Telliamed

Monsieur Benoit de Maillet, ehemals Großkonsul Ihrer Majestät in Ägypten, jetzt im Ruhestand, stolperte am Arm seines Leibdieners Torquetil den abschüssigen Strand hinunter. Als sie den gewohnten Platz neben dem großen gestreiften Felsen erreichten, stützte de Maillet sich auf seinen Stock und schnaufte laut. Der Fußweg war schwer für einen über achtzigjährigen Mann. De Maillets Perücke saß schief, und sein kluges altes Gesicht war in unterdrücktem Schmerz verzogen.

Torquetil klappte den Campingstuhl auf. De Maillet setzte sich mit einem kurzen, erleichterten Seufzen darauf. Torcjuetil baute den Sonnenschirm auf. Er war ein gewaltiges, farbenprächtiges Abschiedsgeschenk des Sultans von Ägypten, auf das de Maillet besonders stolz war. Der Diener setzte einen Weidenkorb mit Vorräten neben die geschwollenen Knie des alten Philosophen. »Sonst noch etwas, Monsieur?«

»Laß den Wagenmeister kommen und die Federung untersuchen, wenn du zurückgehst«, sagte de Maillet energisch. Er öffnete seinen Weidenkorb und zog eine schwarz getönte Brille heraus. Er setzte sich mühsam wieder aufrecht und legte eine Hand an die Seite seines beachtlichen Schmerbauches. »Und sag dem Koch, daß ich keine Currygerichte mehr will!«

»Sehr wohl, Monsieur.« Der junge Bretone eilte den Hang zum Wagen hinauf.

De Maillet balancierte die Brille auf seiner großen, fleischigen Nase. Er suchte im Korb nach einem Brief und erbrach das Wachssiegel mit dem Daumen.

 

 

Pont Gardeau, Surinam

12. Februar 1737

 

An Herrn Benoit de Maillet

Großkonsul und bevollmächtigter Gesandter im Ruhestand in Marseille.

 

Mein lieber Herr:

Bitte verzeihen Sie mir meine abscheuliche Handschrift, die, wie ich weiß, fast so schlimm ist wie die Ihre. Es scheint, als wäre mein Sekretär einer der vielen Malariaarten zum Opfer gefallen, die es in dieser verseuchten Gegend gibt. Ohne die Hilfe dieses unersetzlichen jungen Mannes befinden sich meine Studien der Naturreligionen in einem bedauernswerten Zustand. Auch ich selbst fühle mich nicht so gut wie sonst, aber es ist nichts Ernstes. Ich glaube, keiner von uns kann von sich behaupten, heute noch die Kraft zu besitzen, über die wir damals in Ägypten verfügten.

Ich bedaure, daß ich Ihnen leider nicht die Steinproben senden kann, um die Sie mich baten; die letzten Monate verbrachte ich flußaufwärts im Landesinneren, wo ich demütig für die Verbreitung des vollkommenen Glaubens Ihrer Katholischen Majestät kämpfte. In dieser Zeit sammelte ich eine ganze Reihe sehr eigenartiger Würmer und Insekten, mit denen ich hoffentlich das pedantische System des ungläubigen Linne durcheinanderbringen kann.

Die Eingeborenen im Landesinneren beharren störrisch auf ihren heidnischen Irrtümern, doch gibt es eine Fülle bemerkenswerter Geschichten über Menschen mit Schwänzen, uralte Riesen und so weiter, die ich Ihnen gern übermitteln will, sobald ich die Sprache dieser Menschen beherrsche.

Aber nun muß ich Sie schelten. Ein Freund von mir in der Royal Society of London, ein Kollege, der ebenfalls auf dem Feld der Naturreligion arbeitet (wenn er auch bedauernswerterweise ein Protestant ist) erzählte mir, er habe eine gewisse Handschrift gelesen, die insgeheim unter den Weisen Frankreichs zirkuliere. Ihr Name laute Telliamed – Gedanken über die Verkleinerung des Meeres. Er war voller Lob für dieses Manuskript, was, da er ein Ungläubiger ist, Ihrem Ruf nicht gerade zum Vorteil gereicht. Sie brauchen gar nicht zu protestieren und Ihre Unschuld zu beteuern; jedes Kind kann sehen, daß der vermeintliche indische Weise mit Namen Telliamed, der dieses neue System der Geologie erläutert, seinen Namen dadurch erhielt, daß der Ihre rückwärts geschrieben wurde.

Vielleicht wird das Meer wirklich kleiner; dies zu leugnen fiele mir schwer, denn auch ich habe die versteinerten Schiffe von Bahar-Balaama westlich von Kairo mitten in der Wüste gesehen. Doch sollte dies nicht als Einwand gegen die Offenbarung verstanden werden. Als Ihr geistlicher Ratgeber muß ich Sie warnen, alter Freund: Sie sind zu alt, um die sehr wichtige Angelegenheit der Rettung Ihrer Seele noch lange aufzuschieben. Am Ende muß der Glaube triumphieren, und kein sophistischer ›Beweis‹, keine ›Hypothesen‹ oder ›Schlußfolgerungen‹ können Sie jemals retten, wenn Sie sich am Tag des Jüngsten Gerichts rechtfertigen müssen.

Es sollte mir gar nicht gefallen, wenn die Sammlungen von Steinen und Fossilien, die ich Ihnen schickte, für einen gottlosen Zweck verwendet würden. Dennoch will ich Ihnen ein Geschenk überlassen; und da ich Ihre Vorliebe für das Schnupfen kenne, schicke ich Ihnen etwas Schnupftabak der Eingeborenen, den sie aus einer Reihe eigenartiger Büsche und Ranken gewinnen. Es ist kein richtiger Tabak, aber nach seinem Genuß nehmen Sie das Wort Gottes bereitwilliger, voller freudiger Erregung und Frohlocken auf; deshalb kann ich nicht glauben, daß es etwas Schlechtes sei. Ich schicke Ihnen das kleine Schnupfgerät aus Vogelknochen mit, mit welchem die Leute die Substanz inhalieren, damit Sie es in Ihre Sammlung aufnehmen können.

Als Gegenleistung bitte ich Sie, ein paar Kerzen für den Seelenfrieden des armen Bérard Procureur abzubrennen; und bitte versuchen Sie, regelmäßig zur Beichte zu gehen. Ich bete für Sie und verbleibe

 

Ihr alter Freund

Fr. Gérard le Bovier de Fuillet, S.J.

 

 

De Maillet lächelte. »Es ist gar nicht schlecht, wenn der Beichtvater in einem anderen Land lebt«, grübelte er laut. Er zog aus dem schweren Umschlag eine zweite, kleinere Hülle, in der etwas raschelte. Er löste die zugeklebte Klappe, und vom Schnupftabak im Paket stieg ihm ein angenehmer, leicht bitterer Duft nach exotischen Kräutern in die Nase.

Der Geruch löste in de Maillets Kopf eine Kette von Erinnerungen aus: Kegel von schwarzem Weihrauch, die in einer perforierten Silberschale glühten, dunkler Kaffee in einer Porzellantasse, der nackte Oberkörper einer ägyptischen Kurtisane auf einem Brokatkissen. Zusammen mit diesen ungerufenen und angenehmen Erinnerungen entstand in de Maillets Bauch plötzlich ein behagliches, sehr entspanntes Gefühl. Einen Moment lang fühlte er sich beinahe animalisch wohl, ein warmes Aufflackern der schon zu Asche verzehrten Kohle der Jugend.

Sein Arzt hatte ihm Schnupftabak verboten. Es war schon einige Monate her, daß er seine Nasenlöcher zum letzten Mal anständig gefüllt hatte. Er schielte vorsichtig in das Papierpäckchen. Die feingemahlenen Blätter sahen völlig harmlos aus. Er befingerte den leichten, hohlen Vogelknochen, schob ihn ins Päckchen und schnupfte herzhaft.

»Au!« rief er, indem er auf die Füße sprang. Seine Brille flog in den Sand. De Maillet hüpfte fluchend um den Pfahl des Sonnenschirms. Aus seinen alten Augen quollen Tränen. Der heidnische Schnupftabak hatte seine Schleimhäute gestochen wie eine zornige Wespe; es schmerzte so sehr, daß er nicht einmal mehr niesen konnte. Er drückte eine altersfleckige, ledrige Hand vor Augen und Wangen.

Allmählich wich der Schmerz einer eigenartigen Taubheit, die nicht ganz unangenehm war. De Maillet richtete sich auf, dann bückte er sich, um seinen Spazierstock mit dem Silberkopf und seine Brille aufzuheben. Es war schon lange her, daß er sich das letzte Mal so mühelos gebückt hatte. Er setzte sich ohne zu schnaufen auf den Campingstuhl.

Er bemerkte interessiert, daß seine Sinne geschärft schienen. Wenn er das glatte Elfenbein seines Stocks betastete, schien es ihm, als hätte er ihn noch nie wirklich in der Hand gehabt. Selbst sein Augenlicht schien verbessert. Der blaue Sommerhimmel über dem kristallenen Mittelmeer schien zu schimmern, als wäre er gerade erst erschaffen worden. Jedes Sandkörnchen auf seinen silberbeschlagenen Stiefeln trat deutlich hervor, als wollte es zusammen mit den anderen auf dem schwarzen Leder ein winziges Sternbild formen.

Er zog gerade in Betracht, auch seinem zweiten Nasenloch eine Prise zu gönnen, als er einen jungen Städter sah, der aus einem felsigeren Bereich der Küste auf ihn zugerannt kam. Es gab hier eine ganze Anzahl verschwiegener Buchten und Höhlen, in welche die jungen Galane aus Marseille ihre Geliebten oder jene jungen Frauen entführten, mit denen sie ein solches Verhältnis zu beginnen wünschten. Der Fremde war ein hübscher Kerl, dem Aussehen nach ein Händler, mit einem von Windpocken leicht entstellten Gesicht.

»Habt Ihr einen Hilfeschrei gehört?« verlangte der junge Mann zu wissen, indem er im breiten Schatten unter de Maillets Sonnenschirm stehenblieb.

»Mein Wort«, sagte de Maillet peinlich berührt. »Ich fürchte, ich selbst habe gerufen. Ich habe … äh … manchmal Schwierigkeiten mit meinem Rheumatismus. Ich wußte nicht, daß jemand in Hörweite war.«

»Nein, Ihr könnt es nicht gewesen sein, mein Herr«, erwiderte der junge Mann ganz sachlich, während er seinen Hemdschoß in die Hose steckte. »Auf den Schrei folgte ein Schwall höchst schrecklicher Flüche, die in einer fremden Sprache ausgerufen wurden. Meine Begleiterin ängstigte sich so sehr, daß sie auf der Stelle floh.«

»Oh«, sagte de Maillet. Plötzlich mußte er lächeln. »Nun, vielleicht war es eine Gruppe von Seeleuten. Meine Augen sind nicht mehr die besten. Vielleicht habe ich sie übersehen.«

Der junge Mann grinste. »Ach, dann ist es gut. Frauen wollen, nachdem es sein natürliches Ende gefunden hat, ein Rendezvous gern noch verlängern.« Sein Blick fiel auf de Maillets Gehstock, ein Geschenk der Stadtväter von Marseille. »Vergebt mir«, sagte der junge Mann. »Seid Ihr nicht der Herr de Maillet, der berühmte Wissenschaftler?«

De Maillet lächelte. »Ihr wißt doch, daß ich es bin. Ihr habt gerade meinen Namen vom Stock abgelesen.«

»Unfug«, widersprach der junge Händler heftig. »Jeder weiß auch so, wer Monsieur de Maillet ist. Marseille verdankt Euch seinen Wohlstand. Mein Vater ist Jean Martine von der Martine Oriental Import-Export Company. Ich bin sein ältester Sohn, Jean Martine der Jüngere.« Er verneigte sich. »Er hat oft von Euch gesprochen. Meine Familie ist Euch zu großen Dank verpflichtet.«

»Ja, ich glaube, ich kenne Euren Vater«, sagte de Maillet großmütig. Er liebte es, wenn man ihm schmeichelte. »Er handelt mit ägyptischen Waren, nicht wahr? Pech, Antiquitäten und so weiter.« De Maillet zuckte mit jener Gleichgültigkeit, die Aristokraten so gern an den Tag legen, die Achseln.

»Genau der«, sagte Martine. »Wir hatten einige Male die Ehre, Euer Exzellenz mit Kuriositäten für Euer berühmtes Kabinett von Naturwundern zu beliefern.« Er zögerte. »Ohne aufdringlich sein zu wollen, Euer Exzellenz, ich bin doch erstaunt, Sie hier an diesem verlassenen Strand allein anzutreffen.«

De Maillet blickte dem Händler ins offene, arglose Gesicht und spürte den natürlichen Drang des Alten und Gelehrten und Geschwätzigen, einen Jüngeren aufzuklären. »Das hat mit meinem System zu tun«, sagte er. »Mein Lebenswerk im Bereich der Naturphilosophie, auf welches sich ein großer Teil meines posthumen Ruhmes stützen wird. Viele Jahre lang habe ich auf meinen Reisen Meeresufer erforscht und die Geschichte der Welt studiert, wie sie von den Felsen offenbart wird. Ich bin der Ansicht, daß der Meeresspiegel fällt, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die ich bei etwa drei Fuß pro Jahrtausend ansiedeln würde. Ich habe in meinem Leben zahllose Beweise für dieses Absinken gefunden, und ich glaube es ohne den Schatten eines Zweifels bewiesen zu haben.«

»Sehr bemerkenswert«, sagte Martine langsam. »Aber Sie sitzen doch gewiß nicht hier, um dem Meeresspiegel beim Fallen zuzusehen.«

»Nein«, sagte de Maillet, »aber bei schönem Wetter komme ich oft hierher, um über die alten Zeiten nachzudenken, meine Aufzeichnungen und Tagebücher durchzusehen und die Kette meiner Schlußfolgerungen zu erweitern.

Wenn Sie zum Beispiel einräumen wollen, daß die Meere kleiner werden, dann folgt daraus unmittelbar, daß es einst eine Zeit gegeben haben muß, vor vielen Jahrtausenden, in welcher die ganze Erde vom Meer bedeckt war. Und dies läßt sich tatsächlich recht einfach beweisen. Ich habe die Sammlung von Herrn Scheuchzer in Zürich gesehen; diese Sammlung enthält zahlreiche versteinerte Fische, die glaubwürdige Männer aus den Steinen der schweizerischen Berge schlugen. In den Schriften des Wissenschaftlers Fulgose finden wir sogar die Geschichte eines ganzen Schiffes, das zusammen mit Segeln, Tauwerk und Anker und den Knochen von vierzig Besatzungsmitgliedern etwa hundert Faden tief in einer Erzmine im Kanton von Bern gefunden wurde. Herodot beschreibt eiserne Ringe, wie sie zum Festmachen von Schiffen benutzt wurden, die hoch droben in den Bergen von Mokatan in der Nähe von Memphis gefunden wurden. Wie sonst könnten wir diese Fossilien erklären, wenn nicht durch die Annahme, daß es einst ein Meer gegeben haben muß, das diese Berge überdeckte?«

De Maillet stach seinen Stock in den Sand. »Daraus folgt nun, daß das Leben sich aus dem Meer erhoben haben muß, und daß einst, als es noch kein Land gab, Geschöpfe wie Seeschlangen, Seeaffen, Seehunde und Seelöwen in den Tiefen umhergeschwärmt sein müssen. Und ebenso muß die Pflanzenwelt des Landes aus Seetrauben, Seesalat und Seemoos entstanden sein.«

»Ich finde das äußerst beunruhigend«, erwiderte der junge Mann. »Denn was ist mit den Menschen? Glauben Sie, daß auch die Menschen aus dem Meer entstanden sind?«

»Wohl wahr, es ist beunruhigend«, sagte de Maillet. »Aber die Beweise, junger Mann; man kann die Beweise nicht ignorieren. Ich muß zugeben, daß ich noch nie Seemenschen gesehen habe. Aber ich habe die Knochen von Riesen gesehen. Vor dreißig Jahren sah ich im Steinbruch von Cap Coronne, nur ein paar Meilen von hier, die Knochen eines Riesen, der, im Stein eingeschlossen, auf dem Rücken lag. Wenn Sie einmal ein solches Wunder mit eigenen Augen erblickt haben, fällt es Ihnen leicht, Ihre Zweifel beseitezuschieben …« Ein seltsames Gefühl kroch de Maillets Wirbelsäule herauf. Er schloß die Augen und spürte unter seinen Schuhsohlen ein eigenartiges Zittern, als hätten sich die Eingeweide der Welt geregt. Als er mit einem zunehmenden Schwindelgefühl die Augen öffnete, bemerkte er ein sehr eigenartiges Phänomen, das er jedoch sofort als optische Täuschung abtat. Es war, als hätte die Hand Gottes eine Scheibe aus gefärbtem Glas vor den Horizont gestellt. Und dann war diese mächtige Scheibe oder diese Mauer aus einem unsichtbaren Stoff aus der Ferne herangerast und an ihm vorbeigezogen. Es war, als hätte diese formlose Wand die tiefsten Tiefen des Meeres durchkämmt, als sei sie durch das Wesen der Erde selbst geglitten, ohne bei ihrem Durchgang auch nur ein leichtes Gekräusel zu hinterlassen, und doch schien nach ihrem Verschwinden alles irgendwie verändert. Er fühlte sich anders, irgendwie angerührt, und spürte ein seltsames Kitzeln, wie er es manchmal kurz vor Gewittern erlebt hatte. Eine seltsame kühle Brise wehte stetig vom Meer herüber. De Maillet hatte den Eindruck, daß dieser Luftstrom den leicht fauligen Geruch frisch aufgeworfener Erde mit sich trug, der von den untermeerischen Tiefen der Welt aufstieg.

Er betrachtete den jungen Mann, der zu seinen Füßen im Sand saß. In dem Händlersohn war irgendeine tiefgreifende, subtile Veränderung vor sich gegangen. Er musterte de Maillet kühn und spekulierend, als wollte er die ganze Welt kaufen und sei bereit, de Maillet als Anzahlung anzubieten. De Maillet sagte schwach: »Habt Ihr nicht gesehen …«

»Was gesehen, Euer Exzellenz?«

»Ein gewisser … ein Blitz, eine Art Wind? Nein? Nein, natürlich nicht.« De Maillet schauderte. »Wo waren wir?«

»Euer Exzellenz haben von Meermenschen gesprochen.«

»Meermenschen.« Obwohl es eins seiner Lieblingsthemen war, klang das Wort in de Maillets Ohren plötzlich seltsam, als sei es in einem einzigen Augenblick um Jahrtausende gealtert, und als sei es jetzt nur noch eine verstaubte, völlig lächerliche Erinnerung aus einer fernen Vergangenheit. Hatte er wirklich einmal an Meermenschen und Meerjungfrauen geglaubt? Doch, er mußte an sie geglaubt haben, denn er hatte ihnen in seinem Meisterwerk ein ganzes Unterkapitel gewidmet.

»Ah, ja, Meermenschen. Ich habe noch nie einen gesehen, aber ich habe viele Hinweise von Autoren gesammelt, deren Glaubwürdigkeit außer Zweifel steht. Die Berichte von alten Autoren wie Plinius, der von flötespielenden Dreizackträgern schreibt, müssen wir wohl aussondern; sie waren allzu leichtgläubig.

Also lassen wir die Altweibergeschichten beiseite und halten uns streng an die Tatsachen. Ich habe die Werke von al-Qaswini, dem berühmten arabischen Schriftsteller, im Original gelesen. In seiner Erzählung von den Reisen Salims, des Gesandten Kalif Vatheks von den Abassiden, erwähnt er die Fahrt eines Fischerbootes auf dem Kaspischen Meer, bei welcher eine Meerjungfrau wohlbehalten aus dem Bauch eines riesigen Fisches gerettet wurde. Sie war nicht halb Fisch und halb Frau, wie man allgemein irrtümlich glaubt, sondern eine richtige Frau. Nachdem sie vom Wasser getrennt war, schluchzte sie und raufte sich die Haare, doch sie vermochte keine menschlichen Worte auszusprechen. Dies war im Jahr der Hegira 288 oder im Jahr 842 unserer Zeitrechnung.

Im Jahr 1430, nach einer großen Flut in der Zuidersee, wurde im Schlamm hinter den Deichen eine Meerjungfrau gefangen. Die guten Frauen von Edam lehrten sie, sich anzukleiden, zu spinnen und das Zeichen des Kreuzes zu machen, womit die Fähigkeiten der Bewohner dieses recht dummen Landes auch schon ziemlich erschöpft waren … später in ihrem Leben versuchte sie mehrmals, zum Wasser zurückzukehren, doch ihre Lungen hatten sich an das Atmen von Luft gewöhnt, und sie konnte es nicht mehr. Genauso war es zweifellos bei unseren fernen Vorfahren, die sich aus dem Meer erhoben und die ersten emporgestiegenen Inseln besiedelten. Nach einer Weile stellten sie fest, daß sie nicht zurückkehren konnten. Ich glaube, daß dies sogar heute noch geschieht. Ich habe die Berichte von wilden Menschen gelesen, von den Orang Utans in Niederländisch-Ostindien, die mit Haar bedeckt sind und die menschliche Sprache nicht sprechen können. Offenbar haben sie noch bis vor kurzer Zeit im Meer gelebt.

Hin und wieder findet man sogar in Europa Menschen mit Schwänzen. Eine Kurtisane, die ich in Pisa kannte, erzählte mir von einem ihrer Geliebten, der so stark wie mehrere gewöhnliche Männer gewesen sei und schwarzes, dichtes Körperhaar und einen fellbedeckten Schwanz gehabt habe. Zweifellos existiert irgendwo in den uns verschlossenen Tiefen des Meeres eine Rasse geschwänzter Meermenschen. Hin und wieder müssen neue Rassen und Arten aus dem Meer kriechen; wie sonst könnten wir die Flora und Fauna abgelegener Inseln erklären? Doch niemand hat je ein solches Auftauchen beobachtet. Aber wer hat auch schon geduldig Jahr um Jahr das Ufer beobachtet, genau wissend, worauf er achten muß?«

»Ich glaube, niemand außer Euer Exzellenz könnte besser dazu qualifiziert sein«, sagte Martine. »Ist dies also der Grund für Eure Wache? Erwartet Ihr, daß ein Ungeheuer aus dem Meer steigt?«

De Maillet lächelte traurig. »Nein, natürlich nicht. Die Chancen, daß ich wirklich einmal Zeuge eines solchen Ereignisses werde, sind unendlich klein, aber was soll ich tun? Meine Beine sind zu schwach und zu gichtig, um in Klippen und Steinbrüchen herumzuspringen, wie ich es in meiner Jugend tat. Jetzt habe ich nur noch meine Augen und meinen Kopf. Selbst wenn in diesem Moment ein Meermensch auftauchen sollte, wäre ich nicht fähig, ihn zu fangen oder zu überwältigen. Aber wenn ich einen sähe, dann wäre ich wenigstens meines Systems sicher – sicherer, als ich es heute bin, obwohl ich in langen Jahren so viele Beweise gesammelt habe. Dann könnte ich im Bewußtsein sterben, daß die Geschichte mich bestätigen wird.«

Er blickte sehnsüchtig zum Wasser hinaus. »Angenommen, man sieht in diesem Augenblick eine seltsame Bewegung in den Wellen, die unter diesem Wind so seltsam rollen und wogen. Angenommen, man sieht etwas Schaum, der sich dreht und rotiert – ja, genau, wie er es jetzt gerade tut, nur schneller. Er wird schneller, unverwechselbar!« De Maillet stand mühsam auf und deutete mit seinem Stock aufs Meer. »Mein Gott, schaut nur!«

Der junge Mann starrte zum Meer hinaus. »Ich sehe nichts …«

»Benutzt Eure Augen, Narr! Seht Ihr nicht, wie sich dieser Wirbel immer schneller dreht und weiter ausbreitet? Am Rand glitzert der Schaum wie Diamanten, und das Wasser ist grün wie … wie alte Bronze oder chinesische Jade oder wie der Glanz eines Insekts in Bernstein oder … oder …« Die Worte verloren sich unter dem plötzlichen Ansturm der Bilder in einem Murmeln. De Maillet deutete benommen mit dem Stock aufs Meer. Der junge Mann betrachtete de Maillet, dann wieder das Meer, dann wieder de Maillet. Plötzlich drehte er sich um und rannte Hals über Kopf über den Strand davon.

De Maillet ignorierte den fliehenden jungen Mann und machte zwei unsichere Schritte auf die Erscheinung zu. Am Rand des schäumenden Wirbels jagten sich halb durchscheinende Phantome im Kreis herum, immer rundherum um die Mitte des Wirbels in einem Durcheinander von Schichten und Schleiern. Einige Phantome holten sich gegenseitig ein; andere, dunklere Geister bewegten sich träge, als wären sie von ungesunden Gasen der Erde vergiftet; und wieder andere, mit wehendem Haar und rollenden Augen, stießen zuckende Windböen aus den Mündern. Ihr Aussehen und ihre Bewegungen zeigten, daß sie bewußtlose Dinge waren, bloße Dienstboten und Herolde des Geschöpfes, das noch kommen würde.

Immer mehr Luftgeister wurden von irrsinnigen Wirbeln des jadegrünen Mahlstroms ausgespuckt; zuerst bloße Schaumkleckse, doch dann, während sie in Kreisen hochflogen, nahmen sie Gestalt an und verdichteten sich vor de Maillets erstaunten Augen zu einer langsam kreisenden Säule unirdischer Wesen. Wie eine brodelnde Wolke hetzten sie über den völlig leeren Himmel.

Aus den Tiefen des Mahlstromes stach ein trübgrüner Lichtbalken hervor, und ein neues Wesen, weiblich und erheblich größer als die anderen, begann aus dem Kern des Wirbels aufzusteigen. Sie erhob sich langsam und majestätisch vom Meeresgrund und drehte sich wie ein verzückter Derwisch um sich selbst: Eine Dunkle Frau, deren Haut die Farbe von Schiefer hatte, und deren schwarzes, feuchtes Haar wie nasser, klebriger Tang oder Seegras aussah. Sie war nackt, doch sie verbarg die geheimen Teile ihres Körpers mit einer vor die Brust gelegten Hand und einer geringelten Masse von Haar, das bis zu ihrer Hüfte hinunterfiel. Als sich ihre Knie und Fesseln über den Wasserspiegel erhoben, wurde der Wirbel langsamer und verschwand schließlich, bis ihre nackten Füße auftauchten, die in den Perlmuttschalen einer gewaltigen Muschel steckten.

Beeindruckt von der Majestät dieser dunklen Riesin ließ de Maillet sich unter Schmerzen auf ein Knie fallen. Die Dunkle Frau öffnete die Augen; sie waren von der gleichen Farbe wie das Wasser des Wirbels, ein uraltes, dunkles Grün.

Zwei der Windgeister gaben der Dunklen Frau einen langen Mantel oder einen Schleier, den sie aus ihren eigenen, unfaßbaren Körpern woben. Als der Schleier ihre dunklen Schultern berührte, bekam er gleichzeitig Gewicht und Substanz und verwandelte sich wie durch Zauberhand in einen Umhang, der mit beängstigenden Symbolen bestickt war: Greife, der Vogel Rock, Kraken, einäugige Ungeheuer und andere Fabelwesen.

Die geschwungenen Lippen der Dunklen Frau öffneten sich ein wenig. »Ich grüße dich, Philosoph.«

Als er hörte, daß sie ihn kannte, verschwand de Maillets Erstaunen wie durch Zauberhand, und sein Herz war sogleich wieder von seinem alten, störrischen Mut erfüllt. Er kam mit Hilfe seines Stocks auf die Füße und brachte eine steife, höfliche Verbeugung zustande. »Ich wünsche Euer Hoheit einen guten Tag«, sagte er.