VIERTER HÖLLENKREIS

GEIZIGE UND VERSCHWENDER

»Im Geben und im Nehmen ohne Maß, verloren sie das Schönste, und nun zanken sie hier sich derart, daß ich’s nicht mehr schildre. Betrachte dir, mein Sohn, den kurzen Spaß der irdschen Güter in Fortunas Hand, um die das menschliche Geschlecht sich rauft. Denn alles Gold, das unterm Monde liegt und jemals lag, kann von den Müden allen nicht einer Seele ihre Ruhe schaffen.«


DANTE, Die Göttliche Komödie,
»Hölle«, Siebenter Gesang

2 0 . DEZEMBER

Am Ufer des Hudson, im Norden Manhattans
23:04 Uhr
(8 Stunden und 59 Minuten vor dem prophezeiten Ende der Tage)


Patrick Shepherd schlug die Augen auf. Der Hagel aus menschlichen Körperteilen hatte aufgehört. Die Wolkendecke über ihm war an einigen Stellen aufgerissen, sodass man den Sternenhimmel sehen konnte.

»Geht es dir gut, mein Sohn? Du bist plötzlich in Ohnmacht gefallen.«

Er sah hoch zu Virgil. Der alte Mann kniete neben ihm. »Was ist passiert?«

»Irgendetwas hat den Frachtkahn zerstört, wahrscheinlich eine Drohne. Bei der Explosion musst du das Bewusstsein verloren haben.«

»All diese Menschen …«

»Sie sind so gestorben, wie sie gelebt haben: ausschließlich um sich selbst kreisend.«

Die Erinnerungen strömten auf Shep ein. »Virgil, ich habe ihn gesehen. Er stand am Ufer, nur wenige Augenblicke vor der Explosion.«

»Wen hast du gesehen?«

»Den Todesengel. Den Sensenmann. Den düsteren Schnitter. Er folgt mir, seit ich mit dem Hubschrauber abgestürzt bin.«

»Beruhige dich.«

»Der Impfstoff hat nichts damit zu tun, Virgil. Das ist keine Halluzination. Du musst mir glauben.«

»Ich glaube dir.«

Patrick sah den Blick in den Augen des alten Mannes. »Auch du hast ihn schon gesehen, nicht wahr?«

»Nicht heute Nacht, nein. Aber die Seelen der Bösen rufen nach ihm. Wir müssen uns beeilen, wenn wir deine Familie finden wollen. Kannst du gehen?«

Patrick stand auf. Ihm war schwindlig. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte. Er konnte sich kaum noch an seinen Namen erinnern. Er sah sich um und hatte Mühe, sich zu orientieren.

Das Ufer war von schwelendem Müll und den sterblichen Überresten der Getöteten bedeckt. Arme, Beine, Rümpfe und andere Körperteile waren keinem Menschen mehr zuzuordnen und fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.

Im Süden war die Skyline Manhattans vollkommen dunkel. Vor dem Horizont sahen die Umrisse der Gebäude wie ein fremdartiger Gebirgszug aus. Der Stadtteil unmittelbar im Osten wurde von vereinzelten orangefarbenen Lichtern erhellt, doch da er höher lag als das Ufer des Hudson, war es schwierig zu erkennen, woher dieses Leuchten kam. Um wieder in die Stadt zu gelangen, würden sie noch einmal das Gewirr von Highway-Überführungen und Zufahrtsstraßen überwinden müssen – eine Aufgabe, die fast nicht zu schaffen schien.

»Virgil, ich glaube nicht, dass ich genügend Energie habe, um noch einmal einen Highway-Zubringer hochzuklettern. «

»Ich kenne einen besseren Weg.« Virgil reichte ihm das polierte Holzkästchen. »Vergiss das nicht. Deine Familie wird es brauchen.«

Virgil hielt Patrick bei seinem rechten Ellbogen und führte ihn zurück in Richtung Henry Hudson Parkway und zu einem Fußweg, der den Riverside Drive West kreuzte.


Chinatown, Manhattan, New York
23:09 Uhr


Thumpa … thumpa … thumpa.

Das rhythmische Klopfen schien kein Ende zu nehmen und lockte ihr Bewusstsein durch die Dunkelheit in Richtung Licht, wie ein Fisch auf einen Wurm zuschwimmt, der vor ihm durchs Wasser schwebt.

Thumpa … thumpa … thumpa.

Wie ärgerlich … Lasst mich doch einfach schlafen.

Gavi Kantor öffnete die Augen. Noch immer war sie halb im Delirium verloren.

Eine nackte Glühbirne. Eine primitive Matratze. Der schwere Geruch nach Sex. Menschen, die unverständlich durcheinanderredeten.

Thumpa … thumpa … thumpa.

Wie ein fasziniertes Kätzchen starrte sie den durchsichtigen, über ihrem Kopf hängenden Infusionsbeutel an, von dem ein Schlauch zu ihrem Unterarm führte, während ihr benommener Geist sich bemühte, wieder in der Wirklichkeit Tritt zu fassen. Als es ihr schließlich gelang, brachte sie nur ein Stöhnen zustande.

»Hilfe. Kann mir bitte jemand helfen … Hallo?«

Ihre eigenen Worte hallten in ihrem Kopf hohl und verzerrt wider. Sie versuchte, sich aufzusetzen, und spürte dann, dass sie an Hand-und Fußgelenken gefesselt war.

In diesem Augenblick zerbrach ihr Traum, und ihre Gefangenschaft wurde ihr so schlagartig bewusst, dass das Gewicht dieser Erkenntnis wie eine zusätzliche Schwerkraft wirkte, die ihr das Blut aus dem Gesicht weichen ließ. Sie begann zu hyperventilieren und stieß mit rauer Stimme einen verängstigten Schrei aus: »Oh mein Gott … oh mein Gott … Hilfe! Helft mir!«

Weinend warf sie sich hin und her, bis die Frau sich zeigte, die sie gefangen hielt.

Die Mexikanerin war Mitte fünfzig. An der Rückseite ihrer Arme vibrierten die Fettpolster, als sie mit kühlem Blick das Elixier in Gavis Infusionsbeutel injizierte und die Menge neu einstellte, die über den Schlauch abgegeben wurde. »Schlaf noch ein wenig, chuleta. Wir werden uns gleich um dich kümmern.«

Das Thumpa … Thumpa … Thumpa der Industriewaschmaschine verklang in der Dunkelheit, als die Dreizehnjährige erneut in die Tiefen der Bewusstlosigkeit zurücksank.


Governor’s Island, New York
23:17 Uhr


Der MH-60G Pave Hawk schwebte über dem Hafen von New York, nachdem er sich an die Flugverbotszone über dem Hudson gehalten hatte und von New Jersey aus einen Umweg geflogen war. Der Kampfhubschrauber, der mittelschwere Lasten transportieren konnte, war mit zwei GAU-2B-Maschinengewehren ausgestattet, die parallel zu den vorderen Seitenfenstern montiert waren, sowie mit zwei Maschinengewehren Kaliber .50, die sich unmittelbar hinter den beiden Schiebetüren der Kabine befanden. Pilot, Copilot und Bordingenieur saßen im Cockpit, acht schwer bewaffnete US Army Rangers im Bereich dahinter. Mit ihnen flog ein erschöpfter und etwas eingeschüchterter Arzt der Reserve.

David Kantor fühlte sich wie ein leichtgewichtiger Field Goal Kicker mitten unter gigantischen Linemen. Sein Magen drohte zu rebellieren, als die Maschine einen scharfen Bogen flog, in schwindelerregendem Tempo sank und hart auf dem Boden aufsetzte. Die Ranger überprüften methodisch ihre Ausrüstung und verließen den Hubschrauber, noch bevor die beiden Motoren vollständig zum Stillstand kamen.

David blieb alleine in der Kabine sitzen. Er schloss die Augen und versuchte, sich mental auf das Kommende vorzubereiten. Warum bin ich hier? Es muss einen Grund dafür geben. Er zwang seine Beinmuskeln dazu, sich zu bewegen, stand auf und sprang hinaus auf den gefrorenen Rasen.

Ein Militärpolizist in einem Jeep gab ihm ein Zeichen. »Captain Kantor, kommen Sie bitte mit mir.«

David kletterte in das Fahrzeug und hielt sich am Sitz fest, als der Jeep beschleunigte, über den Rasen und schließlich über die einspurige Brücke fuhr, die über einen Graben in die Hafenfestung führte.

Die alte, rechteckige Anlage von Fort Jay war in einen modernen Kommandoposten mit allen technischen Einrichtungen des 21. Jahrhunderts umgewandelt worden. Mehrere Reihen von Generatoren und ein scheinbar endloses Gewirr von Starkstromkabeln zogen sich kreuz und quer über das Gelände und lieferten die Energie für mobile Arbeitsstationen mit Computerkonsolen und Satellitenschüsseln. Der Militärpolizist führte David in eine der vier Unterkünfte aus Backstein, die von transportablen Lampen erhellt und mit Kerosinöfen beheizt wurden. In der Mitte des Raums befand sich ein Pingpongtisch, auf dem eine zwei mal drei Meter große Karte von Manhattan ausgebreitet war.

Der befehlshabende Offizier war ein großer Mann, der einen orangefarbenen Racal-Schutzanzug trug, dessen Oberteil er um seine Hüfte gebunden hatte. Mit heiserer Stimme schrie er ins Telefon. »Nein, Sie hören mir zu! Bei einer Quarantäne der Sicherheitsstufe 4 gibt es keine Ausnahmen. Ich geb keinen Rattenarsch auf die Vereinbarungen, die der Senator getroffen hat.« Die Gesichtsfarbe des Mannes wechselte von Rot zu Purpur. »Es ist mir egal, ob Ihre ›bedeutende Persönlichkeit‹ der König von Siam ist! Und wenn Sie noch einmal versuchen, mir in die Quere zu kommen, fliege ich persönlich runter nach D. C., werfe Sie und den Senator in einen Apache-Kampfhubschrauber und setze Ihre beiden Ärsche mitten auf dem Times Square ab, haben Sie das kapiert, Sie Schwachkopf?«

Der befehlshabende Offizier knallte den Telefonhörer auf die Gabel. »Vollidiot.«

Der Militärpolizist zögerte. »Entschuldigen Sie, Sir. Ich habe wie befohlen Captain Kantor hierhergebracht.«

Der große Mann sah auf. »Wen?«

»David Kantor, Sir. Wir haben ihn von New Jersey hergeflogen. Dr. Nelsons Patient …«

»Den Mediziner, richtig. Entschuldigen Sie.« Der Offizier wandte sich an David. »Jay Zwawa. Willkommen im Fegefeuer. Hat Colonel Hamilton Sie informiert?«

»Nein, Sir. Mir wurde nur mitgeteilt, dass meine Dienste für etwas Besonderes benötigt würden.«

»Wenn Sie mit etwas Besonderes meinen, dass es darum geht, das Leben unseres Präsidenten und das mehrerer Hundert Diplomaten zu retten, während wir gleichzeitig versuchen, eine globale Pandemie zu verhindern – dann haben Sie recht. Dann würde ich auch sagen, dass es um etwas Besonderes geht.« Zwawa entließ den Militärpolizisten und reichte David eine Akte. »Der Mann, hinter dem wir her sind, hat es geschafft, sich den einzig bekannten Impfstoff gegen eine biologische Waffe zu besorgen, die bereits die Hälfte der Bevölkerung Manhattans infiziert und nach unseren letzten Schätzungen gut vierhunderttausend Menschen getötet hat. Außerdem ist der meistgesuchte Mann der Welt ein Freund von Ihnen.«

David öffnete die Akte und starrte auf ein Foto, das drei Jahre zuvor an einem Sicherheits-Checkpoint in der von Amerikanern kontrollierten Grünen Zone im Irak aufgenommen worden war. »Shep? Sie sind hinter Shep her?«

Zwawa gab einem weiteren Militärpolizisten ein Zeichen. Der MP führte eine zierliche Brünette durch den Raum, deren Oberkörper von einem Army-Parka geradezu verschluckt wurde. »Dr. Leigh Nelson. Dr. David Kantor. Berichten Sie Kantor von Ihrem Patienten. «

»Vor sieben Stunden ist Patrick bei einer unnötig gewalttätigen Militärinvasion des VA Hospitals in Manhattan an Bord eines Rettungshubschraubers entkommen. Kurz darauf musste er mit einem Kästchen voller Pest-Impfstoff im Inwood Hill Park notlanden. Ich bin davon überzeugt, dass er Manhattan in Richtung Süden durchquert und in die Battery will.«

»Warum? Was ist in der Battery?«

»Seine Frau und seine Tochter.«

David legte die Akte zurück auf den Tisch. Seine Gedanken rasten. »Hat Shep Ihnen gesagt, dass sich seine Familie in der Battery befindet?«

»Genau genommen, nein. Ich habe erst vor ein paar Stunden herausgefunden, wo sie sich aufhält.«

»Kantor, wir schicken ein Zugriffsteam nach Manhattan, aber wir können nicht riskieren, dass Ihr Kumpel ausflippt und den Impfstoff vernichtet. Captain, hören Sie mir zu?«

David sah auf. »Sie wollen, dass ich mich Ihrem Zugriffsteam anschließe, um Shep zu finden.«

»Im Wesentlichen, ja.«

»Und was ist, wenn sich seine Frau und seine Tochter nicht mehr in Manhattan befinden? Was ist, wenn sie die Stadt bereits verlassen haben?«

»Er glaubt, dass die beiden in der Battery sind, und nur darauf kommt es an. Wir wissen, dass er heute bereits versucht hat, mit seiner Frau Kontakt aufzunehmen. Wir wollen den Impfstoff, nicht Ihren Freund.«

David ging um den Tisch und trat an das Ende der Karte, das die Südspitze der Insel zeigte. Er sah hinab auf Battery Park City. Das ist ganz in der Nähe von Gavis Schule. Du darfst nicht zu beflissen wirken. Zwing ihn, einen Handel einzugehen.

»Ich bin einverstanden, aber unter einer Bedingung. Keine Einsätze mehr. Keine Vertretungen oder Reserve-übungen. Und ich möchte meine Entlassungspapiere sofort, oder ich gehe nirgendwohin.«

»Abgemacht. Dr. Nelson, wie wäre es, wenn Sie unserem Jungen ein paar Sandwiches aus dem Verpflegungszelt holen würden, während wir ihm eine passende Splitterweste besorgen?«



Finanzdistrikt, Manhattan, New York
23:22 Uhr


Es begann mit Kopfschmerzen, mit einem dumpfen Pochen, dem ein entnervender purpurfarbener Fleck vor den Augen folgte. Dann kamen die Kälteschauer, die dem Fieber vorangingen. Der Knoten beseitigte die letzten Zweifel – eine kleine, rötliche Schwiele von der Größe eines Vierteldollars, die sich über einer Lymphdrüse nach außen wölbte, vielleicht am Hals oder in der Achselhöhle, vielleicht in der Leistenbeuge. Nach zwei Stunden wurde die Schwiele zu einer beunruhigenden purpurfarbenen Traube, die vor Eiter und Blut anschwoll. Im Körper tobte das Fieber, die Augen wurden glasig. Der Schweiß war ungewöhnlich dick und strömte einen unverwechselbaren Gestank aus. Das Gesicht wurde umso bleicher, je schwärzer die Beulen wurden, die bis auf die Größe einer kleinen Zwiebel heranwuchsen und den Schwarzen Tod in den Blutkreislauf strömen ließen.

Übelkeit erfüllte den Betroffenen. Der Würgreflex schüttelte das Opfer, und es erbrach seine letzte Mahlzeit, vermischt mit Blut. Zähne und Lippen wurden fleckig, doch die Eitelkeit war vergessen, da es jetzt nur noch um Schmerzen ging. Die Qual drang bis in die Knochen. Die Muskeln taten weh. Die inneren Organe versagten. Die vierte Stunde brach an, und es war keine Erleichterung in Sicht … nur der Tod.

Das Ende begann in den Zehen und Füßen als eine Empfindung eisiger Kälte. Das Taubheitsgefühl drang langsam die Beine hinauf bis in die Lenden. Die Eingeweide funktionierten nicht mehr. Der Schließmuskel öffnete sich, und der Darm entleerte sich – eine letzte Erniedrigung für den Kranken. Ein reflexartiges Zucken schnitt den letzten Atemzug des Opfers ab, während die kalte Hand des Todes sein Herz umklammerte.

Die Seele verließ den Körper. Sie verharrte noch eine Weile an Ort und Stelle, aber nur kurz, denn gleich darauf schwebte sie davon, angezogen vom Licht und dessen warmer, tröstender Geborgenheit.

Auch die Pest verließ den Körper, denn ihre DNS war darauf programmiert, ein neues Opfer zu suchen. Es war alles so einfach. Ein Schweißtropfen. Ein unvermeidliches Niesen oder Husten, ein Hauch vergifteten Atems, ein blutiges Handtuch in einem Mülleimer. Auf Sauberkeit zu achten wurde nebensächlich, wenn Trauer einen überwältigte. In einer Dreizimmerwohnung in einem zehnstöckigen Wohnhaus war es unmöglich, sich zu isolieren.

Grauenvolle Klarheit erfüllte das Denken der Überlebenden nach dem Tod des ersten Familienmitglieds, von dem nur ein ansteckender Haufen Fleisch übrig blieb, den man beseitigen musste – und zwar unverzüglich und mit kühlem Kopf.

Ein Schrank? Der Gestank war zu überwältigend. Der Flur? Was würden die Nachbarn sagen?

Scythe in Manhattan war wie der Untergang der Titanic, nur ohne ein einziges Rettungsboot. Es würde keine Wunder geben, nur eine neue Dosis Realität nach der anderen: Der Tod kam immer näher …

… und Flucht war unmöglich.


Shelby Morrison saß im Wohnzimmer auf dem Boden, nippte an ihrem vierten Bier und starrte die Duftkerze an, die auf dem Couchtisch brannte. Der Onkel ihrer Freundin saß am Fenster. Rich Goodman unterrichtete Chemie in der Highschool. Seine Frau Laurie war zusammen mit ihren beiden kleinen Kindern im Elternschlafzimmer.

Jamie Rumson hielt sich im Gästezimmer auf. Sie erbrach sich stöhnend.

Rich Goodman zweifelte nicht daran, dass seine Nichte im Sterben lag. Wie Zunder brannte eine einzige Frage in seinem Kopf: Wie viele Mitglieder seiner Familie würde sie mit sich in den Tod reißen?

Die Antwort lautete: alle. Es sei denn, es gelang ihm, kühl und entschlossen zu handeln. Und genau das war das Dilemma, denn worin bestand der Preis des Überlebens? Der Preis ist meine Seele … um meine Familie zu retten. Tu es jetzt, bevor du immer weiter hin und her überlegst … Die Freundin zuerst.

Rich Goodman griff nach dem Kerzenhalter aus Bronze, blies die Flamme aus und schlug Shelby Morrison damit heftig auf den Hinterkopf. Der Schädel brach mit einem ekelerregenden Knacken. Die Dreizehnjährige prallte mit der Stirn gegen den Tisch, bevor ihr Körper wie ein totes Gewicht in sich zusammensackte. Eine dunkle Blutlache breitete sich auf dem Linoleumboden aus, die wie verschütteter Pfannkuchensirup wirkte. Ein scharfkantiger Knochensplitter ließ das Blut aus der Wunde schießen wie Wasser aus dem Blasloch eines Wals, sodass es auf Goodmans linke Wange und seinen Pullover spritzte.

Goodman riss sich das Kleidungsstück vom Leib und wusch sich im Küchenbereich das Gesicht mit Spülmittel und Wasser. Dann trat er über das Mädchen hinweg ans Küchenfenster. Rasend vor Wut kämpfte er anderthalb Minuten mit der doppelten Verriegelung, bis er schließlich jeden der beiden Griffe nacheinander mit beiden Händen packte und es ihm gelang, das eingefrorene Fenster zu öffnen.

Ein arktischer Wind fuhr in die Wohnung und blies die noch brennenden Kerzen aus.

Goodman zerrte Shelbys Leiche vom Boden hoch, während das Blut von allen Seiten herabtropfte. Halb schob, halb warf er die Leiche mit dem Kopf voran durchs Fenster, doch ihr Rumpf balancierte für einen prekären Augenblick auf dem Sims. Also packte er das Mädchen bei den Knöcheln und schleuderte es kaltblütig aus dem offenen Fenster der Wohnung.

Zehn Stockwerke. Mit einem erschreckenden dumpfen Aufschlag landete der Körper auf dem Bürgersteig.

Goodman trat einen Schritt zurück. Er zitterte, doch zugleich kam es ihm so vor, als habe er eine große Leistung vollbracht. Seine Schuhe rutschten quietschend durch das Blut, während sein krimineller Geist immer mächtiger wurde und er sich mit rasender Geschwindigkeit zu verstehen bemühte, was er da eigentlich gerade getan hatte. Wisch zuerst das Blut auf. Nein, nein. Mach das, nachdem du Jamie aus dem Fenster geworfen hast. Dann mach alles sauber, geh mit einem Bleichmittel drüber und räuchere die Wohnung aus. Handschuhe … Du wirst Handschuhe und einen Atemschutz brauchen.

Goodman kramte im Fach unter der Spüle herum, bis er ein Paar Gummihandschuhe und einen kleinen Stapel einfacher Schutzmasken aus Stoff gefunden hatte. Masken wie diese hatte er zum letzten Mal vor sechs Jahren benutzt, als er die Küche neu gestrichen hatte. Er schüttete flüssiges Bleichmittel über die Handschuhe und ging ins Gästezimmer – wobei er das unangenehme Gefühl in seinen Eingeweiden ebenso ignorierte wie das Fieber, das sich in seinen Adern zusammenbraute.



Washington Heights, Manhattan, New York
00:03 Uhr


Sie waren dem Riverside Drive mehrere Kilometer weit gefolgt, und angesichts der Klagelaute und der Schreie der Sterbenden, die aus den Stadtvierteln im Osten durch die Nacht zu ihnen herüberklangen, besaß ihr Schweigen eine ganz eigentümliche Schwere.

Die chaotischen Laute menschlichen Leids zerrten an Patricks Nerven. Erinnerungsfragmente blitzten vor seinem geistigen Auge auf, und jedes dieser Bilder war mit einer besonderen Empfindung verbunden, die damals bezeichnend für den jeweiligen Moment gewesen war.

Das Fegefeuer von Fort Drum. Endloses Training. Brennender Hass. Wie Schwefel.

Der Einsatzbefehl. Das Transportflugzeug. Die Hitze der Wüste in Kuwait. Seine Verärgerung, als sie wie Schafe in Zelte zusammengetrieben wurden.

Die erste Nacht. Luftalarm. Scud-Raketen. Das Rumfummeln an seiner Gasmaske. Zwei weitere Male Alarm. Kein Schlaf, kein Essen, nur Getränke. Seine Schutzweste, seine Gasmaske und fast vierzig Grad im Schatten. Die Schlacht eine tödliche Sauna. Verwirrung, als sein Körper nicht mehr mitspielt. Angst, als die Sanitäter ihm die Weste herunterreißen und seinen Körper mit Flüssigkeit versorgen.

Bagdad. Die Stille, die von einer feuernden AK-47 zerrissen wird, deren Kugeln ganz in der Nähe einschlagen. Willkommen an der Front, Grünschnabel. 155-Millimeter-Granaten, die einen bis auf die Knochen durchschütteln. Das Klingeln in den Ohren. Weißer Phosphor, Öl und das Brennen in der Nase.

Blut, das aus dem Körper eines verwundeten Kameraden strömt. Er stirbt, während Shep versucht, das tödliche Loch in der Brust zu verbinden. Eine irakische Mutter, die ihre Kinder umklammert … Die Kleinen haben beide Arme verloren … Ein Mann, der seine abgeschlachtete Frau in den Armen hält … Ein Kind, das sich an seiner leblosen Mutter festhält. Die Politiker werden niemals zulassen, dass seine Landsleute diesen Krieg so sehen, wie er ist. Diese Realität würde die Leute auf die Straße treiben und einen Friedensschluss erzwingen.

Für den neu angekommenen Soldaten verdrängt die Erfahrung der Schlacht den Hass und ersetzt ihn durch Zweifel, sie verdrängt den Patriotismus und ersetzt ihn durch Fragen.

Seine Heimat ist eine Million Kilometer entfernt, die Schlacht ist eine Insel aus Einsamkeit, Angst und Verwirrung – Verwirrung angesichts der Fragen nach Recht und Unrecht, Gut und Böse. Jeder Augenblick, der vergeht, verändert das moralische Empfinden. Am Ende werden die Regeln ganz einfach: Wenn du wieder nach Hause kommen willst, musst du überleben.

Um zu überleben, musst du töten.

Das Dorf liegt am Euphrat. Die Bevölkerung besteht größtenteils aus Bauern, von denen die meisten noch nie zuvor einen Amerikaner gesehen haben. Der Mann und sein Sohn stürmen auf Patrick zu, ihre Absichten sind so undurchschaubar wie die Worte, die sie ihm auf Farsi zurufen. Er gibt ihnen durch Gesten zu verstehen, dass sie stehen bleiben sollen, doch die beiden ignorieren diese unzureichende Übersetzung seiner Absichten. Die Entfernung verringert sich immer mehr, und die Gefahr einer versteckten Bombe wird immer größer, als er in ihren Tötungsbereich gerät.

In einem Feuerstoß schießt heißes Blei aus seiner Waffe. Der Vater stürzt zu Boden.

Der Sohn – er ist höchstens neun – kniet ungläubig neben seinem ermordeten Vater nieder, nur langsam begreift er, was gerade geschehen ist … und dieses Begreifen wird zu rasender Wut. Der irakische Junge stürmt auf den fremden Eroberer los, der ihm den Vater und damit vielleicht sogar alles, was er noch an Familie besaß, genommen hat – und das im Namen eines Auftrags, den er unmöglich begreifen kann.

Das Leben wird in einem einzigen Augenblick empfangen, und das Leben endet in einem einzigen Augenblick. Die Nähe des Jungen definiert ihn als Bedrohung. Die Regeln des Überlebens sind einfach.

Patrick erschießt den Jungen und vereint ihn mit seinem Vater.

Die Zeit vergeht in einem Vakuum. Wahrscheinlich erleben Tiere die Dinge auf ähnliche Art. Shep hat sich in ein primitiv grunzendes Geschöpf verwandelt, in ein Werkzeug des militärischen Establishments, von dem man zwar Gebrauch macht, das jedoch von der Presse nie interviewt werden wird. Das man sieht, das jedoch nie eine eigene Stimme erhält. Der Tag wird zur Nacht, die Träume von einem besseren Leben verwandeln sich nach und nach in Albträume, die der Seele das Eingeständnis ihrer Verantwortlichkeit abverlangen. Alle Gedanken kreisen um das eigene Überleben – was die oberen Ränge schon immer beabsichtigt hatten. Kreativität wird ebenso beiseitegewischt wie das Gesicht der eigenen Frau und die Gedanken an das Kind, das er nie wieder in seinen Armen halten wird – eine Beziehung, die abrupt beendet wird, kaum dass sie begonnen hat.

Die Landschaft verändert sich. Der erste Einsatz ist vorüber. Zwei Wochen, um das Gift aus den Adern zu bekommen, um wieder vorgeben zu können, Patrick Shepherd zu sein, und dann ist er zurück in Boston …

… allein.

Das Stadthaus ist kalt und leer. Seine Frau und seine Tochter haben es schon lange verlassen. Es gibt keinen Abschiedsbrief, doch der Soldat kennt die Geschichte bereits: Das Elend, das er gesät hat, muss er jetzt ernten.

Die Wirklichkeit stürmt auf ihn ein, der Schmerz zerreißt sein Herz. An irgendeinem Ort lächeln die Seelen Hunderttausender getöteter Iraker, als die wirkliche Qual beginnt.

Er versucht, sich aus eigener Kraft zu heilen. Freunde besuchen ihn, der Patrick Shepherd jedoch, den sie einst kannten, ist tot. Die Red Sox fragen bei ihm an, aber das Bild des neun Jahre alten Jungen schiebt sich dazwischen. Er verkauft das Haus und zieht in ein übles Viertel, nur um seine Ruhe zu haben.

Uncle Sam findet ihn acht Monate später. Man hat ihn in der Hölle vermisst.

Einsatz Nummer zwei beginnt


»Patrick, mach die Augen auf! Patrick, sieh mich an. Kannst du mich hören?«

»Virgil?«

»Du warst völlig benommen. Du hattest wieder Halluzinationen, nicht wahr?«

Heiße Tränen strömten aus seinen Augen.

»Patrick?«

»Ich … kann nicht. Tut mir leid. Gehen wir einfach weiter.«

»Mein Sohn, du kannst nicht vor deinem eigenen Kopf davonlaufen.«

»Nein! Aber man spricht nicht darüber. Man kommt einfach irgendwie damit zurecht. Man kommt irgendwie damit zurecht und macht weiter.«

»Aber du hast nicht weitergemacht. Deine Familie hat weitergemacht und ist gegangen. Du nicht.«

Shep ignorierte den alten Mann und ging auf dem Riverside Drive weiter in Richtung Süden.

»Hör auf, das Opfer zu spielen, Patrick. Opfer sind wie Würmer. Sie ziehen es vor, ihr Leben unter einem Felsen zu verbringen. Es ist einfacher in der Dunkelheit. «

»Vielleicht ist die Dunkelheit ja genau das, was ich verdiene.«

»So spricht ein wahres Opfer.«

»Lass mich in Ruhe, Seelenklempner.«

»Wenn du das wirklich willst, können wir uns auf der Stelle trennen. Deine Seelengefährtin war davon überzeugt, dass du der Welt immer noch etwas Positives zu geben hast. Ich vermute, sie hat sich geirrt.«

Die Worte trafen ihn schwer. »Hat sie das wirklich gesagt? «

»Das ist der einzige Grund, warum ich hier bin.«

Shep wandte sich dem alten Mann zu. Durch seine Tränen konnte er ihn nur verschwommen sehen. »Ich habe ein Kind umgebracht. Es war nicht weiter von mir entfernt, als du in diesem Augenblick von mir entfernt bist. Es war ein Junge. Ich habe ihn erschossen. Gleich nachdem ich seinen Vater erschossen hatte.« Shep wischte sich die Nase ab. »Ich bin kein Opfer. Ich bin ein Mörder. Wie kann ich meine Seele jemals von dieser Tat reinigen?«

»Du beginnst am besten damit, dass du Verantwortung für deine Taten übernimmst.«

»Bist du taub, alter Mann? Hast du nicht gehört, was ich gerade gesagt habe?«

»Was ich gehört habe, war eine Beichte. Schuldgefühl und Selbstverachtung werden dir nicht helfen, mein Sohn. Wenn du dich wirklich verändern willst, wenn du das Licht in dein Leben zurückbringen willst, dann musst du für deine Taten Verantwortung übernehmen. «

»Wie denn? Indem ich für den Rest meines Lebens zur Beichte gehe? Indem ich mit einem Seelenklempner spreche?«

»Nein. Du übernimmst dadurch Verantwortung, dass du dich nicht in den Schmerz zurückziehst wie in eine Art Exil, sondern dich aus einer Wirkung in eine Ursache verwandelst und eine positive Veränderung in das Leben anderer bringst. Du trägst die Kraft, zu geben, zu teilen, zu lieben, fürsorglich und großzügig zu sein, in dir. Ganz egal, was du getan hast – das Gute ist immer noch in dir.«

»Du begreifst es einfach nicht. Genau deshalb, weil ich eine positive Veränderung in das Leben anderer bringen wollte, bin ich überhaupt zur Armee gegangen. Ich habe alles geopfert – meine Familie, meine Karriere, Ruhm und Geld –, um ein Unrecht wiedergutzumachen. Um mein Land zu schützen!«

»Ein rechtschaffener Mann, umgeben vom Chaos, korrumpiert von seiner Umgebung.«

»Genau.«

»Vielleicht hättest du eine Arche bauen sollen.«

»Ja. Moment mal … Hast du Arche gesagt?«

»Kennst du etwa die Geschichte von Noah nicht? Noah war ein rechtschaffener Mann, der in einer Zeit großer Verderbtheit geboren wurde. Er musste sich in seinem Leben schwierigen Herausforderungen stellen, sowohl in seinem eigenen Herzen als auch in der äußeren Welt. Genau wie du. Noah war keineswegs perfekt, doch er lebte in einer Welt, die so durch und durch von Habgier – dem maßlosen Verlangen nach Reichtümern – verdorben war, dass er sich trotz seiner Unvollkommenheit von all den Menschen um ihn herum abhob. In der Genesis werden diese anderen Menschen die nephilim genannt, die gefallenen Engel, Menschen von hohem Ansehen, Riesen. Wenn wir die entsprechenden Abschnitte der Genesis deuten, erhalten wir ein klareres Bild. Für die einfachen Menschen waren sie Riesen, aber nicht in körperlicher Hinsicht, sondern was ihren Einfluss betraf. Sie waren das Äquivalent jener Makler der Macht, die die Wall Street und Washington korrumpiert haben und Angst und Krieg dazu benutzen, um noch reicher zu werden. Das Kennzeichen ihrer Arroganz bestand darin, dass sie dachten, sie bewegten sich auf einer höheren Ebene der Existenz. Ein unstillbarer Durst nach Macht und Besitztümern trieb sie an, und ihre Herrschaft verdarb die Menschen. Die physische Welt wurde ein sehr dunkler Ort, der des Lichts des Schöpfers beraubt war. Und so wählte der Schöpfer das hellste Licht – nämlich Noah – und warnte ihn davor, dass Er den Menschen vom Angesicht der Erde tilgen werde, sollten sich die Dinge nicht ändern. Noah versuchte, die Menschen zur Umkehr zu bewegen, doch sie weigerten sich, auf ihn zu hören. Deshalb gab der Schöpfer Noah den Auftrag, eine Arche zu bauen, auf dass er seine Familie retten und die Welt mit einer neuen Generation bevölkern möge, deren Mitglieder die Erfüllung durch das Licht suchen würden – und zwar dergestalt, dass sie einander jene Güte erwiesen, die Gott beabsichtigt hatte.«

»Das ist eine hübsche Geschichte, und du erzählst sie wie ein echter Psychiater, aber ich bitte dich … Tiere, die sich paarweise der Reihe nach aufstellen, und eine Flut, die die ganze Welt bedeckt! Noch nie habe ich eine biblische Geschichte wörtlich genommen.«

»Die biblischen Geschichten sollten auch noch nie wörtlich genommen werden. Das gesamte Alte Testament ist eine Art Code. Jede aramäische Passage enthüllt eine entscheidende Wahrheit über die Existenz des Menschen, und diese uralte Weisheit sollte die Lebenden lehren, wie das Chaos zu überwinden ist, indem der Mensch sich durch eine neue Verbindung mit dem unendlichen Licht des Schöpfers zu verwandeln lernt.«

»Warum habe ich dann noch nie von dieser uralten Weisheit gehört?«

»Während der letzten viertausend Jahre überdauerte sie fast ausschließlich im Verborgenen. Erst jetzt, da wir uns dem Ende der Tage nähern, ist dieses Wissen für jeden erreichbar geworden.«

»Und was ist die verborgene Bedeutung in der Geschichte von Noah?«

»Mit der Beantwortung dieser Frage könnten wir mehrere Wochen zubringen. Deshalb will ich dir hier nur in groben Zügen das erklären, was einen direkten Bezug zu deiner eigenen Lage hat. Laut der codierten Weisheit bietet uns jeder Mensch, der in unser Leben tritt, eine Möglichkeit zu Wachstum, Erlösung und Erfüllung. Noah hat die Arche auf Geheiß des Schöpfers erbaut, doch er tat das, um sich an all denen zu rächen, die ihm unrecht getan hatten. Weil dies sein wahrer Antrieb war, versuchte er gar nicht erst, Gott die Erlaubnis abzuringen, irgendjemanden außer seiner eigenen Familie zu retten. Der Bau der Arche war eine Prüfung, die zeigen sollte, ob Noah zur Verwandlung bereit war. Doch Noah versagte ganz und gar, indem er die Vernichtung aller Menschen auf der Welt hinnahm und sich weigerte, den gefallenen Engeln die Möglichkeit einer Erlösung zu gewähren.

Die Geschichte Noahs spielte sich auf zwei Ebenen ab. Im malchut – das aramäische Wort bezeichnet unsere physische Welt – gab es tatsächlich eine Naturkatastrophe, die die Bevölkerung jener Region auslöschte. Auf spiritueller Ebene hingegen stand die Tatsache, dass Noah sich in die Arche begab, für das Licht der höheren Welten, das in die physische Welt eindrang – für die positive Energie, die die negative Energie vernichtete. «

»Gott hat das Böse ausgelöscht, schon klar.«

»Nein, Patrick. Der Schöpfer löscht nichts und niemanden aus. Das Licht des Schöpfers trägt ausschließlich Gutes in sich. Erst der Empfänger dieses Lichts bestimmt, was daraus wird. Stell dir Gottes Licht wie Elektrizität vor. Wenn du die richtigen Geräte mit Strom versorgst, dann setzt du sozusagen Werkzeuge in Betrieb, die dich zur Erfüllung führen. Wenn du einen nassen Finger in die Steckdose schiebst, bringt dich der Strom um. In beiden Fällen ist es dieselbe Elektrizität – genau wie es sich immer um dasselbe Licht handelt. Als Noah sich in die Arche begab, zerstörte das Licht der höheren Reiche die Negativität und die Gier, die die Erde befleckt hatten. Jene, die für ihre Mitmenschen Sorge trugen, die ihren Besitz mit anderen teilten und versuchten, sich selbst in etwas Besseres zu verwandeln, wurden verschont. Wer das nicht tat, wurde vernichtet.«

»Was wurde aus Noah?«

»Er starb. Unrein.«

»Moment mal, du hast doch gesagt …«

»Die Arche wurde gebaut, damit Noah und seiner Familie ein Schiff zur Verfügung stand, das ihnen Schutz bot, als der Todesengel kam, um die Menschheit zu zerschmettern. Die Flut währte zwölf Monate, und so hatten Noah und seine Familie Zeit genug, um den Weg der Reinigung zu gehen, während die Seelen der Bösen in die gehenna geschleudert wurden. Doch Noah beging einen letzten Fehler. Es war derselbe Fehler, den auch Adam begangen hatte. Die Frucht, die Adam in Versuchung führte, war kein Apfel, sondern eine Traube, oder vielmehr der Wein, der aus den Trauben stammt. Wein kann missbraucht werden und den Menschen mit Bewusstseinsebenen in Berührung bringen, auf denen sich eine Verbindung mit dem Licht nicht aufrechterhalten lässt. Als die Wasser der Flut sich zurückzogen, gab Noah der Versuchung nach und genoss den Saft der Weinrebe, denn er wollte Zugang zu den höheren Dimensionen finden. Noah wurde beschnitten geboren. Als sein Sohn Ham, der zukünftige Vater des Landes Kanaan, sah, wie Noah nackt und betrunken dalag, kastrierte er ihn. Deshalb hat Noah das Land Kanaan verflucht. «

»Das war schon ein bisschen heftig, findest du nicht auch?«

»Auch diese Geschichte verlangt nach einer Deutung. Aus Noah, einem rechtschaffenen Mann, war ein Opfer geworden – wenigstens glaubte er das. Er war Zeuge geworden, wie jede lebende Seele in der Welt um ihn herum gestorben war, nur seine eigene Familie nicht, doch den wahren Grund all dieses Leids hat er nie verstanden. Noahs Versagen bestand darin, dass er die Arche baute und dabei wie alle Opfer dachte, sein eigenes Leid würde seine Seele reinigen. Doch weil er nie den Schmerz der anderen fühlte, konnte er im spirituellen Sinne nicht wachsen.«

Sie folgten dem Riverside Drive in Richtung Westen. Shep war tief in Gedanken versunken. »Ich habe großes Leid verursacht, Virgil. Wie kann ich von meinen Sünden erlöst werden? Ich meine, wenn sogar jemand wie Noah alles vermasselt hat, hat dann so eine Null wie ich überhaupt eine Chance?«

»Wenn ein Mensch versucht, seine Seele von schwierigen Umständen zu reinigen, so muss er zunächst lernen, sein Herz zu öffnen.«

»Du willst damit sagen, dass ich kalt geworden bin. Gefühllos.«

»Ist das so?«

Shep dachte darüber nach, was er antworten sollte. »Manchmal ist Kälte das einzige Mittel, um zu überleben. Es gibt so viel Böses in der Welt, Virgil. Wenn man gegen Terroristen kämpft, kann man nicht ständig wie Gandhi sein.«

»Gandhi hat gesagt: ›Sei die Veränderung, die du in der Welt sehen willst.‹ Gewalt führt nur zu noch mehr Gewalt.«

»Schöne Worte, aber nicht sehr praktisch, wenn man es mit feindlichen Aufständischen zu tun hat, die darauf aus sind, Unschuldige zu töten.«

»Der Unterschied zwischen einem Aufständischen und einem Freiheitskämpfer besteht darin, auf welcher Seite man sich in einem bestimmten Augenblick gerade befindet. Für die Toten ist er in jedem Fall bedeutungslos. Das Leben ist eine Prüfung, Patrick. Noah hat diese Prüfung nicht bestanden, und seine Seele fand keinen Zugang zum unendlichen Licht des Schöpfers. Wie alle Seelen, denen es nicht gelingt, ihr tikkun zu vollenden, wurde sie auf eine weitere Mission geschickt.«

»Auf eine weitere Mission? Du sprichst von Reinkarnation? «

»Der Prozess wird als gilgul neschamot bezeichnet, was Rad der Seele bedeutet. Eine Seele steigt in die physische Welt hinab, denn sie muss dort eine Korrektur durchführen. Meist geht es dabei um eine Sünde aus einem früheren Leben. Wenn eine Seele ein Leben zu Ende lebt, ohne diese Korrektur abzuschließen, kann es sein, dass sie noch bis zu dreimal wiederkehren wird, um ihr tikkun – ihre spirituelle Reparatur – zu Ende zu bringen. Natürlich wird eine Seele für jedes neue Leben sozusagen recycelt, und sie riskiert es auch jetzt wieder, unter den Einfluss der negativen Kräfte zu geraten, die überall lauern.«

»Nur damit ich das wirklich kapiere: Du behauptest also, dass alles, was ich im Augenblick durchmache, eine Strafe für die Sünden ist, die ich in einem früheren Leben begangen habe?«

»Das ist möglich.«

»Nein, das ist verrückt. Ich habe keinerlei Erinnerung an ein früheres Leben.«

»Erinnerst du dich an jeden Augenblick deines Lebens, angefangen mit deiner Geburt und deiner frühen Kindheit?«

»Natürlich nicht.«

»Und doch hast du damals zweifellos gelebt. Wenn es um frühere Leben geht, ist dein Bewusstsein genauso begrenzt wie deine fünf Sinne, die dich in jedem so flüchtigen Augenblick betrügen. Ob du es akzeptierst oder nicht: Jede Seele, die heute in der physischen Welt lebt, hat früher schon einmal gelebt. Wer du warst, ist nicht so wichtig wie das tikkun, das du zu Ende führen musst, um deine spirituelle Verwandlung zu erreichen.«

»Na schön, in Ordnung. Nur um in dieser Diskussion weiterzukommen: Nehmen wir mal an, ich stimme dir in allem zu, was du behauptest. Was ist mein tikkun – was glaubst du?«

»Ich weiß es nicht. Häufig müssen die Dinge, die uns besonders negativ reagieren lassen, im größten Umfang korrigiert werden. Der Schmerz, den du empfindest, der Schmerz, der verhindert, dass das Licht dich erreicht – ich glaube, er hat etwas mit der Trennung von deiner Frau zu tun. Beseitige die Ursache, und du beseitigst die Wirkung.«

Sie umrundeten den Bogen des Riverside Drive und erreichten das Tor eines uralten Friedhofs.

Der Trinity-Friedhof. Zehn Hektar einer historischen Hügellandschaft über dem Hudson. Im Jahr 1776 ertrank die Erde im Blut der Briten und der Rebellen in der Schlacht von Washington Heights. 1842 verwandelte der Ausbruch von Cholera, Typhus und Pocken das Land in ein endloses Gräberfeld. Heute waren auf dem Gelände mehr als zweiunddreißigtausend Tote in engen Gräbern oder in Mausoleen beigesetzt.

Shep zögerte, den Friedhof zu betreten.

»Das ist schon in Ordnung. Der Todesengel hat kein Interesse an einem Friedhof.«

Virgil betrat den Ort zuerst. Er führte Patrick an einhundert Jahre alten Eichen vorbei, deren dicke Äste im Wind knarrten und deren knorrige Wurzeln sich durch den rissigen Asphalt des Weges drückten, der zu einer schneebedeckten Hügelkuppe aufstieg. Shep half Virgil, einen schmalen Pfad zu erklimmen, der von uralten Grabsteinen gesäumt war, die von der Vergangenheit Amerikas kündeten. John James Audubon. John Jacob Astor. John Peter Zenger.

Der Hang wurde immer steiler. Der alte Mann hatte Mühe zu atmen. »Ich muss mich ausruhen.«

»Dort drüben.« Die beiden setzten sich zusammen auf eine trockene Bank, während der Mond zwischen den Wolken hervorspähte.

»Virgil … Der Sensenmann – ist er böse?«

»Nein. Der Todesengel ist eine neutrale Kraft, deren Stärke sich nach den Menschen bemisst, die von ihr getroffen werden sollen. In der Geschichte der Menschheit gab es Zyklen der Dunkelheit, in denen Satan sehr stark geworden war, sodass das Licht des Schöpfers niemanden mehr erreichen konnte. Wenn das Böse zu viel Macht gewinnt, wenn Wollust und Habgier zu einer entfesselten Verworfenheit führen, dann beschwört die Bösartigkeit der Welt den Todesengel herauf, der über die Erde streift. Wir leben in schwierigen Zeiten, doch es mag sein, dass die dunkelsten Stunden dem größten Licht weichen werden.«

»Erzähl mir vom Holocaust. Wie hast du es geschafft zu überleben?«

»Warum ist das plötzlich so wichtig?«

»Ich weiß nicht. Etwas in mir möchte es unbedingt hören.«

Virgil schloss die Augen. Für einen langen Moment sagte er nichts. Im Mondlicht sah sein Gesicht schmerzerfüllt aus. »Wie der irakische Junge, den du glaubtest töten zu müssen, war auch ich erst neun Jahre alt, als die Nazisoldaten die Mitglieder unserer Familie aus ihren Betten zerrten und sie zusammen mit den anderen Juden unseres kleinen polnischen Dorfes zum Bahnhof trieben. Sie steckten uns in Viehwaggons … Es war so schwer zu atmen. Die Menschen kletterten übereinander, um einen einzelnen Lüftungsschlitz zu erreichen. Ich muss das Bewusstsein verloren haben, denn das Pfeifen des Zuges riss mich aus meinen Träumen, als wir unser Ziel Oświęcim erreichten – Auschwitz.

Noch immer kann ich die blendend hellen Suchscheinwerfer und die Soldaten in ihren schwarzen Uniformen und mit ihren Maschinenpistolen vor mir sehen. Die Luft war so eisig wie heute Nacht, von der Lokomotive stiegen wirbelnde Dampfschwaden auf. Durch diesen Nebel streifte ein gut gekleideter Mann. Später erfuhren wir seinen Namen: Dr. Josef Mengele.

Dies war das erste Mal, dass ich den Todesengel sah. Er trug eine weiße Robe mit Kapuze und schwebte über Mengeles linker Schulter. Er sah mich an, und dann musterte er meine Mutter und meine drei Schwestern, und jede seiner Augenhöhlen wimmelte von Dutzenden flackernder Augen – den Augen von Zeugen, Augen, die das Böse gesehen hatten.

Mengele gab mir und meinem Vater ein Zeichen. Wir wurden von den Frauen getrennt und nach rechts geführt. Die Frauen – Mütter mit kleinen Kindern, Schwestern und Töchter, Tanten und Großmütter –, sie alle wurden nach links geschickt. Ich erinnere mich, wie die Leute schrien, als die Familien getrennt wurden. Ich erinnere mich noch daran, wie eine Mutter sich weigerte, ihre wimmernde kleine Tochter auf den Arm zu nehmen, weil sie wusste, dass sie damit das Schicksal des Kindes besiegeln würde. Ich sah, wie die SS sie auf der Stelle erschoss.

Das war die letzte Nacht, in der ich meine Mutter und meine Schwestern lebend gesehen habe. Wir erfuhren später, dass man sie in die Gaskammern geführt hatte. Später, als die Krematorien gebaut wurden, wurden die Kinder direkt in die Öfen oder in offene Feuergruben geworfen. «

Shep fühlte sich elend. Er zitterte am ganzen Körper.

»Die Männer und die Jungen, die so kräftig waren, dass man sie für arbeitsfähig hielt, wurden eine umzäunte und mit Stacheldraht gesicherte Straße entlang zum Haupttor des Lagers geführt. Dort befand sich eine Inschrift: Arbeit macht frei. Doch es gab keine Freiheit in Auschwitz-Birkenau. Es gab kein Licht, nur Dunkelheit.

Jeder Morgen begann mit einem Appell und der täglichen Selektion. Wir wurden gezwungen, nackt – und manchmal stundenlang – in der Kälte zu stehen, während die Ärzte uns untersuchten und bestimmten, wer leben und wer sterben sollte. Mein Vater befahl mir, auf der Stelle zu laufen, damit meine Wangen sich röteten und alle sehen konnten, wie stark ich war. Wir erhielten Essensrationen, bei denen ein Hund verhungert wäre – ein Stück Brot, einen Schöpflöffel voll Suppe. Wenn man eine Kartoffelscheibe bekam, so war das ein guter Tag. Wir wurden zu wandelnden Knochengestellen – zu menschlichen Skeletten, an denen kein Fett mehr war und kaum noch Muskeln, und unseren Puls konnte man durch die Haut hindurch erkennen.

In meinem Mund bildeten sich Abszesse, und der ständige Hunger machte mich wahnsinnig. Eines Tages entdeckte ich einen Streifen grünen Grases. Ich aß es und wurde auf den Tod krank, der Durchfall hätte meinem Leben fast ein Ende gemacht. Unsere Kleider verfaulten. An den Füßen trugen wir Holzschuhe, in denen wir nicht schnell gehen konnten, aber das war immer noch besser, als nackt zu sein. Nackt zu sein hieß, vollkommen schutzlos zu sein. Nackt zu sein vergrößerte unsere Scham.

Alles wurde noch schlimmer, sobald die Krematorien errichtet waren und in Betrieb genommen wurden. Die Öfen brannten Tag und Nacht. Über dem Kamin schwebte eine große, schwarze Rauchsäule, die den Himmel verdunkelte wie ein mäandernder Fluss. Danach habe ich den Todesengel mehrmals wiedergesehen; inzwischen waren seine Kleider schwarz.«

»Hattest du Angst vor ihm?«

»Nein. Ich hatte Angst vor den Nazis. Ich hatte Angst vor Mengele. Der düstere Schnitter war der Tod, und der Tod bedeutete Erlösung, doch die Nazis machten den Weg in den Tod so grauenvoll, dass man alles tat, um am Leben zu bleiben. Außerdem hatten wir einen Pakt geschlossen. Wir empfanden es gegenüber unseren Familien als unsere Pflicht zu überleben, und sei es auch nur, um dem Rest der Welt von den Gräueltaten zu berichten, die wir erlitten hatten.

Wir arbeiteten an den Toten. Wir wurden zu Zahnärzten, wir brachen die Metallfüllungen aus ihren Zähnen und lösten die Brücken aus ihren Kiefern. Wir sammelten und sortierten ihre Habseligkeiten – ihre Koffer, die Handtaschen der Frauen, Schmuck, Kleidung. Wir desinfizierten das Haar der Vergasten und trockneten es im Dachgeschoss der dafür vorgesehenen Gebäude. Wir leerten die Gaskammern und füllten die Öfen, die vom Fett der Toten befeuert wurden. Wir zermahlten die Knochen – die sterblichen Überreste der Mitglieder unseres Volkes –, sodass sie als Kompost zum Düngen der Felder des Lagers dienen konnten.

Wir lebten in der Hölle, aber wie dein Freund Dante gezeigt hat, gibt es in der Hölle verschiedene Kreise. Der tiefste Kreis der Hölle war Block 10, wo die medizinischen Experimente stattfanden. Hier war Mengeles persönliche Schreckenskammer, sein Pathologielabor, in dem er seine Experimentalchirurgie ohne Betäubung praktizierte. Operationen zur Geschlechtsumwandlung. Die Transfusion verschiedener Körperflüssigkeiten. Die Entnahme von Organen und das Abnehmen einzelner Gliedmaßen. Inzestuöse Befruchtungen. Die meisten Experimente nahm Mengele an Kindern vor, vor allem an Zwillingen. Junge Juden und Zigeuner wurden kastriert, in Druckkammern gesteckt oder bei lebendigem Leib eingefroren. Einige wurden geblendet, an anderen wurden Medikamente erprobt, und wieder andere wurden so grauenhaften Foltern ausgesetzt, dass es zu entsetzlich wäre, laut darüber zu sprechen. Man würde erwarten, dass diese Gräuel auf Mitglieder medizinischer Institute in Deutschland abstoßend gewirkt hätten. Tatsächlich aber drängten die Ärzte geradezu nach Auschwitz, um sich an diesem Zirkus Satans zu beteiligen und die Gelegenheit auszunützen, die ihnen das Vorhandensein von zu Vieh erniedrigten Menschen bot. Und jeden Tag führten die Züge Mengele neue Opfer zu.«

»Hat denn niemand versucht zu fliehen?«

»Doch. Ein paar. Die meisten wurden erwischt. Wenn jemand geflohen war, wurden alle Übrigen gezwungen, stundenlang im Hof Appell zu stehen, während der Geflohene aufgespürt, verhöhnt und gehängt wurde. Vergiss nicht, Patrick, wir waren Juden. Wir waren in dieser Hölle, weil niemand sich für uns interessierte. Wohin hätten wir also fliehen sollen? Sogar die Alliierten, die die Lager schließlich befreiten, waren nicht deshalb in den Krieg gezogen, um uns zu helfen. Man sagte uns, wir seien das von Gott auserwählte Volk, und Gott habe sich von uns abgewendet, wie so viele von uns sich am Berg Sinai von Ihm abgewendet hatten.

Ein Gebet wurde fast unmöglich, denn wir waren Menschen, die man zu Ungeziefer erniedrigt hatte. Und doch gelang es ein paar von uns, ein kleines Fleckchen Licht zu finden, jenen letzten Funken menschlicher Würde, der darin bestand, dass wir uns weigerten, unser Schicksal zu akzeptieren. Für mich bestand diese Würde darin, auf meine Sauberkeit zu achten. Jede Nacht, bevor ich mich zu vier oder fünf anderen lebenden Leichnamen in die Koje legte, fand ich irgendwie die Möglichkeit, mir die Hände zu waschen und mir so den Staub und die Asche abzuspülen, die sich den Tag über angesammelt hatten. Das war meine Art, gegen unsere Unterdrücker anzukämpfen. Das war der kleine Sieg, der verhinderte, dass ich in der Dunkelheit versank.«

»Hast du je daran geglaubt, dass man dich retten würde? Wie hast du es geschafft, dir deine Hoffnung zu bewahren?«

»In Auschwitz war Hoffnung eine Sünde. Die Hoffnung hielt dich einen weiteren Tag am Leben, und um am Leben zu bleiben, musste man auf unmenschliche Weise denken und handeln. Ich sah Mütter, die sich von ihren Kindern lossagten, um zu überleben, ich sah Frauen, die sich für eine Scheibe Brot von den Wachen vergewaltigen ließen. Ich sah, wie ein Mann seinen Bruder erwürgte, um ihm seine Essensration zu stehlen. Das Böse zeugt ständig noch mehr Böses, wie du sehr wohl weißt, Patrick. Und doch bewahrten wir uns mitten in all diesem Wahnsinn … Ja, wir bewahrten uns die Hoffnung, dass die Erde eines Tages ein anderer Ort sein und unser Überleben die Veränderung, nach der wir uns sehnten, rascher herbeiführen würde.«

Virgil öffnete die Augen. »Jetzt hast du meine Geschichte gehört. Gibt dir das eine neue Perspektive für dein eigenes Elend?«

»Um ehrlich zu sein, es verstärkt nur die Einsicht, die ich im Irak gewonnen habe – dass es keinen Gott gibt. Dass das Licht, das, wie du behauptest, angeblich ein Teil von uns allen ist, unmöglich existieren kann. Wenn Gott allmächtig ist, warum gibt es dann so viel Böses auf der Welt? Wenn Gott gütig ist, warum hat Er dann den Holocaust nicht verhindert? Wenn du behauptest, Er habe sich eben dafür entschieden, es nicht zu tun, dann ist das nicht mein Gott. Er ist ein Monster.«

Mühsam stand Virgil auf. Sein Rücken schmerzte. »Ich verstehe deine Gefühle, Patrick. Ich habe diesen Gedanken schon Tausende Male gehört. Die Antwort gründet sich auf den wahren Sinn des Lebens – des Lebens, das eine Prüfung für die Seele ist, die ihr tikkun zu Ende führen muss. Das Böse existiert, damit der freie Wille eine Wahl treffen kann.«

»Welche Wahl hattest du, als deine Mutter und deine Schwestern vergast wurden? Wenn Gott das alles sah, warum hat Er dann nicht auf deine Gebete geantwortet? «

»Gott hat auf unsere Gebete geantwortet. Die Antwort war nein

»Nein?« Patrick schüttelte ungläubig den Kopf. »Und das kannst du akzeptieren? Die Nazis warfen Kinder in die Öfen, und Gott hielt das für eine coole Sache?«

»Natürlich nicht. Aber wer sind wir denn, dass wir es wagen könnten, den Plan des Schöpfers zu kritisieren? Du bist ein Mensch, der in seinem eigenen kleinen Mikrokosmos aus Raum und Zeit lebt, und dein ganzes Verständnis der Existenz basiert auf einer einzigen, bisher drei Dekaden umfassenden Lebensspanne, die du in der physischen Welt zugebracht hast. Dieses physische Universum aber stellt weniger dar als ein Prozent dessen, was wirklich da draußen ist.«

»Diese Menschen waren unschuldig, Virgil! Sie wurden Opfer des entfesselten Bösen.«

»Das entfesselte Böse, wie du es nennst, existiert schon lange. Aber nehmen wir mal an, ich stimme dir zu – welche Reaktion Gottes wäre denn angemessen gewesen? Eine weitere Sintflut? Oder vielleicht hätte Gott ja den erstgeborenen Sohn jeder deutschen Familie töten sollen, wie Er das in Ägypten getan hatte? Wie wäre es mit einem neuen Ausbruch der ägyptischen Plagen? Oder hattest du etwas mehr Feuer und durch die Luft fliegende Trümmer erwartet wie bei einer Atombombe? Nein, warte, die kam ja erst später, Gott sei Dank übrigens, denn wegen der Bombe ist die Welt jetzt sehr viel sicherer, nicht wahr? Der freie Wille, Patrick. Gott hat uns seine Gebote gegeben, doch wir allein entscheiden darüber, ob wir sie befolgen oder nicht. Oder gibt es zu den Worten Du sollst nicht töten eine Zusatzklausel, die besagt, es geht schon in Ordnung, Hunderttausende Unschuldige umzubringen, wenn man die arabischen Ölfelder übernehmen will?«

»Saddam war böse. Wir kamen als Befreier.«

»Und von wem musstet ihr die amerikanischen Ureinwohner befreien, als eure Vorfahren das Land der Indianer gestohlen und ihre Stämme ausgelöscht haben? «

Patrick wollte antworten, hielt jedoch einen Augenblick inne und dachte nach. »Gut, in dieser Sache hast du recht. Das haben wir ganz alleine zu verantworten, und ich bin genauso schuldig wie jeder andere auch.«

»Ja, das bist du, wie jede lebende Seele, und solange du dein tikkun noch nicht abgeschlossen hast, wirst du in die physische Welt zurückkehren … vorausgesetzt, es gibt dann überhaupt noch etwas, wohin du zurückkehren kannst.«

Die beiden erreichten die Spitze des Hügels und sahen die Grabsteine vor sich, die sich weit über den Trinity-Friedhof hinzogen. Jenseits des sich absenkenden Geländes im Osten lag der Broadway, eine der größten Verkehrsadern, vom Licht Hunderter Feuer erleuchtet.

Virgil deutete hinüber. »Wir können dem Broadway bis zum Battery Park folgen, aber es ist gefährlich. Die Pest hat sich weiter ausgebreitet, und die Menschen sind voller Panik. Du musst den Impfstoff gut in deinem Mantel verstecken, oder für deine Frau und deine Tochter wird nichts mehr übrig sein. Patrick, hörst du mir überhaupt zu?«

Patrick hörte nicht zu. Seine Blicke folgten dem rissigen Asphaltweg, der rechts von einer Reihe von Mausoleen und links von Grabsteinen gesäumt wurde.

»Was ist?«

»Ich glaube, ich habe ein größeres déjà vu

»Du warst schon einmal hier?«

»Ich glaube nicht. Aber plötzlich ist alles so kalt, als wäre ich in eine Kühltruhe geklettert. Oh nein … Er ist es.«

Mitten auf dem Weg stand der Sensenmann und deutete mit seinem Knochenfinger auf einen Grabstein, auf dem sich die Skulptur eines engelgleichen Kindes befand.

»Virgil, er ist hier.«

»Der Todesengel? Wo?«

»Kannst du ihn nicht sehen? Er steht direkt vor uns auf dem Weg. Er deutet auf ein Grab. Virgil, was soll ich tun?«

»Komm ihm nicht zu nahe. Lass nicht zu, dass er dich berührt. Kannst du den Namen auf dem Grabstein lesen?«

»Nein.«

»Bist du sicher, dass du noch nie auf diesem Friedhof warst?«

»Ja!«

Der Sensenmann wiederholte seine Geste, diesmal noch nachdrücklicher als zuvor.

Shep konnte die eisigen Tentakel des Todesengels spüren, die sich kristallisierend um sein Fleisch schlossen. Kalte Knochenfinger packten seine Kopfhaut und versuchten, sich in sein Gehirn zu bohren. Noch nie hatte er ein solches Entsetzen empfunden, nicht im Irak, nicht in seinen schlimmsten Albträumen.

Die Angst wurde zu groß. Sie entfesselte Wellen der Panik, die das Blut in seinen Adern gerinnen ließen.

Patrick Shepherd rannte.

Nach vier Schritten lagen die Mausoleen hinter ihm, und er stürmte mitten durch ein Gräberlabyrinth den Hang hinab, wobei die Schneedecke jeden seiner Schritte zu einem Risiko machte. Seine kaputte Armprothese schwang unkontrolliert hin und her und kratzte über die Grabsteine. Jedes Mal, wenn das Metall gegen Stein prallte, stoben Funken auf. Sie bildeten eine Art Signalfeuer, das den Tod direkt zu ihm zu führen drohte.

Plötzlich tauchte der Weg zu seiner Rechten wieder auf. Der eisbedeckte Asphalt verlief entlang der Friedhofsbegrenzung und endete am Osteingang, der hinaus auf den Broadway führte. Patrick rannte darauf zu – und stolperte über einen schneebedeckten Grabstein. Er stürzte und schoss mit dem Gesicht voran wie ein Schlitten in Menschengestalt den Hügel hinab, wobei er hin und her geschleudert wurde und sich überschlug. Schnee drang in seinen offenen Kragen, der Nachthimmel wirbelte vor seinen Augen, und schließlich rutschte er zusammengekrümmt gegen das alte Steinfundament, über dem sich das Osttor des Trinity-Friedhofs erhob.

Desorientiert und mit schmerzenden Gliedern rollte sich Shep auf den Rücken. Er hatte keine Angst mehr, denn die eisige Gegenwart des Sensenmanns war verschwunden. Im Schnee liegend starrte er hinauf in die Nacht. Der Vollmond stand inzwischen so hoch, dass sein Licht durch die Lücken in der Wolkendecke drang. Gott, wenn du wirklich da oben bist, dann hilf mir bitte.

Er hörte ein Knirschen – Stiefel im Schnee. Er schloss die Augen und wartete darauf, dass Virgil zu ihm kommen würde.

Die Stimme gehörte jemand anderem. »Da ist er.«

»Lass ihn in Ruhe, er gehört mir.«

»Marquis, du hast mir schon den Letzten versprochen.«

»Hast du vor, deswegen Stress zu machen, capullo?«

»Nein, Mann. Alles cool.«

»Genau. Sag ich doch die ganze Zeit.«

Shep setzte sich auf – und die Nacht verschwand in einer Farbexplosion, als der Stiefel sein Gesicht traf.