir haben, um gegen die ökologische Katastrophe zu kämpfen. Der Meeresspiegel steigt immer noch.«
Der Spitzel nickte. »Sie wollen sie destabilisieren. Sie wollen ihr Paradigma als unhaltbar darstellen. Sie wollen eine kognitive Dissonanz erzeugen, die sie von innen auseinanderbrechen läßt.«
»Genau«, sagte der Sicherheitschef. »Sie sind ein erfahrener Agent. Nehmen Sie sie auseinander.«
Der Spitzel sagte vorsichtig: »Und falls ich es für nötig halte, verbotene Waffen zu benutzen …?«
Der Sicherheitschef erbleichte, dann biß er die Zähne zusammen und sagte tapfer: »In diesem Fall darf Ihr Einsatz nicht mit Replicon in Verbindung gebracht werden.«
Der kleine, mit Solarenergie getriebene Zeppelin brauchte für die Fahrt von den Deichen Washingtons bis zum heißen Golf von Honduras vier Tage. Der Spitzel fuhr allein, die Kabine war versiegelt. Den größten Teil der Reise verbrachte er halb betäubt, und das beständige Flüstern seines Computers übernahm die Funktion bewußter Gedanken.
Schließlich gelangte der Zeppelin, seiner Programmierung folgend, zu einem tropischen, von Wellen umspülten Mangrovenwald in der Nähe des Hafens von New Belize. Der Spitzel hatte sich an einem Kabel zu einem festen Fleck in der aufgewühlten Erde nahe der Docks hinabgelassen. Er winkte der Besatzung eines Dreimastschoners fröhlich zu, deren nachmittägliche Siesta von seiner fast lautlosen Ankunft gestört worden war.
Es tat gut, wieder unter Menschen zu sein. Nach vier Tagen nur mit seinem zerstückelten Selbst als Gesellschaft brannte der Spitzel darauf, wieder Menschen zu sehen.
Es war unerträglich heiß. Auf dem Kai standen Holzkisten mit Bananen, die unter starker Geruchsentwicklung ihrer Zersetzung entgegenreiften.
New Belize war eine armselige kleine Stadt. Ihre Vorgängerin, Old Belize, lag ein paar Meilen draußen unter dem Wasser der Karibik, und New Belize war hastig aus den Überbleibseln zusammengestückelt worden. Das Stadtzentrum bestand im Grunde nur aus einem Fertigbau-Geodom, der für die Bauweise der ausländischen Niederlassungen von Synthesis typisch war. Der Rest der Stadt, selbst die Kirche, drängte sich um den Rand der Kuppel wie die Hütten der Dorfbewohner um eine mittelalterliche Burg. Wenn und falls das Meer weiter stieg, konnte die Kuppel leicht versetzt werden, während die anderen Gebäude wie ihre Vorgänger untergehen würden.
Abgesehen von den Hunden und Fliegen schlief die Stadt. Der Spitzel tappte über einen verschlammten Bohlenweg. Eine Halbindianerin mit einem verfilzten Schal hatte neben einer Luftschleuse der Kuppel ihren Metzgereistand aufgebaut. Sie beobachtete ihn, während sie mit einem Palmenblatt die Fliegen von einer aufgehängten blutigen Schweinehälfte scheuchte. Als ihre Blicke sich trafen, fuhr die Erkenntnis ihres dumpfen Elends und ihrer Unwissenheit durch ihn, als wäre er auf einen Zitteraal getreten. Es war verrückt und stark und neu, und ihr abgestumpfter Schmerz bedeutete ihm außer der Neuheit dieses Erlebnisses nichts; er konnte sich gerade noch zurückhalten, über die schmutzige Theke zu springen und sie zu umarmen. Er wollte seine Hände unter ihre lange Baumwollbluse schieben und seine Zunge in ihren faltigen Mund drücken; er wollte unter ihre Haut vordringen und sie abschälen wie eine Schlangenhaut … Mann! Er schüttelte sich und ging durch die Schleuse hinein.
Drinnen roch es nach Synthesis, nach komprimierter Luft und Tang wie in einer Taucherglocke. Es war keine große Kuppel, aber die moderne Informationstechnik beanspruchte nicht viel Platz. Die untere Etage der Kuppel beherbergte die üblichen Büros mit ihren Tastaturen, Stimmdecodern, Translatoren, Videoschirmen und Kommunikationsanlagen für Satelliten und elektronische Post. Das Personal aß und schlief im ersten Stock. In dieser Niederlassung waren die meisten Mitarbeiter Japaner.
Der Spion wischte sich den Schweiß von der Stirn und fragte einen Sekretär auf japanisch, wo er Dr. Emilio Flores finden könne.
Flores betrieb eine halb unabhängige Gesundheitsfarm, die er geschickt der Kontrolle von Synthesis entzog. Der Spitzel wurde aufgefordert, im Wartezimmer des Arztes Platz zu nehmen, wo er sich auf einem zerkratzten, alten Bildschirm mit Videospielen die Zeit vertreiben konnte.
Flores versorgte einen nie abreißenden Strom von lahmen, behinderten, kranken und hinfälligen Menschen. Die Belizaner schienen von der Kuppel eingeschüchtert und bewegten sich nur zögernd, als hätten sie Angst, die Wände oder den Fußboden zu zerbrechen. Der Spitzel fand sie äußerst interessant. Er studierte ihre Krankheiten mit analytischem Blick – überwiegend Hautkrankheiten, fiebrige Infektionen und Parasiten, dazwischen einige entzündete Wunden und Brüche. Er hatte noch nie so kranke Menschen gesehen. Er versuchte, sie mit seinem Können bei den Videospielen zu begeistern, aber sie murmelten lieber untereinander in einem verballhornten Englisch oder kauerten schaudernd im Zug der Klimaanlage.
Endlich wurde der Spitzel zum Doktor vorgelassen. Flores war ein kleiner, angekahlter Hispanier, der den üblichen weißen Arbeitskittel eines Arztes trug. Er betrachtete den Spitzel von oben bis unten. »Oh«, sagte er. »Ihre Krankheit, junger Mann, habe ich schon öfter gesehen. Sie wollen reisen. Ins Landesinnere.«
»Ja«, sagte der Spitzel. »Nach Tikal.«
»Setzen Sie sich.« Sie setzten sich. Hinter Flores tickte und blinkte ein Kernspintomograph vor sich hin. »Lassen Sie mich raten«, sagte der Arzt, während er die Fingerspitzen aneinanderlegte. »Die Welt kommt Ihnen wie eine Sackgasse vor, junger Mann. Sie haben den Universitätsabschluß oder die Aufnahmeprüfung bei den Zaibatsu nicht geschafft. Und Sie können den Gedanken nicht ertragen, Ihr Leben damit zu vergeuden, eine Welt aufzuräumen, die von Ihren Vorfahren ruiniert wurde. Sie fürchten sich vor einem Leben unter dem Daumen großer Kartelle und Firmen, die Ihre Seele aushungern, um die eigenen Taschen zu füllen. Sie sehnen sich nach einem einfacheren Leben. Nach einem Leben des Geistes.«
»Ja, Sir.«
»Ich habe hier die nötigen Einrichtungen, um Ihre Haar- und Hautfarbe zu verändern. Ich kann sogar dafür sorgen, daß Sie die Vorräte bekommen, mit denen Sie eine vernünftige Chance haben, im Dschungel zu überleben. Haben Sie Geld?«
»Ja, Sir. Bei der Bank von Zürich.« Der Spitzel zog eine elektronische Kontokarte hervor.
Flores schob die Karte in einen Schlitz in seinem Schreibtisch, las den Ausdruck und nickte. »Ich will Ihnen nichts vormachen, junger Mann. Das Leben bei den Maya ist hart, besonders am Anfang. Man wird Sie brechen und genauso wieder zusammensetzen, wie man Sie haben will. Dies ist ein geschlagenes Land. Im letzten Jahrhundert fiel dieses Gebiet den Predator Saints in die Hände. Einige Krankheiten, die von den Predators hier losgelassen wurden, sind noch in Umlauf. Die Resurgence hat den Fanatismus der Predators geerbt. Auch sie sind Mörder.«
Der Spitzel zuckte die Achseln. »Ich habe keine Angst.«
»Ich hasse dieses Morden«, sagte der Doktor. »Trotzdem, die Maya gehen wenigstens offen vor, während das profitorientierte Vorgehen der Synthesis die ganze Bevölkerung hier zu Beutetieren gemacht hat. Die Synthesis gewährt mir keine Mittel, um das Leben von angeblich nicht überlebensfähigen Genlinien zu verlängern. Deshalb kompromittiere ich meine Ehre und akzeptiere das Geld der Deserteure von Synthesis und finanziere meine Wohltaten mit Verrat. Ich bin von Geburt Mexikaner, aber meinen Beruf habe ich auf einer Replicon-Universität gelernt.«
Der Spitzel war überrascht. Er hätte nicht gedacht, daß es noch so etwas wie »Mexiko« gab. Er fragte sich, wem die Regierung gehörte.
Die Vorbereitungen dauerten acht Tage. Unter Flores' fachkundiger Anleitung färbten die Maschinen der Klinik die Haut und die Augen des Spitzels um und arbeiteten die Falten um seine Augen auf. Er wurde gegen die klassischen und künstlich eingeführten Spielarten von Malaria, Typhus und Gelb- und Dengue-Fieber geimpft. Neue Bakterienkulturen wurden in seine Därme gesetzt, um dem Durchfall entgegenzuwirken, und er bekam Mittel gegen allergische Reaktionen auf die unvermeidlichen Bisse von Zecken, Flöhen, Milben und – am schlimmsten von allen – Goldfliegenlarven.
Als der Augenblick gekommen war, sich vom Arzt zu verabschieden, war der Spitzel den Tränen nahe. Er wischte sich die Augen aus und drückte dabei den Handballen fest gegen den linken Wangenknochen. Es klickte in seinem Kopf, und die linke Kieferhöhle entleerte sich. Vorsichtig und unauffällig fing er die auslaufende Flüssigkeit mit seinem Taschentuch auf. Als er dem Arzt zum Abschied die Hand gab, preßte er das feuchte Tuch auf das nackte Handgelenk des Arztes. Er ließ das Taschentuch auf Flores' Schreibtisch liegen. Als der Spitzel mit seinen Maultieren an den Maisfeldern vorbeigezogen war und in den Dschungel eindrang, begannen die schizophrenieerzeugenden Gifte zu wirken, und das Bewußtsein des Arztes zerbrach wie eine fallengelassene Vase.
Der Dschungel in den Niederungen von Guatemala war kein schöner Ort für einen Orbiter. Es war ein weiter, unheimlicher Morast voller wildgewordener Pflanzen, die schon lange wußten, was Menschen waren. Im zwölften Jahrhundert war die ganze Gegend für die bewässerten Maisfelder der Maya abgebrannt worden. Im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert war sie der finsteren Logik von Bulldozern, Flammenwerfern, Entlaubungsmitteln und Pestiziden ausgesetzt worden. Und jedes Mal war sie nach dem Tode der Unterdrücker zurückgekommen, häßlicher und verbissener als je zuvor. Einst hatten die Pfade von Holzfällern und Kautschuksuchern, die nach ergiebigen Mahagoni- und Kautschukbäumen suchten, den Wald durchzogen. Jetzt gab es diese Pfade nicht mehr, weil es keine Bäume mehr gab.
Dies war kein ursprünglicher Wald. Es war ein menschlicher Artefakt wie die genetisch veränderten Kohlendioxidschlucker, die in gewaltigen Reihen in allen synthetischen Wäldern Europas und Nordamerikas standen. Diese Bäume waren die Staubsauger einer ökologisch wahnsinnigen Gesellschaft: Dornen, Mesquite, Kohlpalmen, Lianen. Die Pflanzen hatten ganze Städte verschluckt und stellenweise sogar komplette Ölraffinerien. Angeschwollene Populationen von Papageien und Affen, denen die natürlichen Feinde fehlten, raubten jedem Eindringling den Schlaf.
Der Spitzel überprüfte mit Hilfe der Satelliten ständig seine Position; es bestand keine Gefahr, sich zu verirren. Und es machte keinen Spaß. Den aufmüpfigen Menschenfreund zu erledigen, war zu leicht gewesen, um Spaß zu machen. Sein Ziel war die Hazienda des amerikanischen Neureichen John Augustus Owens, die jetzt den führenden Köpfen der Maya als Zentrale diente.
Die mit Fresken verzierten Spitzen der Pyramiden von Tikal waren über die Baumwipfel hinweg schon aus dreißig Meilen Entfernung zu sehen. Der Spitzel erkannte die Anlage der Resurgence-Stadt nach den Satellitenfotos. Er wanderte bis zum Einbruch der Dunkelheit und verbrachte die Nacht in der verfallenen Kirche eines überwucherten Dorfes. Am Morgen tötete er seine beiden Maultiere und ging zu Fuß weiter.
Der Dschungel außerhalb von Tikal war voller Jagdpfade. Eine Meile vor der Stadt wurde der Spitzel von zwei Wachposten aufgegriffen, die mit obsidianbesetzten Keulen und hochmodernen Automatikgewehren bewaffnet waren.
Seine Wächter waren zu groß, um echte Maya zu sein. Vermutlich Rekruten von draußen und keine eingeborenen gualtemaltekischen Indianer, die wahrscheinlich den Hauptteil der Bevölkerung bildeten. Sie sprachen nur Maya, in das sich verzerrte spanische Brocken mischten. Mit Hilfe seines Computers nahm der Spitzel sofort die Sprache auf, während er sich auf englisch beklagte. Der Schleier brachte ein Talent für Sprachen mit sich. Er hatte bereits über ein Dutzend gelernt und wieder vergessen.
Seine Arme wurden hinter dem Rücken gefesselt, und er wurde nach Waffen durchsucht, aber sonst nicht verletzt. Seine Bewacher marschierten durch einen Vorort mit strohgedeckten Häusern, Maisfeldern und kleinen Gärten. Truthähne kratzten und kollerten im Unterholz. Am Fuße einer Nebenpyramide wurde er ins prächtige, holzvertäfelte Büro eines Theokraten geschoben.
Dort wurde er von einem Priester verhört, der eine Krone und einen Lippenstecker aus Jade beiseitelegte, um die einem Bürokraten geziemende Farblosigkeit anzunehmen. Der Priester sprach ein ausgezeichnetes Englisch, und sein Betragen zeigte jene Distanziertheit und beiläufige Andeutung absoluter Macht, die nur aus langer Vertrautheit mit großen industriellen Machtstrukturen entsteht. Es fiel dem Spitzel nicht schwer, ihm die erwarteten Antworten vorzuspielen. Er hatte schon halb gewonnen, als er sich als Deserteur von Synthesis vorstellte, der nach den sogenannten ›menschlichen Werten‹ suchte, die von der Synthesis und den Zaibatsu als überholt betrachtet wurden.
Er wurde die Kalksteinstufen der Pyramide hinaufgeführt und knapp unter der Spitze in einer kleinen, aber luftigen Steinzelle eingesperrt. Man sagte ihm, daß die Integration in die Maya-Gesellschaft erst möglich sei, wenn er sich aller alten Falschheiten entledigt habe und gereinigt und wiedergeboren sei. In der Zwischenzeit würde man ihn die Sprache lehren. Er wurde angewiesen, das Alltagsleben der Stadt zu beobachten und eine Vision zu erwarten. Die vergitterten Fenster seiner Zelle boten ihm einen ausgezeichneten Blick über Tikal. Täglich wurden auf der größten Tempelpyramide Zeremonien abgehalten; die Priester kletterten wie Schlafwandler die steilen Stufen hinauf, und steinerne Opferschalen sandten schwarze Rauchfäden in den erbarmungslosen Himmel Guatemalas. In Tikal lebten fast fünfzigtausend Menschen, eine gewaltige Zahl für eine präindustrielle Gesellschaft.
Im Morgengrauen glitzerte das Wasser in einem von Hand gemeißelten Sandsteinreservoir östlich der Stadt. Abends ging die Sonne im Dschungel hinter einer heiligen Stele und einem Opferbrunnen unter. Etwa hundert Meter von der Stele entfernt stand eine kleine, reich geschmückte Steinpyramide, die von Männern mit Gewehren streng bewacht wurde. Die Pyramide war über dem Luftschutzbunker des amerikanischen Millionärs Owens errichtet worden. Wenn der Spitzel den Hals verrenkte und durch die Steingitter lugte, konnte er sehen, wie die hochrangigen Priester der Stadt dort ein- und ausgingen.
Die Zelle nahm schon am ersten Tag die Arbeit auf. Die Spitzel-Ausbildung, der Schleier und sein Computer schützten ihn, aber er beobachtete interessiert die Techniken. Tagsüber wurde er ab und zu mit Ultraschall bestrahlt, der am Ohr vorbeiging und unmittelbar das Nervensystem beeinflußte und Desorientierung und Furcht hervorrief. Nachts drangen hypnagogische Indoktrinationen aus versteckten Lautsprechern, die etwa um drei Uhr morgens, wenn der Biorhythmus auf einem Tiefpunkt war, ihren Höhepunkt erreichten. Am Morgen und Abend sangen Priester laut auf der Spitze des Tempels und wiederholten Mantras, die so alt waren wie die Menschheit selbst. Zusammen mit der leichten sensorischen Deprivation seiner Kammer war die Wirkung beeindruckend. Nach zwei Wochen dieser Behandlung sang der Spitzel sich mit einer Leichtigkeit, die wie Zauberei schien, durch seinen Sprachunterricht.
In der dritten Woche begannen sie, seinem Essen Drogen zuzusetzen. Als sich etwa zwei Stunden nach dem Essen die Dinge aufzulösen schienen, erkannte der Spitzel, daß dies nicht die übliche Ultraschallbehandlung war, sondern eine starke Dosis Psilocybin. Psychedelische Drogen waren nicht ganz nach dem Geschmack des Spitzels, aber er ging ohne große Mühe auf den Trip. Das Peyote am nächsten Tag war erheblich härter – er konnte die bitteren Alkaloide in seiner Tortilla und den schwarzen Bohnen schmecken –, aber er aß alles auf, da er glaubte, seine Nahrungsaufnahme würde überwacht. Der Tag dehnte sich endlos, Krämpfe und Übelkeit wechselten mit Phasen religiöser Verzückung, in denen er glaubte, seine Poren seien blutende Dornen. Der Höhepunkt kam irgendwann nach Sonnenuntergang, als die ganze Stadt bei Fackellicht versammelt war, um zwei jungen Frauen zuzusehen, die sich, in weiße Gewänder gekleidet, furchtlos von einem Steinkatafalk in die kalten grünen Tiefen des heiligen Brunnens stürzten. Er konnte fast das kalte, grüne Wasser zwischen den Sandsteinen auf der Zunge spüren, während die von Drogen betäubten Mädchen still ertranken.
In der vierten und fünften Woche wurde die Dosierung der psychedelischen Drogen zurückgenommen. Er wurde akklimatisiert, indem zwei junge Priesterinnen in etwa seinem Alter ihn in der Stadt herumführten. Sie vervollkommneten die Sprachausbildung und begannen ihn in die komplizierte Theologie der Resurgence einzuführen. Ein normaler Mann wäre inzwischen soweit atomisiert gewesen, daß er wie ein Kind an ihnen gehangen hätte. Selbst für den Spitzel war es ein schwerer Weg gewesen, und er mußte sich manchmal beherrschen, die beiden Priesterinnen nicht wie Mandarinen aufzureißen.
In der Mitte seines zweiten Monats ließ man ihn zur Probe in den Maisfeldern arbeiten und erlaubte ihm, in einem Dorf in einem strohgedeckten Haus zu schlafen. Er teilte sich die Hütte mit zwei anderen Rekruten. Sie bemühten sich gemeinsam, ihren zerschmetterten Psychen eine Gestalt zu geben, die in dieser Kultur gebilligt wurde. Dem Spitzel paßte es nicht, mit ihnen eingesperrt zu sein; sie waren so zerbrochen, daß er nicht einmal seine Wut an ihnen auslassen konnte. Er war versucht, nachts hinauszuschleichen, ein paar Priestern aufzulauern und sie zu verprügeln, einfach um seinen zerstörerischen Impulsen eine gesunde Richtung zu geben, aber er wartete ab. Es war kein leichter Auftrag. In seiner Ausbildung war er durch Drogen an halbpsychotische Zustände gewöhnt worden, und wenn er seine implantierten schizophrenischen Waffen vorzeitig benutzte, konnte er das Paradigma dieses Ortes sogar verstärken. Statt dessen begann er einen Angriff auf den Millionärsbunker zu planen. Wahrscheinlich war das Arsenal der Predator Saints noch zum größten Teil intakt: Kulturen von Krankheitserregern, chemische Waffen, vielleicht sogar ein oder zwei Atomsprengköpfe. Je länger er darüber nachdachte, desto stärker wurde seine Versuchung, die ganze Kolonie in die Luft zu jagen. Das würde ihm eine Menge Ärger ersparen.
In der nächsten Vollmondnacht durfte er an einem Opfer teilnehmen. Die Regenzeit stand bevor, und man mußte die Regengötter mit dem Tod von vier Kindern besänftigen. Die Kinder wurden mit Pilzen in einen Drogenrausch versetzt, mit Schmuck aus Feuerstein und Jade behängt und in reich bestickte Roben gehüllt. Man blies ihnen Pfeffer in die Augen, um die dem Regenzauber angemessenen Tränen hervorzubringen, und eskortierte sie zum Rande des Katafalks. Trommeln und Flöten und ein Wechselgesang mischten sich mit dem Licht von Mond und Fackeln zu einer äußerst hypnotischen Stimmung, in welcher sich die Gläubigen bewegten. Die Luft roch nach Kopal-Räucherstäbchen, und der Geruch erschien den geschärften Sinnen des Spitzels dick wie alter Käse. Er ließ sich von der Menge aufsaugen, und es fühlte sich wundervoll an. Es war seit langer Zeit das erste Mal, daß ihm etwas wirklich Spaß machte.
Eine hochrangige Priesterin, die zahllose Armringe und einen hohen, federbesetzten Kopfputz trug, schritt langsam an der vordersten Reihe der Menge entlang und verteilte mit einer großen Kelle fermentierte Pulque aus einem Krug. Der Spitzel schob sich nach vorn, um seinen Anteil zu bekommen.
Die Priesterin kam ihm seltsam vor. Zuerst dachte er, sie wäre nur durch psychedelische Drogen abgedreht, doch ihre Augen waren völlig klar. Sie bot ihm die Kelle an, und als er ihre Fingerspitzen berührte, blickte sie ihm ins Gesicht und kreischte. Plötzlich wußte er, was nicht stimmte. »Eugenia«, keuchte er. Auch sie war Spionin.
Sie ging auf ihn los. An den Nahkampftechniken der Spione war nichts Elegantes. Die klassischen Kampfkünste, deren Hauptakzent auf Gelassenheit und Kontrolle lag, kamen für nur halb bewußte Agenten sowieso nicht in Frage. Statt dessen übernahmen tief verwurzelte Konditionierungen die Kontrolle und verwandelten sie in kreischende, krallende, von Adrenalin aufgeputschte Irre, die für Schmerzen unempfindlich waren.
Der Spitzel bekam hysterische Mordgelüste. Widerstand zu leisten und zu kämpfen bedeutete seinen sicheren Tod; seine einzige Hoffnung war es, in der Menge zu verschwinden. Doch als er den Angriff der Frau abwehrte, hatten ihn schon kräftige Hände gepackt. Er machte sich knurrend frei, sprang rückwärts auf den breiten Rand des heiligen Brunnens, wandte sich um und machte Bestandsaufnahme: Fackeln, gräßliche Angst, ein irres Gesicht, die Federhelme näherkommender Krieger, das Knattern automatischer Gewehre, keine Zeit für rationale Entscheidungen. Also reine Intuition. Er drehte sich um und warf sich mit dem Kopf voran in die breite, feuchte, dunkle Öffnung des heiligen Brunnens.
Das Wasser traf ihn wie ein Schock. Er trieb auf dem Rücken und rieb sich das Gesicht, das vom Aufprall brannte. Im Wasser trieben lange Algenfäden. Ein Fisch knabberte unter seinem Baumwollumhang an seinem nackten Bein. Er wußte sehr genau, was das Tier fraß. Er betrachtete die Brunnenwände. Keine Hoffnung – sie waren glatt wie Glas, so glatt, als wären sie mit Laserstrahlen geschnitten oder mit einer Brandbombe geschmolzen worden.
Die Zeit verging. Eine weiße Gestalt stürzte herab und klatschte flach mit dem Bauch aufs Wasser. Das geopferte Kind war sofort tot.
Etwas packte seinen Fuß und zog ihn unter Wasser.
Wasser drang in seine Nase. Er war zu sehr mit Husten beschäftigt, um sich freizukämpfen. Er wurde in die Dunkelheit hinabgezogen. Wasser drang in seine Lungen, und er verlor das Bewußtsein.
Der Spitzel erwachte in einem Korsett und blickte zu einer beigen, keimfreien, weißen Decke hinauf. Er lag in einem Krankenhausbett. Er bewegte den Kopf auf dem Kissen und bemerkte, daß man ihm den Skalp rasiert hatte.
Links neben ihm registrierte ein uralter Monitor Pulsschlag und Atmung. Er fühlte sich schrecklich. Er wartete darauf, daß sein Computer etwas flüsterte und bemerkte, daß er weg war. Doch statt über den Verlust zu trauern, fühlte er sich irgendwie widerwärtig ganz. Sein Gehirn schmerzte wie ein stark überladener Magen.
Von rechts kam ein schwaches, rauhes Atmen. Er drehte den Kopf und sah nach. Auf einem Wasserbett lag ein runzliger, nackter alter Mann, der wie ein Cyborg oder wie eine Meduse an lebenserhaltende Maschinen angeschlossen war. Ein paar farblose Haarlocken klebten einsam auf dem altersfleckigen Skalp des Greises, und das eingesunkene Gesicht mit der scharfgeschnittenen Nase sprach von lange vergessenen Grausamkeiten … Ein EEG registrierte ein paar Spitzen komatöser Deltawellen aus dem Kleinhirn. Es war John Augustus Owens.
Er hörte das Geräusch von Sandalen auf Stein. Es war die Spionin. »Willkommen auf der Hazienda Maya, Eugene.«
Er regte sich schwach in seiner Zwangsjacke und versuchte, ihre Schwingungen aufzunehmen. Es war, als versuchte er, in Luft zu schwimmen. Mit wachsender Panik erkannte er, daß seine Empathie nicht mehr funktionierte. »Was, zum Teufel …«
»Sie sind wieder heil, Eugene. Fühlt sich seltsam an, was? Nachdem Sie solange Jahre die Müllkippe für die Gefühle anderer Menschen waren? Können Sie sich noch an Ihren richtigen Namen erinnern? Das ist der wichtige erste Schritt. Versuchen Sie es!«
»Sie sind eine Verräterin.« Sein Kopf wog zehn Tonnen. Er sank aufs Kissen zurück und fühlte sich zu benommen um seine Indiskretion zu bedauern. Einige Fetzen seiner Agentenausbildung sagten ihm, er müßte ihr schmeicheln …
»Mein richtiger Name«, sagte sie nüchtern, »war Anatolya Zhukova, und ich wurde von der Breschnewograd-Zaibatsu zur Korrekturerziehung verurteilt … auch Sie waren ein Dissident oder ein sogenannter Krimineller, bevor der Schleier Ihnen Ihre Persönlichkeit nahm. Die meisten unserer Spitzenleute hier stammen aus dem Orbit, Eugene. Wir sind nicht die dummen Anhänger eines Erdkultes, die wir euch glauben machen. Übrigens, wer hat Sie angeheuert? Die Yamato Corporation? Fleisher S.A.?«
»Verschwenden Sie nicht Ihre Zeit.«
Sie lächelte. »Sie werden schon zu sich kommen. Sie sind jetzt ein Mensch, und die Resurgence ist die größte Hoffnung der Menschheit. Schauen Sie.«
Sie hob eine Glasflasche. In einem gelblichen Plasma schwebte ein hauchdünner, bewölkter Film. Er schien sich zu winden. »Das haben wir aus Ihrem Kopf geholt, Eugene.«
Er keuchte. »Der Schleier.«
»Ja, der Schleier. Er ist lange genug auf Ihren Gehirnwindungen geritten, hat Sie zerbrochen und Sie wachsweich gemacht. Er hat Ihnen Ihre Persönlichkeit geraubt. Sie waren nichts weiter als ein Psychopath in einem Korsett.«
Er schloß betäubt die Augen. Sie fuhr fort: »Wir verstehen hier etwas von der Technik des Schleiers, Eugene. Wir benutzen ihn manchmal selbst bei Menschen, die geopfert werden sollen. Sie dürfen aus dem Brunnen wieder auftauchen, nachdem sie von den Göttern berührt wurden. Unruhestifter werden auf göttliche Weise in Heilige verwandelt. Das paßt gut zur alten Mayatradition der Trepanation; ein großer Triumph der Sozialarbeit. Die Leute hier sind sehr kompetent, sie haben es geschafft, mich zu fangen, ohne mehr als Gerüchte über den Spitzelapparat gehört zu haben.«
»Haben Sie auch versucht, sie hochzunehmen?«
»Ja. Sie haben mich lebendig gefangen und mich überzeugt. Und sogar ohne den Schleier ist mein Wahrnehmungsvermögen gut genug, um einen Spitzel zu erkennen, wenn ich einen sehe.« Wieder lächelte sie. »Ich habe meinen Wahnsinn nur vorgetäuscht, als ich Sie angriff. Ich wußte nur, daß Sie um jeden Preis aufgehalten werden mußten.«
»Ich hätte Sie in Stücke reißen können.«
»In diesem Augenblick, ja. Aber Sie sind jetzt aus Ihrer manischen Phase heraus, und wir haben Ihre eingepflanzten Waffen beseitigt. Geklonte Bakterienstämme, die Schizophreniegifte in Ihren Nervenbahnen produzieren. Veränderte Schweißdrüsen, die Emotional-Hormone absondern. Gräßlich! Aber jetzt sind Sie in Sicherheit. Sie sind nicht mehr und nicht weniger als ein normales menschliches Wesen.«
Er machte eine innerliche Bestandsaufnahme. Sein Gehirn fühlte sich an, als gehörte es einem Dinosaurier. »Fühlen sich die Menschen wirklich so?«
Sie berührte seine Wange. »Sie haben noch gar nicht zu fühlen begonnen. Warten Sie, bis Sie eine Weile mit uns gelebt haben und die Pläne kennen, die wir in Fortsetzung der Traditionen der Predator Saints gemacht haben …«
Sie blickte voller Verehrung zu der von Maschinen am Leben erhaltenen Leiche auf der anderen Seite des Raumes. »Überbevölkerung, Eugene – die hat uns ruiniert. Die Saints hatten die moralische Verantwortung des Genozids auf sich genommen. Nun hat die Resurgence die Herausforderung angenommen, eine stabile Gesellschaft aufzubauen – ohne die menschenunwürdige Technologie, die immer und unweigerlich gegen uns verwendet wurde. Die Maya hatten eine völlig richtige Idee – eine sozial stabile Zivilisation, ekstatische Vereinigung mit der Gottheit und eine klare Vorstellung über die Wertlosigkeit des menschlichen Lebens. Sie sind einfach nur nicht weit genug gegangen. Sie haben nicht genug Menschen getötet, um ihre Bevölkerung in Schach zu halten. Mit einigen kleinen Veränderungen der Maya-Theologie haben wir das System ins Gleichgewicht gebracht. Und es ist ein Gleichgewicht, das die Synthesis um Jahrhunderte überdauern wird.«
»Glauben Sie wirklich, mit Faustkeilen bewaffnete Primitive könnten über die industrialisierte Welt triumphieren?«
Sie sah ihn mitfühlend an. »Seien Sie nicht so naiv. Die Industrie gehört im Grunde in den Weltraum, wo es genug Platz und Rohstoffe gibt, und nicht in eine Biosphäre. Die Zaibatsu sind der Erde auf allen wichtigen Gebieten bereits um Jahre voraus. Die irdischen Industriekartelle haben kaum Energie und müssen den größten Teil ihrer Mittel in die Beseitigung des Chaos stecken, das sie geerbt haben. Sie sind nicht einmal mehr in der Lage, wirkungsvolle Industriespionage zu betreiben. Und die Resurgence-Elite ist bis an die Zähne mit den Waffen und dem spirituellen Erbe der Predator Saints gerüstet. John Augustus Owens schmolz den Opferbrunnen von Tikal mit einer kleinen Neutronenbombe auf. Wir haben Lager voller Bikomponenten-Nervengas aus dem zwanzigsten Jahrhundert, das wir, wenn wir Lust hätten, nach Washington, Kyoto oder Kiew schmuggeln könnten … Nein, solange die Elite existiert, kann die Synthesis es nicht wagen, uns offen anzugreifen – und wir haben die Absicht, diese Gesellschaft auch weiterhin zu beschützen, bis ihre Rivalen in den Weltraum vertrieben sind, wohin sie gehören. Und nun können Sie und ich, wir zwei zusammen, die Drohung des paradigmatischen Angriffes bald abwenden.«
»Weitere werden kommen«, sagte er.
»Wir konnten bisher jeden Angriff gegen uns abwenden. Die Menschen wollen wirklich leben, Eugene – sie wollen fühlen und atmen und lieben und einfach einen Wert als Menschen haben. Sie wollen mehr sein als Fliegen in einem cybernetischen Netz. Sie wollen etwas Realeres als die hohlen Freuden und den Luxus einer Zaibatsu-Konservenwelt. Hören Sie gut zu, Eugene! Ich bin der einzige Mensch, der je den Schleier der Agenten angelegt hat und danach zur Menschheit zurückgekehrt ist, um ein denkendes, fühlendes, wirkliches Leben zu führen. Wir zwei sind aus dem gleichen Holz, wir verstehen uns.«
Der Spion dachte lange darüber nach. Es war erschreckend und bizarr, rational und ganz selbständig zu denken, ohne einen Computer zum Ordnen des Bewußtseinsstromes einzusetzen. Er hatte gar nicht gewußt, wie mühsam und schmerzvoll das Denken war. Das Gewicht dieses Bewußtseins zerdrückte die intuitiven Kräfte, die vom Schleier freigesetzt worden waren. Er sagte ungläubig: »Glauben Sie, wir könnten uns wirklich verstehen? Wir zwei ganz allein?«
»Ja«, sagte sie. »Und Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich das brauche!«
Der Spitzel regte sich in seinem Streckbett. In seinem Kopf brüllte etwas. Halb versengte Segmente seines Bewußtseins flammten auf wie angeblasene Kohlen und erwachten blakend zum Leben. »Warten Sie!« rief er. »Warten Sie!« Er hatte sich an seinen Namen erinnert, und mit dem Namen an das, was er war.
Vor dem Hauptquartier von Replicon in Washington legte sich der Schnee sachte über die genmodulierten veränderten immergrünen Pflanzen. Der Sicherheitschef lehnte sich in seinem Sessel zurück und fummelte mit seinem Lichtstift herum. »Sie haben sich verändert, Eugene.«
Der Spitzel zuckte die Achseln. »Meinen Sie meine Hautfarbe? Der Zaibatsu-Apparat kommt schon damit klar. Ich habe mich mit dieser Körperform ohnehin zu Tode gelangweilt.«
»Nein, das meine ich nicht.«
»Oh, natürlich, man hat mir den Schleier gestohlen.« Er lächelte kalt. »Also weiter. Sobald die Verräterin meine Geliebte war, konnte ich Position und Geheimcodes des Nervengaslagers aufdecken. Unmittelbar danach inszenierte ich einen Notfall und gab die chemischen Wirkstoffe innerhalb des versiegelten Bunkers frei. Dort hatten sie Zuflucht gesucht, so daß bis auf zwei alle durch ihr eigenes Ventilationssystem starben. Diese beiden jagte ich. Ich fand und erschoß sie später in der Nacht. Ob der Cyborg Owens ›gestorben‹ ist oder nicht, ist nur eine Frage der Definition.«
»Sie haben doch das Vertrauen der Frau gewonnen?«
»Nein. Das hätte zu lange gedauert. Ich habe sie einfach gefoltert, bis sie zerbrach.« Wieder lächelte er. »Jetzt kann die Synthesis dort eindringen und die Maya-Bevölkerung übernehmen wie irgendeine beliebige vorindustrielle Kultur. Ein paar Transistorradios werfen die ganze empfindliche Struktur über den Haufen wie ein Kartenhaus.«
»Wir haben Ihnen sehr zu danken«, sagte der Sicherheitschef. »Und ich beglückwünsche Sie.«
»Ersparen Sie sich das«, erwiderte der Spitzel. »Sobald ich wieder in die Schatten unter dem Schleier getreten bin, werde ich das alles sowieso vergessen. Ich werde vergessen, daß mein Name Simpson ist. Ich werde vergessen, daß ich ein Massenmörder bin, der für die Explosion der Leyland Zaibatsu und den Tod von achttausend Orbitern verantwortlich ist. Nach allen Maßstäben bin ich eine tödliche Gefahr für die Gesellschaft und verdiene es wirklich, psychisch zerstört zu werden.« Er fixierte den Mann mit einem kalten, kontrollierten und brutalen Grinsen. »Und ich gehe meiner eigenen Zerstörung froh entgegen. Denn nun habe ich das Leben auf beiden Seiten des Schleiers kennengelernt. Ich weiß jetzt ganz genau, was ich immer vermutet habe. Einfach nur ein Mensch zu sein, macht nicht genug Spaß.«
Originaltitel: ›Spook‹
Copyright © 1983 by Mercury Press, Inc.
(erstmals erschienen in »The Magazine of Fantasy & Science Fiction«,
April 1983)
Copyright © 1990 der deutschen Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jürgen Langowski