»Die Behörden versuchen herauszufinden, wie der Impfstoffhersteller Baxter International Inc. ›experimentelles Virusmaterial‹ hergestellt hat, das auf einem menschlichen Grippestamm basiert, aber mit dem Vogelgrippevirus H5N1 verseucht ist, und es anschließend an eine österreichische Firma (Avir Green Hills Biotechnology) vertrieb. Die versehentliche Freisetzung einer Mischung lebender H5N1-und H3N2-Viren könnte zu schrecklichen Konsequenzen geführt haben. Wenn jemand, der mit der Mischung in Berührung kam, sich gleichzeitig mit H5N1 und mit H3N2 infiziert hätte, könnte der Betreffende als Inkubator für ein hybrides Virus gedient haben, das sich leicht auf Menschen und zwischen ihnen überträgt. Dieser Vermischungsprozess, Reassortment oder Reassortierung genannt, ist eine von zwei Möglichkeiten, wie pandemische Viren geschaffen werden können.«
The Canadian Press, 27. Februar 2009
BIOLOGISCHE KRIEGSFÜHRUNG, PHASE II
EPIZOOTISCHE VERSEUCHUNG
20. DEZEMBER
East
46th Street
Tudor City, Manhattan, New
York
9:33 Uhr
(22 Stunden, 30 Minuten vor dem
prophezeiten Ende der Tage)
Vierunddreißig Minuten waren vergangen, seit Mary Klipot den Diplomatenkoffer in dem Abfallbehälter entsorgt hatte. Vierundzwanzig Minuten, seit die erste schwarze Ratte erschienen war.
Rattus rattus. Niemand wusste genau, wie viele der Nagetiere den Big Apple bevölkerten, die Schätzungen reichten von 250 000 bis zu über sieben Millionen. Ratten sind flinke Geschöpfe; eine Ratte kann auf den Hinterbeinen balancieren, Leitern hochklettern, einen Meter gerade in die Luft springen oder eine steile Mauer hochhuschen. Sie kann sich durch ein Loch so eng wie ein Vierteldollar hindurchzwängen, einen Sturz aus achtzehn Metern Höhe überleben oder ein Abflussrohr bis direkt in die Toilette hochschwimmen. Obwohl nachtaktiv, kann eine Ratte sowohl tagsüber als auch nachts jagen. Der Name »Ratte« lässt sich übersetzen mit »nagendes Tier«, und das aus gutem Grund: Zähne und Kiefer sind so kräftig, dass eine Ratte sich durch Ziegelsteine und Mörtel, ja selbst durch Stahlbeton hindurchbeißen kann.
Das Leben einer Ratte währt zwei bis drei Jahre und besteht größtenteils aus Fressen und Sich-Vermehren. Weibchen haben vom dritten Lebensmonat an im Schnitt mehr als zwanzig Geschlechtsakte pro Tag. Würfe bestehen aus sechs bis zwölf Jungen, und ein einziges Weibchen wirft in seinem Leben vier-bis sechsmal. Männliche Ratten paaren sich nicht selten so lange mit einem Weibchen, bis es vor Erschöpfung stirbt – und machen noch weiter, wenn das Weibchen schon lange verendet ist.
Als intelligente Tiere gedeihen Ratten bei den endlosen Abfallbanketten der Großstadt prächtig, und ihr Geruchssinn kann Nahrung an jedem Ort innerhalb ihres Territoriums aufspüren. New Yorks Rattenpopulation hatte die Furcht vor dem Menschen längst verloren, und der beißende Geruch, der aus dem Innern des Müllcontainers kam, war verlockend.
Morningside Heights,
Manhattan, New York
9:38 Uhr
Einen Stapel Suppenteller auf ihrem sich wölbenden Unterleib balancierend, trat Francesca Minos aus Minos’ Pizzeria. Da ihr erstes Kind nun schon eine Woche überfällig war, wäre die Fünfundzwanzigjährige angesichts ihrer geschwollenen Füße lieber auf Kissen gestützt im Bett liegen geblieben, als in Trainingsanzug und Mantel einen weiteren kühlen New Yorker Morgen zu begrüßen – aber Paolo hatte in zwei Jahren nicht einen einzigen Frühstückshungrigen enttäuscht, und, schwanger oder nicht, sie musste ihrem Mann helfen.
Sie langte in den dampfenden Aluminiumtopf, schnappte sich eine hölzerne Kelle und schaufelte einen Klumpen Haferbrei auf einen Wegwerfteller, den sie für den Nächsten in der Schlange auf dem Tisch ließ. Schon erstreckte sich die morgendliche Versammlung die Amsterdam Avenue hinunter, und weitere Obdachlose waren unterwegs; ihr engagierter Seelengefährte war entschlossen, jedem einzelnen von ihnen zu essen zu geben.
Ein Aufgebot leerer Blicke und ausdrucksloser Gesichter marschierte schweigend an ihr vorbei. Die vergessenen Seelen der Gesellschaft. Hatte die Versuchung sie vom rechten Weg abgebracht, oder hatten sie schlicht aufgegeben? Viele waren fraglos Drogenabhängige oder Alkoholiker, aber andere waren in finanzielle Schwierigkeiten geraten und hatten einfach keinen anderen Platz, wo sie hingehen konnten. Mindestens dreißig Prozent waren Veteranen des Irakkrieges, die Hälfte von ihnen behindert.
Francesca füllte einen weiteren Teller, und ihre Angst verwandelte sich in Zorn. Allein in New York City gab es fast hunderttausend Obdachlose. So leid sie ihr auch taten, sorgte sich Francesca doch mehr um ihre eigene Familie. Die Pizzeria lief nur mäßig, wie die meisten Geschäfte, und auch sie hätten bald ein weiteres hungriges Maul zu stopfen. Wussten die Obdachlosen die kostenlose Mahlzeit, die sie erhielten, überhaupt zu schätzen? Oder nahmen sie die Großzügigkeit von Fremden einfach als Teil ihres täglichen Rituals in Anspruch? Mit jedem Tag, der verging, wurde die Linie, welche die Familie Minos von ihren verarmten Brüdern trennte, dünner – was würde passieren, wenn sie am Ende gezwungen wären, ihre Wohltätigkeit zu beenden? Würden die Obdachlosen Verständnis dafür haben? Würden sie ihren Gastgebern für ihre frühere Großzügigkeit danken und ihnen alles Gute wünschen, oder würden sie gewalttätig werden, die Scheiben der Pizzeria einschlagen und verlangen, was ihnen vermeintlich zustand?
Dieser Gedanke ließ Francesca erschauern.
Als sein Behälter leer war, wischte sich Paolo die Handflächen an seiner mit Haferbrei bespritzten Kochschürze ab, bevor er wieder hineinging, um noch einmal nachzufüllen.
»Paolo – warte.«
Der dunkle, kraushaarige Italiener hielt inne und lächelte seine schwangere Frau an. »Ja, mein Engel? Was möchte dein Herz von mir?«
Was möchte ich denn? Mir tut der Rücken weh von dieser strampelnden Bowlingkugel, die ich vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche hebe, meine Füße bringen mich um, und meine Hämorrhoiden fallen mir schneller aus dem Arsch, als man gucken kann. Was ich möchte, ist, dass du aufhören würdest, unsere Ersparnisse für diese Verlierertypen anzuzapfen, oder dass du wenigstens in der Lotterie gewinnen würdest, damit du mich aus alldem herausholen könntest!
Sie blickte wieder auf die Prozession der Obdachlosen, deren durchgelaufene Schuhe patschnass waren von den Pfützen aus Schneematsch. Durch ihre Not fügsam gemacht, verbrachten sie ihre Tage im Überlebensmodus. Und doch hatte jedes Leben einst Hoffnung und Potenzial gehabt.
Wie ihr ungeborenes Kind …
»Francesca?«
Sie strich sich eine dunkle Haarsträhne aus den Augen und erwiderte das Lächeln ihres Mannes. »Verbrenn dich nicht, Liebling, der Herd ist sehr heiß.«
Zwei Blocks südlich von Minos’ Pizzeria und einen Block östlich des Riverside Park stand das Manhasset, ein elfstöckiger, hundert Jahre alter Backsteinbau. Eine Zweizimmerwohnung kostete hier über eine halbe Million Dollar – Waschmaschine und Trockner nicht inbegriffen.
Die nach Westen liegende Wohnung in der zehnten Etage des Manhasset war jetzt dunkel, die schweren Vorhänge waren zugezogen, und ihre Enden wurden durch dicke Lehrbücher gegen die Erkerfenster gedrückt, um zu verhindern, dass auch nur ein Schimmer des trüben Morgenlichts ins Zimmer drang. Nur eine einzelne Flamme beleuchtete das Geschehen; die Kerze stand hinter der Hindufrau auf dem Fußboden.
Die Totenbeschwörerin schloss die Augen. Sie war mit ihrer traditionellen weißen Tunika angetan und trug keinen Schmuck – bis auf den Kristall, den sie an einer Goldkette um den Hals hängen hatte. Dieser Kristall war auf die Schwingungen des Überirdischen abgestimmt, er war ihr Kanarienvogel im Kohlebergwerk, ein Mittel, das sie auf den Wunsch ihrer spirituellen Gefährtin zu kommunizieren aufmerksam machte.
In Nepal die Kunst der Totenbeschwörung zu studieren war nicht anders, als ein Musikinstrument zu erlernen – für manche war es bloß ein Hobby, für andere eine Leidenschaft, die vielleicht zur Meisterschaft führte, vorausgesetzt, man besaß das nötige Talent. Was die Verständigung mit den Geistern der Toten anlangte, so besaß Manisha Pande die Blutlinien der Begabten. Geboren in einem Dorf im Himalaja, stammte sie mütterlicherseits von Totenbeschwörern ab, die bis auf das antike Persien zurückgingen. Im Mittelalter hatte die Praxis der Nekromantie Europa erreicht, wo sie von selbst ernannten Magiern und Hexenmeistern verdorben – und von der katholischen Kirche als Hilfe für böse Geister verurteilt wurde. Doch in Nepal konnte jemand, der talentiert war, nach wie vor gut von der Ausübung des Gewerbes leben.
Trotz ihrer angeborenen Fähigkeiten wuchs Manisha in dem Glauben auf, zu etwas anderem berufen zu sein. Ihr Vater Bikash und ihre Onkel väterlicherseits waren alle Ärzte, und das halbwüchsige Mädchen verspürte den starken Wunsch, anderen zu helfen. Als sie sechzehn wurde, flehte Manisha ihren Vater an, sie nach Indien gehen zu lassen, wo sie bei einem ihrer Onkel wohnen wollte, damit sie Psychiatrie studieren konnte. So hoffte sie, später Frauen behandeln zu können, die Opfer des Menschenhandels geworden waren. Dieses Gewerbe erlebte in Nepal und ganz Asien einen beängstigenden Boom, und Tausende von Frauen wurden entführt und als Sexsklavinnen verkauft.
Manisha war überrascht, als ihr Vater einwilligte, ihre Pläne zu unterstützen. Was sie nie erfuhr, war, dass Dr. Bikash Pande Jahre zuvor von einem Mitglied einer Geheimgesellschaft angesprochen worden war. Dieser Mann hatte mit ihm vereinbart, dass die talentierte Tochter des Arztes eines Tages das Wunderkind einer anderen Familie – der Patels – kennenlernen sollte, deren ältester Sohn, Pankaj, sich ebenfalls in die psychologische Wissenschaft vertiefte, allerdings nur, soweit sie die Genese des Bösen betraf.
Manisha Patel atmete ein und aus und wartete auf das Erscheinen ihrer spirituellen Führerin.
Die Totenbeschwörung war eine Kunst, die darauf angewiesen war, Beziehungen zu den Verstorbenen herzustellen. Einen Geist konnte man weder herbeizaubern noch ihm befehlen – er musste bereitwilliger Teilnehmer an dem Akt sein. Nachdem sie im Anschluss an die Geburt ihrer Tochter (ein Jahr nach den Angriffen vom 11. September) mit ihrer Familie nach New York gezogen war, hatte sich Manisha von der plötzlichen Flut überirdischer Kontaktpersonen, die Verbindung aufnehmen wollten, überwältigt gefühlt. Im Laufe der Zeit hatte sich zwischen der Totenbeschwörerin und einem dieser ruhelosen Geister eine besondere Beziehung entwickelt – es handelte sich dabei um eine Frau, die an Bord eines der gekidnappten Flugzeuge gewesen war, die in die Twin Towers eingeschlagen waren. Bis zu diesem Morgen hatte die gesamte Kommunikation zwischen Manisha und dieser spirituellen Gefährtin in den Dämmerstunden stattgefunden.
Nicht heute. Während der letzten zwei Stunden hatte Manisha Patels Kristall vibriert wie eine Stimmgabel.
Sie hatte gewartet, bis Pankaj zusammen mit Dawn die Wohnung verlassen hatte. Zwischen ihrer Tochter und dem Geist der toten Frau existierte eine enge Bindung, und die an diesem Morgen von dem Kristall ausgehenden Schwingungen hatten sie beunruhigt. Normalerweise ähnelte die Gegenwart eines Geistes der Wahrnehmung einer gut gespielten Gitarrensaite, deren angenehmer Anschlag in Manishas Herz widerhallte, während das unendliche Licht des Schöpfers ihre Seele mit jedem verklingenden Takt höher emporhob. Aber die Schwingungen dieses Morgens waren ausgesprochen unharmonisch. Manisha hatte Angst, und je mehr sie sich fürchtete, desto entsetzlicher wurden die Schwingungen. Sie kam sich plötzlich isoliert und allein vor, unfähig, Kontakt zu irgendjemandem aufzunehmen – als sei sie gefangen auf ihrer eigenen Insel des Selbstzweifels.
Manisha …
»Ja, ich bin hier. Sprich durch mich – sag mir, was nicht in Ordnung ist.«
Du und deine Familie, ihr müsst fort. Verlasst Manhattan … sofort!
Fort Detrick,
Frederick, Maryland
9:43 Uhr
Wie seine zwei jüngeren Brüder war auch Colonel John Zwawa eine körperlich eindrucksvolle Erscheinung. Als Veteran zweier Kriege war der Colonel im Kampfeinsatz und an so unterschiedlichen Orten wie Ägypten und Alaska stationiert gewesen. Er näherte sich der Pensionierung und hatte die ersten sechzehn Monate eines vierjährigen Einsatzes als befehlshabender Offizier in Fort Detrick hinter sich. Allerdings hatte er zwar die Leitung – doch was laufende Operationen betraf, wurde er vom Pentagon bewusst nicht eingeweiht. Bis zu diesem Morgen war die größte Sorge des Colonels gewesen, auch ja darauf zu achten, dass die Getränkeautomaten des Stützpunkts immer gut gefüllt waren.
Von heute an würde der Colonel nicht mehr die Rolle des Hausverwalters spielen. Die Unterrichtung durch Lydia Gagnon hatte alles verändert.
Die Mikrobiologin hatte den Blick in die ferngesteuerten Kameras gerichtet, und ihr Konterfei erschien auf abhörsicheren Monitoren im Pentagon, im Weißen Haus und an Bord der beiden Hubschrauber der schnellen Eingreiftruppe, die in Richtung Manhattan rasten. »Der Koffer, der aus unserer Anlage der Biosicherheitsstufe 4 entwendet wurde, gehörte zu einem streng geheimen Projekt namens Scythe. Scythe ist, kurz gesagt, eine sich selbst einsetzende biologische Waffe, die es einem infizierten Aufständischen ermöglicht, die Beulenpest schnell unter feindlichen Soldaten oder Zivilisten zu verbreiten.
Scythe ist der Schwarze Tod von seiner schlimmsten Seite, die Kombination der Beulen-, Lungen-und septikämischen Pest in einer Form, die schnell quer durch tierische und menschliche Populationen verbreitet werden kann. Während der Beulen-Pandemie von 1347 lebte das Bakterium, Yersinia pestis, im Magen seines Hauptüberträgers, des Rattenflohs. Pestbakterien vermehren sich rasch im Innern eines Flohs und blockieren seinen Vorderdarm. Dies stimuliert den Hunger und spornt zu weiteren Bissen an. Jedes Mal wenn der Floh einen Wirt beißt, würgt er an unverdautem Blut und Pestbazillen und erbricht sie in die Wunde. Die infizierten Flöhe lebten von ihren Rattenwirten und sorgten für eine epizootische Ausbreitung, die seinerzeit Asien und Europa verwüstete. Obschon der am besten therapierbare, ist der Beulen-Bazillus in vielerlei Hinsicht der grässlichste der Scythe-Bazillen, bei dem das Opfer hinterher aussieht und riecht wie der Tod. Zu den Symptomen gehören Fieber, Schüttelfrost und das schmerzhafte Anschwellen der Lymphdrüsen zu den sogenannten Pestbeulen, die erst rot und dann schwarz werden. Der historische Beulen-Bazillus zerrüttet außerdem das Nervensystem, was zu Unruhe und Fieberwahn führt. Bleibt sie unbehandelt, hat die Beulenpest eine Sterblichkeitsrate von sechzig Prozent.
Die Lungenpest ist ein fortgeschrittenes Stadium der Beulenpest. Sie tritt auf, wenn die Bazillen die Lunge des Opfers befallen, womit eine Übertragung der Seuche direkt von Mensch zu Mensch durch Tröpfcheninfektion ermöglicht wird. Die Symptome sind Atemnot, Husten, eine Blaufärbung der Lippen und ein schwarz-blutiger Auswurf. Daraus entwickelt sich ein Lungenödem mit Kreislaufversagen. Wer den Atem einer infizierten Person einatmet oder in direkten Kontakt mit ihren Körperflüssigkeiten kommt, erkrankt an der Seuche. Bei niedrigeren Temperaturen kann das ausgestoßene Sputum auch gefrieren, was eine größere Übertragungsreichweite ermöglicht. Bleibt sie unbehandelt, liegt die Sterblichkeitsrate bei Opfern der Lungenpest zwischen fünfundneunzig und hundert Prozent.
Die letzte Variante – die septikämische Pest oder Pestsepsis – ist die tödlichste von allen. Sie tritt auf, wenn Bazillen direkt in den Blutkreislauf gelangen, und tötet das Opfer binnen zwölf bis fünfzehn Stunden. Noch einmal, Scythe enthält alle drei Varianten. Es breitet sich schnell aus, quält seine Opfer, während es Angst auslöst, und tötet binnen fünfzehn Stunden. Nur unser durch ein spezielles Verfahren erzeugtes Antibiotikum kann die Öffentlichkeit immunisieren oder eine infizierte Person heilen – vorausgesetzt, man erreicht sie rechtzeitig.«
»Erzählen Sie uns von der Frau.« Vizepräsident Arthur M. Krawitz saß neben Harriet Clausner; selbst auf ihrem kleinen Monitor konnte Lydia Gagnon sehen, wie die Außenministerin das Gesicht verzog.
»Ihr Name ist Mary Louise Klipot. Wir mailen jetzt jedem ihr Foto und ihre Biografie, auch dem FBI und den New Yorker Polizeibehörden. Mary ist die Mikrobiologin, die Scythe entwickelt hat. Sie war es, die Pest-Proben aus Europa mit zurückbrachte.
Mary ist im achten Monat schwanger. Sie ist mit ihrem Labortechniker, Andrew Bradosky, verlobt, von dem man annimmt, dass er der Vater ihres ungeborenen Kindes ist. Mary und Bradosky sind beide seit heute Morgen 2:11 Uhr, als Mary ihr BSL-4-Labor verließ, verschwunden. Auf einem Videoband des Sicherheitsdienstes ist zu sehen, dass sie einen Transportkoffer für BSL-Varianten bei sich hatte.«
Der Vizepräsident unterbrach. »Dr. Gagnon, war das einer dieser Diplomatenkoffer? Scythe wurde für den Einsatz fertig gemacht, nicht wahr?«
Lydia Gagnon wandte den Blick von der Einspielung aus dem Weißen Haus ab, in der Hoffnung, eine langwierige Debatte zu vermeiden. »Wir treffen keine politischen Entscheidungen, Mr. Vice President, wir gehorchen einfach nur Befehlen. Unsere Abteilung befolgt bis heute eine Anweisung aus dem Jahr 2001, ein System zur Unterwerfung einer feindseligen Bevölkerung zu entwickeln. Diese Befehle wurden niemals widerrufen. «
»Wer wusste überhaupt, dass diese Befehle existierten? Ich jedenfalls nicht, und ich sitze seit zwanzig Jahren im Auswärtigen Ausschuss. Diese Anweisung ist nicht nur illegal, Dr. Gagnon, das ist Völkermord!«
»Das ist Kriegsführung, Mr. Vice President«, warf Harriet Clausner ein. »Wie ich in den letzten beiden Tagesberichten der Geheimdienste für den Präsidenten deutlich zum Ausdruck gebracht habe, fehlt unserem Militär die Mannschaftsstärke, um in ein weiteres Land einzumarschieren. Biologische Waffen bieten uns Optionen.«
»Vierzig Millionen Iraner auszulöschen ist keine akzeptable Option, Mrs. Secretary.«
»Zuzulassen, dass Atomwaffen Terroristen in die Hände fallen, ebenso wenig.«
»Bei allem Respekt, dies ist weder die Zeit noch der Ort«, schnauzte Colonel Zwawa. »Dr. Gagnon, wo ist der verschwundene Scythe-Diplomatenkoffer jetzt?«
Mit ihrer Laptop-Maus klickte Dr. Gagnon auf eine Satellitenkarte von New York City. Ein roter Kreis zoomte an die 46. Straße zwischen First und Second Avenue heran. »Er ist in einer Gasse, die sechzig Meter westlich des Gebäudes der Vereinten Nationen liegt. Sobald unsere AIT-Teams am Boden sind, wird Team Delta den Diplomatenkoffer bergen, während Team Alpha in Zusammenarbeit mit dem Heimatschutz und der Seuchenschutzbehörde in Albany eine Sicherheitsumfassung um die Plaza errichten wird. Wir werden aus der UN Plaza eine vorläufige graue Zone machen, zumindest bis wir feststellen können, ob Scythe freigesetzt worden ist. Die AITs verfügen über genug Antibiotikum, um mehr als fünfzig infizierte Personen zu behandeln, und größere Mengen des Gegenmittels sind in Vorbereitung.«
»Schildern Sie uns den schlimmsten Fall«, befahl Colonel Zwawa.
Dr. Gagnon zögerte, dann klickte sie mit ihrer Maus auf einen anderen Link.
Ein schwarzer Kreis erschien über der UN Plaza und der Südspitze von Manhattan. »Angenommen, die Ausbreitung beschränkt sich während der ersten dreißig bis sechzig Minuten der Insemination auf den Fußgängerverkehr, sind wir vielleicht in der Lage, Scythe innerhalb von Lower Manhattan unter Kontrolle zu halten. Wenn es sich von der Insel entfernt und auf den Fahrzeugverkehr beschränkt, werden die Stunden zwei und drei folgendermaßen aussehen …«
Ein zweiter Kreis erschien, der Connecticut, New York, die östliche Hälfte von Pennsylvania und New Jersey umfasste.
»Wenn jedoch ein menschlicher Überträger in einen Zug steigt oder, Gott stehe uns bei, in ein Passagierflugzeug, dann könnte Scythe sich binnen vierundzwanzig Stunden über den ganzen Globus ausbreiten.«
VA Medical
Center
East Side, Manhattan, New
York
9:51 Uhr
»Was will er denn von mir?« Patrick Shepherd legte sich ins Zeug, um mit Leigh Nelson Schritt zu halten, als sie durch den überfüllten Krankenhausflur eilte und Patienten in Bademänteln auswich, die fahrbare Infusionsständer vor sich her schoben.
»Ich bin mir sicher, er wird es Ihnen erklären. Vergessen Sie nicht, er ist Präsident Kogelos neuer Verteidigungsminister. Was auch immer er von Ihnen will – ich würde es als eine Ehre auffassen.«
Patrick folgte seiner Ärztin in ihr Büro, dieser vertrauten Zuflucht, in der nur die Anwesenheit des weißhaarigen DeBorn störte, der sich hinter Dr. Nelsons Schreibtisch gesetzt hatte.
Der Verteidigungsminister entließ seine beiden Secret-Service-Agenten und bedeutete Leigh und Patrick, sich zu setzen. »Sergeant Shepherd, es ist mir eine Ehre. Dies ist meine persönliche Assistentin, Miss Ernstmeyer, und dieser prächtige Gentleman ist Lieutenant Colonel Philip Argenti. Der Colonel wird Ihr neuer befehlshabender Offizier sein.«
»Wieso brauche ich einen befehlshabenden Offizier? Ich habe schon ausgedient.«
DeBorn ignorierte ihn und las mit zusammengekniffenen Augen die Akte, die gerade über seinen BlackBerry kam. »Sergeant Patrick Ryan Shepherd. Vier Stationierungszeiten. Abu Ghuraib … Grüne Zone. Zur 101. Luftlande-Division versetzt. Hier steht, Sie hätten ’ne praktische Ausbildung als Hubschrauberpilot erhalten.«
»Blackhawks. Rettungshubschrauber. Ich wurde verwundet, bevor ich die Prüfung für die Lizenz machen konnte.«
Der Verteidigungsminister scrollte weiter. »Na so was. In der Personalakte steht, Sie hätten professionell Baseball gespielt. Stimmt das?«
»Überwiegend in den unteren Ligen.«
»Der Sergeant hat auch für die Boston Red Sox gespielt. «
Shep warf Dr. Nelson einen vernichtenden Blick zu.
»Wirklich? Außenfeldspieler, schätze ich mal.«
»Werfer.«
DeBorn blickte auf. »Ich hoffe, kein Linkshänder?«
»Shepherd? Patrick Shepherd? Wieso kommt mir dieser Name bloß so bekannt vor?« Colonel Argenti zog an seinen rostig-grauen Haaren und zerbrach sich den Kopf. »Moment … der sind Sie! Der Bursche, dem man den Spitznamen ›Würger von Boston‹ gab. Der Neuling, der bei seinem ersten Auftritt in den großen Ligen keinen gültigen Schlag der Yankees zuließ.«
»Eigentlich waren es zwei gültige Schläge, aber …«
»Bei Ihrem nächsten Start haben sie Oakland ausgeschaltet. «
»Toronto.«
»Toronto, richtig. Ich erinnere mich, dass ich es in SportsCenter gesehen habe. Dieses Spiel ging über Extra-Innings, Sie wurden im neunten rausgenommen. Das war verrückt, man hätte Sie drinlassen sollen.« Argenti stand auf und schlug aufgeregt mit der Faust nach DeBorn. »Ich bin seit bald dreißig Jahren Dauerkartenbesitzer. Bei Baseball kenne ich mich aus, und dieser Bursche war ein Tier. Sein Fastball war okay, ein Cutter in den unteren Neunzigern, aber seine gemeine Nummer zwei, die war absolut fies.«
DeBorn runzelte die Stirn. »Gemeine Nummer zwei?«
»Sie wissen schon – der gemeine gelbe Hammer … Onkel Charlie. Staatsfeind Nummer eins. Ein Breaking Ball, Bert! Der Bursche hatte einen Breaking Ball, der flog wie eine Kanonenkugel. Ein Ground Out nach dem anderen. Es machte die Schlagmänner wahnsinnig.« Der Priester lehnte sich nach hinten gegen Dr. Nelsons Schreibtisch und wich Patrick nicht von der Seite, wie ein bewundernder Fan. »Sie waren ein Phänomen, mein Junge, das Tagesgespräch. Was in aller Welt ist mit Ihnen passiert? Sie sind schneller von der Bildfläche verschwunden, als man gucken konnte.«
»Ich habe mich gemeldet … Sir.«
»Ach, richtig. Zuerst das Land, aber trotzdem. Affenschande wegen dem Arm. Wie haben Sie ihn verloren?«
»Ich kann mich nicht daran erinnern. Sie nannten es traumatische Amputation. ’n Kumpel von mir, ’n Sanitäter namens David Kantor, der fand mich … rettete mir das Leben. D.K. meinte, es wär’ ein IED gewesen, ein improvisierter Sprengsatz. Ich muss ihn aufgehoben haben, hab ihn wohl für ein Kinderspielzeug gehalten. Bin sechs Wochen später im Krankenhaus aufgewacht, konnte mich an nichts erinnern. Ist wahrscheinlich auch besser so.«
»Jemals daran gedacht, wieder zu werfen?« Argenti lächelte aufmunternd. »Dieser Werfer, Jeff Abbott, der schaffte es ziemlich gut mit nur einem Arm.«
»Jim Abbott. Und ihm fehlte eine rechte Hand, er zog sich den Handschuh übers Handgelenk. Das Einzige, was ich noch habe, ist ein Stumpf, wo früher mein linker Bizeps war.«
»Das reicht jetzt mit Baseball, Padre.« DeBorn bedeutete Argenti, zu seinem Stuhl zurückzukehren. »Sergeant, wir brauchen Sie für eine neue Mission, eine, die Amerika helfen wird, seine Feinde in Übersee zu bekämpfen und gleichzeitig die Heimat abzusichern. Ihre Aufgabe wird sein, uns zu helfen, eine neue Generation kämpfender Männer und Frauen zu rekrutieren. Das ist eine große Ehre. Sie werden kreuz und quer durch das Land reisen, Oberschulen besuchen …«
»Nein.«
Der Verteidigungsminister lief rot an. »Was haben Sie gesagt?«
»Ich werde es nicht tun. Ich kann nicht. Meine Frau ist absolut dagegen. Ich könnte ihr das nicht noch mal antun, nein, Sir.«
»Wo ist Ihre Frau jetzt? Ich würde gern ein Wort mit ihr reden.«
»Sie will nicht mit Ihnen reden. Sie will nicht mit mir reden. Sie hat mich verlassen. Hat meine Tochter mitgenommen und … Tja, sie ist weg.«
»Warum kümmert es Sie dann, was …«
»Sie ist in New York.«
Alle wandten sich zu Leigh Nelson um, die die Augen zusammenkniff und wünschte, sie hätte den Mund gehalten.
Das Blut schoss aus Patricks Gesicht. »Doc, was sagen Sie da? Haben Sie mit Bea gesprochen?«
»Noch nicht. Ich erhielt ihre Adresse heute Morgen per E-Mail. Ich hatte noch keine Gelegenheit, es Ihnen zu erzählen. Es ist nicht hundertprozentig, aber alles passt genau zu ihrer Beschreibung.«
Shep lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Er zitterte am ganzen Körper.
»Es gibt eine Telefonnummer. Wir können anrufen und uns vergewissern. Shep? Shep, geht es Ihnen gut?«
Die Angstattacke traf ihn wie eine Flutwelle. Er konnte plötzlich nicht atmen, konnte nichts sehen. Weiße Flecken beeinträchtigten sein Sehvermögen. Schweiß brach ihm in kalten Tröpfchen aus den Poren, während er zu Boden rutschte und sein Körper sich krümmte.
Dr. Nelson riss die Tür auf und schrie: »Ich brauche eine Schwester und einen Pfleger!« Sie kniete neben Shep und fühlte nach seinem Puls. Schnell und schwach.
»Was zum Teufel stimmt denn nicht mit ihm? Hat er einen Herzanfall?«
»Angst. Shep, Herzchen, legen Sie sich zurück und atmen Sie. Ihnen fehlt nichts.«
DeBorn blickte auf Sheridan Ernstmeyer, die mit den Achseln zuckte. »Angst? Wollen Sie damit sagen, er hat eine Panikattacke? Großer Gott, reißen Sie sich zusammen, Sergeant. Sie sind ein United States Marine!«
Eine Schwester stürzte herein, gefolgt von einem Assistenzarzt, der einen Rollstuhl schob.
Dr. Nelson half, Shep in den Stuhl zu heben. »Heben Sie seine Füße an. Legen Sie ihm eine kalte Kompresse in den Nacken und geben Sie ihm eine Xanax.«
Der Assistenzarzt schob Shep aus dem Büro.
Der weißhaarige Verteidigungsminister starrte auf Leigh Nelson herab, sein harter Blick sollte sie einschüchtern. »Wo ist die Ehefrau?«
»Wie ich schon sagte, sie ist in New York.«
»Die Adresse, Dr. Nelson.«
»Herr Minister, es geht hier um weit mehr als darum, eine zerbrochene Familie wieder zusammenzuführen. Shep ist labil. Seine Erinnerung ist bruchstückhaft, seine Verletzung greift nach wie vor sein Gehirn an. Wir kümmern uns die ganze Zeit um diese Dinge. Sie können GIs nicht drei-und viermal immer wieder neu einsetzen, ohne dabei ihre Familien auseinanderzureißen. Ehefrauen ziehen um, manchmal, weil sie jemand anderen finden, manchmal aus Angst. Das Militär bereitet seine zurückkehrenden Veteranen nicht mehr richtig auf das normale Leben vor, sie wechseln innerhalb einer Woche vom Gefecht ins Zivilleben. Einige dieser Burschen sind wandelnde Zeitbomben, in Gedanken immer noch tief im Krieg. Sie können ihre Häuser nicht betreten, ohne die Räumlichkeiten zu durchsuchen, und sie bewahren Waffen neben dem Bett auf. Ich habe viel zu viele Fälle von zurückkehrenden Soldaten erlebt, die mitten in einem Albtraum auf ihre Angehörigen einstachen oder sie erschossen. Das würde sich auf dem neuen Rekrutierungsplakat wohl nicht allzu gut machen.«
»Ich habe Sie nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung über Kriegsführung gebeten, Doktor. Geben Sie mir jetzt die Adresse der Ehefrau.«
Sie zögerte.
»Bei der anhaltenden Wirtschaftskrise muss es schön sein, einen gut bezahlten Job im öffentlichen Dienst zu haben. Natürlich könnten wir für das, was man Ihnen zahlt, vermutlich auch zwei Assistenzärzte einstellen.«
Leighs Rücken versteifte sich. »Ist das eine Drohung, Mr. DeBorn?«
»Miss Ernstmeyer, setzen Sie sich mit dem Pentagon in Verbindung. Jemand dort soll die Familie des Sergeant ausfindig machen.«
»Augenblick. Bitte … einen Augenblick.« Leigh griff in die Tasche ihres Laborkittels, holte den E-Mail-Ausdruck heraus und reichte ihn widerwillig dem Verteidigungsminister.
DeBorn blinzelte, während er laut las. »Beatrice Shepherd. Battery Park, Manhattan.«
»Sie ist ganz in der Nähe«, bemerkte Sheridan. »Wirkt zu zufällig. Vielleicht ist sie hier, weil er hier ist.«
»Finden Sie’s raus.«
»Langsam, machen Sie mal einen Moment halblang«, sagte Leigh, die nun zornig erregt war. »Shepherd ist mein Patient. Wenn hier irgendjemand seine Frau kontaktiert, dann sollte ich das sein.«
»Sie stehen ihm zu nahe. Ehefrauen, die sich vom Militär schlecht behandelt fühlen, erfordern eine geschickte Hand. Shepherds Frau scheint eine dieser sentimentalen Friedensaktivistinnen zu sein. Ist sie das?«
»Keine Ahnung.«
»Frauen, die moralische Grundsätze über die Familie stellen, sind die schlimmste Sorte Heuchlerinnen. Nehmen Sie diese Cindy Sheehan. Sie verliert ihren Sohn, verbringt die nächsten drei Jahre damit, gegen die Streitkräfte zu protestieren, in die er unter Einsatz seines Lebens eintrat, dann verlässt sie am Ende ihre Familie, um eine politische Karriere einzuschlagen. Ich vermute, diese Beatrice Shepherd ist aus dem gleichen Holz geschnitzt. Miss Ernstmeyer weiß, wie man mit solchen Leuten umgeht.«
»Schön. Dann gehen Sie damit um. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich habe andere Patienten, um die ich mich kümmern muss.«
»Eine Minute noch. Ich möchte, dass Sie dem Sergeant eine Armprothese anpassen.«
»Ihm wurde vor drei Monaten eine angepasst. Uns wurde gesagt, es gebe einen vier-bis sechsmonatigen Rückstand.«
»Colonel?«
»Heute Nachmittag wird er eine haben.«
Leigh Nelson hatte das Gefühl zu ertrinken. »Bei allem Respekt, aber Shep seine Prothese zu verpassen und ihn zu zwingen, seiner Frau gegenüberzutreten, wird seine psychischen Probleme nicht mal annähernd lösen.«
»Überlassen Sie seine Familie uns, Doktor. Organisieren Sie die psychologische Hilfe.«
Leigh ballte die Fäuste, ihr Blutdruck schnellte in die Höhe. »Und wo soll ich einen Psychiater auftreiben? Ihn mir aus den Rippen schneiden? Ich habe 263 Kriegsveteranen, die dringend psychiatrisch betreut werden müssen und von denen ein Drittel wegen Suizidgefahr unter Beobachtung steht. Wir teilen uns mit drei Veteranenkrankenhäusern zwei klinische Psychologen und …«
»Ist erledigt«, unterbrach Pater Argenti. »Spätestens heute Nachmittag wird Patrick Shepherd mit dem besten Seelenklempner sprechen, den man mit Steuergeldern kaufen kann.«
DeBorn runzelte die Stirn. »Irgendwelche anderen Schwierigkeiten, Dr. Nelson?«
Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und gab sich geschlagen. »Wenn Sie Ihren eigenen Spezialisten anheuern wollen – ich habe nichts dagegen, behalten Sie’s nur für sich. Ich will nicht, dass die anderen Männer auf Sheps Station davon erfahren. Es ist schlecht für die Moral. Auch Shep fände es nicht gut.«
»Prompt notiert. Colonel, arrangieren Sie Privatsitzungen im Büro des Psychiaters.«
»Das wird nicht funktionieren. Wir hatten letzte Woche so eine Situation. Ich nahm Shep aus dem Krankenhaus. Es sollte ein erster Schritt sein, um ihm zu helfen, sich wieder im Zivilleben zurechtzufinden. Es ging nicht gut. Sie sollten die Sitzungen lieber im Krankenhaus abhalten. «
»Dann besorgen Sie ihm sein eigenes Zimmer. Sagen Sie ihm, es ist ein Geschenk vom Pentagon.« DeBorn stand auf und beendete die Besprechung. »Ich soll heute Nachmittag bei der UNO sein, aber zuerst muss ich noch einen weiteren Zwischenstopp einlegen. Colonel, Sie haben die Leitung. Schärfen Sie dem Psychiater, den Sie anheuern, ein, dass Shepherd bei der Rede zur Lage der Nation im Januar in Washington sein muss. Er hat also vier Wochen, um unseren Jungen in ordentliche geistige Verfassung zu bringen.«
DeBorn ging auf die Tür zu; dann hielt er inne. »Sie mögen Shepherd, nicht wahr, Doktor?«
»Ich sorge für alle meine Patienten.«
»Nein. Ich sehe, wie Sie ihn ansehen. Da gibt es etwas. Vielleicht eine körperliche Anziehung?«
»Sir, ich würde niemals …«
»Natürlich nicht. Aber es würde nicht schaden, wenn Sie für den Sergeant da wären … Sie wissen schon, um ihn zu beruhigen, wenn seine Frau die Beziehung offiziell beendet.«
»Nicht dass Sie das irgendetwas anginge«, blaffte Leigh Nelson, »aber zufällig bin ich verheiratet und habe zwei reizende Kinder. Und Shep können Sie vergessen. Was auch immer zwischen ihm und Bea vorgefallen ist, wie auch immer das bei den beiden nachgewirkt haben mag, er liebt seine Frau und seine Tochter abgöttisch und würde so ziemlich alles sagen oder tun, um sie zurückzubekommen. «
DeBorn nickte. »Das ist genau das, worauf ich zähle.«
United Nations
Plaza
10:14 Uhr
Die Plötzlichkeit des Angriffs hatte die Demonstranten überrumpelt – dreihundert Angehörige von New Yorks bestens ausgebildeter Emergency Service Unit (ESU), jeder mit Kapuzengasmaske und in der Kleidung des Heimatschutzes, hatten in einer einzigen zielgerichteten, übermächtigen Welle die Plaza gestürmt. In Teams arbeitend, hatten die Polizisten die Menschenmenge schnell gebändigt und allen mit dreifachen Einweghandschellen die Handgelenke hinter dem Rücken gefesselt, bevor sie sie in geordneten Reihen entlang der kalten Betonfläche aufstellten.
Nachdem der Mob außer Gefecht gesetzt war, gingen sie gegen die Medien vor.
Ohne große Rücksicht auf Kameraausrüstungen oder verfassungsmäßige Rechte trieb der Sturmtrupp die fassungslosen Reporter und ihre Kamerateams unter Anwendung von Gewalt zu einem anderen Bereich der Plaza, wo ihnen ebenfalls Handfesseln angelegt wurden.
»Das hier ist Amerika! Sie können die Presse nicht einschränken!«
»He, Arschloch, schon mal was vom Ersten Verfassungszusatz gehört?«
Was die Medienvertreter überhaupt nicht sahen, war, dass die normalen Polizeibeamten, die eine Postenkette gegen die Demonstranten gebildet hatten, ebenfalls abgesondert und ihre Waffen markiert und beschlagnahmt wurden. Nachdem Gesundheitsbeamte sie informiert hatten, dass diese Schritte lediglich eine kleine Vorsichtsmaßnahme gegen einen möglichen Ausbruch von Schweinegrippe seien, wurde der Trupp Gesetzeshüter ins Innere eines Triage-Zentrums geführt, das sich in einem von vier mobilen Zelten der Army befand, die jetzt die Plaza belegten. In kleinen, durch Plastikvorhänge abgeteilten Bereichen isoliert, wurde den entnervten Polizeibeamten versichert, dass alles in Ordnung sei, selbst als Ärzteteams in weißen Überdruckanzügen von einem Polizisten zum nächsten gingen und eine eingehende körperliche Untersuchung durchführten.
»Er ist sauber. Begleiten Sie ihn zum Beobachtungszelt. «
»Der hier ist in Ordnung.«
»Der hier hat leichtes Fieber.«
»Meine Kinder haben die Grippe … es ist nichts.«
»Behandlungszelt. Führen Sie die komplette Blut-und Haaranalyse durch und setzen Sie ihn anschließend auf Antibiotika.«
»Doktor, Sie sollten sich lieber den da ansehen.«
Officer Gary Beck saß auf dem Linoleumboden, seine Schutzausrüstung neben sich. Er schwitzte stark, seine Gesichtsfarbe war von einem käsigen Grau – und er hustete Blut.
»Isolationszelt, SOFORT! Alarmieren Sie Captain Zwawa. Ich will in zehn Minuten die komplette Blut-und Haaranalyse, anschließend …«
Der Beamte ließ sich auf alle viere fallen und würgte.
»Versiegeln Sie den Bereich!«
»Triage 3 an Basis. Wir brauchen eine mobile Isolationseinheit und einen Reinigungstrupp, SOFORT.«
VA Medical
Center
East Side, Manhattan, New
York
10:21 Uhr
Leigh Nelson führte ihren halb bewusstlosen Patienten in das Privatzimmer auf der sechsten Etage. »Nicht allzu schäbig, was? Teilansicht von Manhattan, privates Badezimmer …«
Sie beobachtete, wie Patrick Shepherd, immer noch benommen von der Xanax, in dem Zimmer herumstolperte. Er sah unter das Bett und zwischen die Matratzen. Er suchte in den Nachttischschubladen und im Wandschrank, sogar hinter der Toilette.
»Herzchen, hier ist es sicher. Und es ist alles Ihres. Jetzt seien Sie ein braver Junge und legen sich hin, Sie machen mich völlig fertig.«
Die warme Benommenheit breitete sich aus, beruhigte die Wogen der Angst, schwächte seine Entschlossenheit. Er hockte sich aufs Bett, und sein Körper versank in flüssigem Blei. »Leigh, hören Sie mir zu … Hören Sie zu?«
»Ja, Herzchen, ich höre zu.«
»Wissen Sie, was wahre Liebe ist?«
»Verraten Sie’s mir.«
Er schaute zu ihr hoch, und seine geweiteten Augen schwammen in Tränen. »Grenzenlose Leere.«
Leigh schluckte den Kloß herunter, der sich in ihrem Hals bildete. »Shep, Sie müssen mit jemandem reden – jemandem, der Ihnen helfen kann, mit Ihren Gefühlen klarzukommen. DeBorn schickt einen Spezialisten rüber. Bevor Sie mit Bea sprechen, denke ich, ist es wichtig, dass Sie mit ihm reden.«
»Warum? Damit er mir sagen kann, ich soll mich weiterentwickeln? Sie gehen lassen?«
»Nein, mein Süßer. Damit Sie ein bisschen Klarheit gewinnen. Ihr Leben in die richtige Perspektive rücken können.«
Er deutete auf die Kiste mit persönlichen Habseligkeiten, die auf dem Schreibtisch stand. »Beas Buch … Holen Sie’s mir.«
Sie sah den Pappkarton durch und holte das Exemplar von Dantes Inferno heraus.
»Lesen Sie den Eröffnungsgesang … die ersten paar Zeilen.«
Sie schlug das Buch bei der ersten Strophe der Göttlichen Komödie auf und las laut: »Dem Höhepunkt des Lebens war ich nahe, da mich ein dunkler Wald umfing und ich, verirrt, den rechten Weg nicht wieder fand.« Sie blickte Patrick an. »Sollen Sie das sein?«
Er zeigte auf das gerahmte Gemälde eines Strandhauses; die tropische Szene war der einzige Farbtupfer in dem Zimmer. »Das da sollte ich eigentlich sein.« Er schloss die Augen, war fast am Einschlafen. »Jetzt ist dies hier alles, was ich von meinem jämmerlichen Leben habe … gefangen im Fegefeuer. Die Hölle wartet. «
»Ich glaube nicht an die Hölle.«
»Weil Sie nie dort waren. Ich schon.« Er streckte sich aufs Bett. »War viermal dort. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, um zu schlafen, zieht es mich wieder zurück. Es besudelt einen. Es befleckt die Seele. Ich werde nicht zulassen, dass es meine Familie befleckt.« Er fing an zu nuscheln. »DeBorn … Sagen Sie ihm, nein. Sagen Sie ihm, er soll sich ver…«
Die Augäpfel flatterten unter den Lidern, während sein Kehlkopf in ein entspannendes Schnarchen rumpelte.
Das Strandhaus ist offen und luftig, die Wohnzimmerdecke des Nurdachhauses mit Holz paneeliert. Viereinhalb Meter hohe Erkerfenster geben den Blick frei auf eine Veranda und einen Pool draußen vor dem Haus, und direkt dahinter liegt der Atlantische Ozean.
Der Makler öffnet die Verandatüren, worauf das Haus sich mit einer salzigen Brise und dem beruhigenden Geräusch krachender Wellen füllt. »Atlantic Beach ist ein idyllischer kleiner Küstenort, es wird Ihnen hier sehr gut gefallen. Das Haus ist im südländischen Stil gebaut, fünf Schlafzimmer, sechs Bäder plus das Gästehaus. Ein absolutes Schnäppchen für 2,1 Millionen Dollar.«
Patrick wendet sich an seine bessere Hälfte. »Und?«
Die blonde Schönheit balanciert die gemeinsame zweijährige Tochter auf der rechten Hüfte. »Shep, wir brauchen das alles nicht.«
»Wen kümmert, was man braucht? Ich bin jetzt Big League Pitcher.«
»Du hast in zwei Spielen geworfen.«
»Aber mein Agent sagt, mit den Werbeverträgen, an denen er arbeitet, kann man drei Strandhäuser bezahlen.«
»Es ist so weit weg von der Stadt.«
»Schatz, das hier wird unser Sommerhaus sein. Wir werden trotzdem unsere Eigentumswohnung in der Stadt haben.«
»Boston oder New York?«
»Weiß nicht. Vielleicht beides.«
Sie schüttelt den Kopf. »Du bist wahnsinnig.«
»Nein, nein, Ihr Mann hat recht.« Der Makler lässt ein beruhigendes Lächeln aufblitzen. »Immobilien bleiben die beste Investition, die es gibt, Eigentumswerte können nur nach oben gehen. Sie können überhaupt nichts falsch machen. «
»Das ist toll zu wissen.« Sie setzt das lockenköpfige Kleinkind auf ihre andere Hüfte um. »Können mein Mann und ich einen Augenblick unter vier Augen sprechen?«
»Natürlich. Aber ich habe in zwanzig Minuten noch einen Interessenten, der sich das Haus ansehen will, also machen Sie nicht zu lange.« Er geht nach draußen auf die Veranda und lässt die Tür offen, um mithören zu können.
Die Blondine knallt sie zu.
Shep lächelt abwehrend. »›Mein Mann.‹ Das gefällt mir.«
»Eins wollen wir klarstellen. Wir sind noch nicht verheiratet, und wir werden es nicht sein, wenn ich dich noch einmal erwische, wie du mit irgendwelchen Cheerleadern flirtest.«
»Es waren keine Cheerleader, und ich hab dir gesagt, ich habe nicht geflirtet. Es war nur ein Fotoshooting für Hooters.«
»Diese Zwillinge hatten ihre Titten in deinem Gesicht, als ich reinkam.«
»Das ist mein Job, Schatz. Gehört zu dem neuen Image. Du weißt schon, der ›Würger von Boston‹.«
Die Blondine grinst spöttisch, voller Empörung. »Wer bist du? Dein Ego ist dermaßen außer Kontrolle, dass ich dich kaum noch wiedererkenne.«
»Wovon redest du? Das ist das, was wir wollten … Wir leben den Traum.«
»Deinen Traum, nicht meinen. Ich will nicht mit irgendeinem Egomanen verheiratet sein und mich fragen, in welchem Bett er schläft, wenn er nicht in meinem liegt.«
»Das ist nicht fair. Ich hab dich nie betrogen.«
»Nein, aber du gerätst in Versuchung. Sei ehrlich, Shep, wir sind zusammen, seit wir Kinder waren. Erzähl mir nicht, du wärst nicht wenigstens ein bisschen neugierig darauf, mit einer anderen Frau zusammen zu sein, vor allem jetzt, wo sie sich dir praktisch an den Hals werfen.«
Unfähig, sie anzulügen, sagt er nichts.
»Ja, genau das dachte ich mir. Also, wir werden Folgendes machen. Ich werde mit unserer Tochter zurück nach Boston gehen, während du dich entscheidest, ob du dir lieber einen neuen Kick von den scharfen Zwillingen holen oder dich auf eine Familie festlegen willst. Besser, du machst jetzt reinen Tisch. Ich möchte nicht, dass du in drei oder fünf Jahren aufwachst und denkst, du hast einen Fehler gemacht.« Sie schnappt sich die Wickeltasche und geht zur Tür.
»Liebling, warte …«
Die Blondine wendet sich um, Tränen in den Augen. »Vergiss nur nicht, Patrick Shepherd, manchmal weiß man die Dinge, die man hat, erst wirklich zu schätzen, wenn man sie verloren hat.«
Patrick stöhnte in sein Kissen, unfähig, den medikamentenbedingten Schlaf abzuschütteln.
Vereinte
Nationen
Gebäude der
Generalversammlung
10:28 Uhr
Ein erschütterter Jeffrey Cook, Leiter der Hauptabteilung Sicherheit der Vereinten Nationen, führte die sieben Männer, die Überdruckanzüge, autonome Atemschutzgeräte mit Vollmasken, Stiefel und schwere Handschuhe trugen, in den Kontrollraum des Gebäudes der Generalversammlung. »Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«
Ein Dutzend Augenpaare blickte von den Überwachungsmonitoren auf.
»Das ist Captain Zwawa vom Labor für Infektionskrankheiten in Fort Detrick. Er braucht Ihre Hilfe bei einem möglichen Sicherheitsverstoß.«
»Herrgott, was ist los?«
»Kann man die Luft gefahrlos einatmen?«
»Werden wir angegriffen?«
»Bleiben Sie ruhig.« Jay Zwawa hielt die Kopie der USAMRIID-Ausweisfotos hoch. »Sie müssen für uns diesen Mann und diese Frau ausfindig machen. Einer oder beide haben möglicherweise bereits heute Morgen um acht Uhr eines der Gebäude der Vereinten Nationen betreten. Wir müssen wissen, welche Gebäude sie betreten haben, mit wem sie in Kontakt kamen und ob sie das Gebäude wieder verlassen haben.«
Zwawas Team verteilte Kopien der Fotos von Mary Klipot und Andrew Bradosky an jeden Techniker, zusammen mit einer CD.
»Die CD enthält die erkennungsdienstlichen Merkmale der Verdächtigen. Lassen Sie sie durch Ihr Überwachungssystem laufen und suchen Sie nach einer Übereinstimmung. Fangen Sie mit dem Gebäude der Generalversammlung an, bevor Sie sich dem Rest des UN-Komplexes zuwenden.«
»Wer sind die? Sind wir in irgendeiner Gefahr?«
»Sollten wir nicht auch Schutzanzüge tragen?«
»Die Anzüge sind eine Vorsichtsmaßnahme für meine Leute an vorderster Front. Solange Sie in diesem Raum bleiben, wird Ihnen nichts passieren.«
Einer der Techniker sah besorgt aus. »Ich hab vor ungefähr zehn Minuten eine Klopause gemacht.«
»Jemand von unserem medizinischen Personal wird Sie untersuchen.«
»Medizinisches Personal? Mein Gott, gibt es einen biologischen Alarm?«
»Immer mit der Ruhe. Wir sind nicht mal sicher, ob die Verdächtigen den UN-Komplex überhaupt betreten haben.«
Die Techniker schoben die CDs in die Laufwerke ihrer Computer und klärten mithilfe der morgendlichen Überwachungsbänder Gesichtsmerkmale ab.
Jeffrey Cook nahm Captain Zwawa beiseite. »Ihre Männer blockieren die Ausgänge. Das können Sie nicht machen. «
»Es ist eine Sicherheitsvorkehrung. Niemand verlässt den UN-Komplex, ohne überprüft worden zu sein.«
»Überprüft auf was?«
»Das werden Sie erfahren, falls und wenn ich beschließe, es Ihnen zu sagen. Hoffen wir, dass es ohne Belang ist.«
»Was ist mit den Diplomaten? Den Staatsoberhäuptern? Sie können diesen Leuten nicht sagen, sie dürfen nicht gehen. Sie genießen diplomatische Immunität.«
»Niemand geht, es sei denn, er oder sie ist medizinisch unbedenklich. Diese Befehle werden von Pentagon und Weißem Haus gedeckt.«
»Was ist mit dem Präsidenten? Wollen Sie ihm sagen, dass er nicht gehen darf?«
»Der Präsident ist hier?«
»Er ist im Saal der Generalversammlung und spricht eben in diesem Augenblick zum Sicherheitsrat.«
»Ich hab sie!«
Alle Köpfe drehten sich zu Cameron Hughes um, einem an den Rollstuhl gefesselten Sicherheitstechniker. Jeffrey Cook beugte sich über die Schulter des Mannes und starrte auf das angehaltene, teilweise verschwommene Schwarzweißbild auf dem Monitor. Der Computer pixelte das Bild neu und schärfte die genetischen Kennzeichen, bis Mary Louise Klipots Gesicht bedrohlich auf dem Bildschirm erschien.
»Cam, wo wurde das aufgenommen?«
»Haupteingang. Ach, Mist, schauen Sie auf den Zeitcode – 9:11 Uhr.«
Schweiß tropfte von Captain Zwawas Gesicht. Er widerstand dem Drang, sich die stickige Kapuze vom Kopf zu reißen. »Spulen Sie das Band vor. Wohin geht sie?«
Das Bild sprang von einem Kamerawinkel zum nächsten und folgte Mary Klipot durch mehrere Kontrollpunkte, bis sie den Saal der Generalversammlung betrat. In dem abgedunkelten Auditorium verloren sie ihre Spur.
»Holen Sie einen Security-Trupp …«
»Sir, einen Augenblick!« Das Bild wechselte zurück auf den Flur. »Schauen Sie, sie ist rausgegangen. Sehen Sie? Sie spricht mit jemandem vom Sicherheitsdienst. Geht zu den Aufzügen.«
Das Gewicht der Zeit erwies sich als zusätzliche Erschwernis für Jay Zwawa. Nachdem er schon eine Stunde verloren hatte, stand ihm nun das Wasser bis zum Hals, und jede Minute Band zeigte ein weiteres potenziell infiziertes Opfer, jede Sekunde, die verstrich, ermöglichte Scythe, sich im gesamten Komplex der Vereinten Nationen auszubreiten.
»Das dauert zu lange. Lassen Sie das Band schneller laufen. Ich muss wissen, ob sie noch in dem Gebäude ist. Cook, wir werden den Namen von jeder Person brauchen, mit der sie in Kontakt kam, dann will ich den Namen von jeder Person, mit der diese Leute in Kontakt kamen.«
»Sind Sie verrückt? Sie sprechen von Hunderten, vielleicht Tausenden von Menschen. Dazu habe ich nicht genügend Leute …«
»Die Frau, hinter der wir her sind, hat sich möglicherweise selbst mit einer sehr ansteckenden, sehr tödlichen Form von Beulenpest infiziert. Jede Person, der sie auf Atemdistanz nahe kam, ist ein potenzielles Opfer und möglicher Überträger. Machen Sie Ihren Job, machen Sie ihn schnell, und niemand verlässt diesen Raum.«
Zwawa zog ein Handy aus dem Allzweckgürtel seines Schutzanzugs. Mit einem behandschuhten Zeigefinger wählte er eine einprogrammierte Nummer, während seine andere Hand die Regler des im Innern seiner Kapuze befindlichen Headsets bediente …
… und vom Befehlsstand in Fort Detrick auf die abhörsichere Handynummer seines älteren Bruders umschaltete.
Fort
Detrick,
Frederick,
Maryland
Die Kommandozentrale von Fort Detrick war zum zentralen Kommunikationsknotenpunkt geworden und verband Oval Office, Pentagon und verschiedene Kongressabgeordnete im babylonischen Stimmengewirr einer endlosen Debatte. John Zwawa, der es leid war, zuzuhören, wie die Vereinigten Stabschefs mit dem Vizepräsidenten und seinen Mitarbeitern stritten, war auf dem Weg in die Zuflucht seines Büros, als sein privates Handy unhörbar in seiner Gesäßtasche vibrierte. »Sprechen Sie.«
»Gemein, hier ist Fein. Kannst du reden?«
»Bleib dran, Jay.« Der Colonel schloss seine Bürotür, um mit seinem Bruder zu sprechen. »Wie schlimm ist es?«
»Es ist ein Riesendurcheinander mit Tentakeln. Alle, die im Saal der Generalversammlung waren, wurden infiziert. Wir sind nicht sicher, wie schlimm, aber der Präsident ist im Augenblick da drin und spricht zu den Verdammten. «
»Verflucht, Jay Zee, hol ihn da raus.«
»Na klar. Sag mir einfach, wie ich das machen soll, ohne eine allgemeine Panik auszulösen, die ich nicht mehr eindämmen kann.«
Der Colonel überlegte fieberhaft. »Bombenalarm. Ich werde den Secret Service alarmieren. Dein Team soll sich außerhalb des Sitzungssaals bereithalten. Nimm die Burschen von der ESU, um die Delegierten zu ihren Büros im Sekretariatsgebäude zu dirigieren, wir werden sie von dort wegschleusen. Sobald sie isoliert sind, wird es für die Teams von der Seuchenschutzbehörde leichter sein, die Menschen von Stockwerk zu Stockwerk zu untersuchen. «
»Was ist mit dem Präsidenten?«
»Weise ihm und seinem Stab eine eigene Etage abseits von den anderen zu. Aber Jay, niemand verlässt die Plaza, bis Scythe eingedämmt ist, und ich meine: niemand! Ist das klar?«
»Die Leute des Präsidenten könnten darauf bestehen, ihn hier rauszubringen.«
Colonel Zwawa blickte aus seinem Bürofenster auf die Wand aus Monitoren und das Dutzend Brustbilder. »Diese Möglichkeit wird von den Pentagon-Arschlöchern bereits diskutiert, die uns in diesen Schlamassel reingeritten haben. Zum Glück bin ich verantwortlich, wenn es um Eindämmung geht, hier sind daher meine Befehle, nur für deine Ohren: Niemand verlässt die UNO. Wenn die Leute des Präsidenten durchdrehen, lautet dein Befehl, seinen Secret-Service-Trupp außer Gefecht zu setzen.«
»Sportsfreund, man nennt dich nicht umsonst Gemein.«
»Tu, was du tun musst, Jay Zee. Die Leichen sortieren wir später aus, wenn sie uns den Prozess machen. Wo ist Jesse?«
»In der Gasse, sucht nach dem Diplomatenkoffer.«
East
46th Street,
Seitengasse
Tudor City, Manhattan, New
York
10:42 Uhr
Jesse Zwawa und drei Mitglieder des Delta-Teams betraten die Gasse. Gummistiefel arbeiteten sich durch Abdrücke von Reifenspuren im Schnee zwischen Pfützen aus Schneematsch. Wind heulte durch die Passage, gedämpft von schützenden Kapuzen. Orangefarbene Überdruckanzüge und autonome Atemschutzgeräte. Astronauten, an die Erde gebunden, um ein unsichtbares Beutetier zu bekämpfen. Drei Männer hatten Marschgepäck und Greifarme dabei, der älteste trug einen medizinischen Notfallkoffer.
Dr. Arnie Kremer hinkte auf einer Seite, er hatte noch zwei Wochen bis zu einer Hüftoperation. Er war zu klein für den ihm zugeteilten Schutzanzug, der sich um seine Knie bauschte, was das Gehen erschwerte. Noch vor einer Stunde hatten der Reservist und seine Frau an einem All-you-can-eat-Büffet im Tropicana Resort in Atlantic City ihr Frühstück genossen. Der Beginn eines einwöchigen Urlaubs – abgebrochen von Uncle Sam. Der Arzt stolperte in den Mann vor ihm. Die Gruppe war unvermittelt stehen geblieben.
Captain Zwawa war fünfzehn Meter von dem Müllcontainer entfernt, ein GPS in der Hand. Das Objekt, das sie suchten, war in dem Abfallbehälter, aber irgendetwas lag auf dem Boden unmittelbar vor Zwawa. Auf den ersten Blick hatte der Kommandant es für einen zerlumpten Haufen nasser Kleidungsstücke gehalten …
… nur dass er sich jetzt bewegte.
»Dr. Kremer, an die vorderste Front.«
Arnie Kremer schloss zum Captain auf. Die feuchte Masse wurde durch die ungestüme Anwesenheit von einem Dutzend oder mehr Ratten verdeckt, jede so groß wie ein Football. Ihr schwarzes Fell war glitschig von verspritztem Blut. Sie taten sich gütlich – aber an was?
»Ist das ein toter Hund?«
»Sehen wir nach.« Zwawa streckte seinen Greifarm aus. Beschimpfte die wuselnde Masse, während er den Haufen herumdrehte, aber die Nager ließen sich nicht stören.
Beide Männer fuhren zurück. Kremer würgte im Innern seiner Kapuzenmaske.
Es war ein Wartungsarbeiter. Die Ratten hatten die rechte Gesichtshälfte des Mannes und beide Augen gefressen. Zwei Männchen kämpften um einen Sehnerv, der noch aus einer leeren Augenhöhle herausstand wie ein Spaghetto. Der Rest verschlang das, was vom Magen des Mannes noch übrig war, und erinnerte dabei an eine Horde Welpen, die an den Zitzen ihrer Mutter saugten. Die Nager krochen über und in die inneren Organe und versetzten den zum Bersten vollen Bauch des Opfers dadurch in wellenförmige Bewegung.
Als eine vor Blut triefende Ratte aus dem Mund des toten Mannes kroch, drehte Zwawa durch. Im Zurückweichen riss er seinen rechten Arm aus dem Ärmel des Schutzanzugs, fuhr sich dann mit der Hand über die Brust nach oben zu der im Innern befestigten Kotztüte und schob sie sich über den Mund, eine Sekunde bevor er sein Frühstück wieder hochwürgte.
Der Rest des Delta-Teams summte vor sich hin, biss die Zähne fest zusammen und versuchte nach Kräften, nicht auf die widerlichen Geräusche zu hören, die über die Kopfhörer kamen.
Ryan Glinka, der stellvertretende Kommandeur des Trupps, ging zu seinem befehlshabenden Offizier: »Alles in Ordnung, Captain?«
Zwawa nickte. Er verschloss die Kotztüte und verstaute sie in einer Innentasche, dann drehte er sich zu seinen Männern um. »Mr. Szeifert, ich glaube, das hier ist Ihr Fachgebiet.«
»Ja, Sir.« Gabor Szeifert trat vor, aber nicht zu nahe. Für den Tierarzt und Tierseuchenspezialisten aus Ungarn markierte der heutige Einsatz seine erste wirkliche Felderfahrung. »Irgendetwas stimmt da nicht. Ratten fressen normalerweise nicht so. Sie scheinen stimuliert zu sein.«
»Shh! Hören Sie zu.« Ryan Glinka bat mit erhobener Hand um Ruhe.
Über den heulenden Wind und den Lärm einer fernen Sirene hinweg konnten sie schnelle, dumpfe Schläge hören, die aus dem Innern des Stahlcontainers kamen. Während sie lauschten, huschte eine schwarze Ratte das braune, rostige Metall hoch und sprang in den Sammelbehälter.
Dr. Kremer bekam eine Gänsehaut im Innern seines Schutzanzugs.
Captain Zwawa befestigte einen Haken an seinem Greifarm und gab ihn Szeifert. »Bergen Sie den Koffer – seien Sie nur vorsichtig!«
Gabor näherte sich dem Stahlcontainer, während weitere Ratten auftauchten und in wilder Hast in den Abfallbehälter hinein und wieder hinaus flitzten. Der ungarische Wissenschaftler beugte sich weiter vor, um einen Blick über den Rand des offenen Containers zu werfen. Er sah hinein …
»Nem értem …«
Es war eine Orgie aus schwarzen Leibern mit fleischfarbenen Schwänzen, die zerrten, knirschend bissen und übereinanderkletterten bei dem Versuch, an etwas zu gelangen, das unter dem sich bewegenden Haufen begraben war. Ein Kaleidoskop der Lebenden und der Toten, der Verletzten und der Verstümmelten – alle Teil einer aufgewühlten nagenden Masse, die sich bewegte wie eine einzige schwarze Flut.
»Mr. Szeifert!«
»Entschuldigung, Sir. Ich sagte, dass ich es nicht verstehe. Hier sind so viele von ihnen. Wir müssen …«
Eine einzelne Ratte sprang auf Gabors Schulter. Der Tierarzt versuchte das Vieh wegzuschlagen, als es wie wild an seinem Schutzanzug nagte. Unterstützt von zwei weiteren, dann noch einer, dann dreien und vieren und von viel zu vielen, um sie zählen, während die offene Kante des Müllcontainers zum Ausgangspunkt des nächsten Büffets wurde.
Der Veterinär stolperte auf Dr. Kremer zu. Schwarze Ratten schwärmten über die Schultern beider Männer, klammerten sich an Rücken und Oberschenkel und machten sich mit ihren krallenbewehrten Pfoten und scharfen Zähnen über die Schutzanzüge der flüchtenden Soldaten her …
… und fielen sofort zu Boden wie behaarte Bündel, während ihre winzigen Beine in Krämpfen zuckten, als Ryan Glinka sie mit komprimiertem Kohlendioxid aus einer Flasche vergiftete.
Mit einer CO2-Granate in seiner behandschuhten Hand trat Jesse Zwawa über die keuchenden Nager. »Hat irgendjemand Lust auf Ratatouille?« Er zog den Sicherungsstift und warf die Granate in den Abfallbehälter.
Boom!
Zerfetzte Ratten schossen aus dem Container in alle Richtungen, und das metallische Gong hallte in den Ohren der Männer wider, während eine wirbelnde CO2-Wolke sich über dem beschädigten Müllcontainer verflüchtigte.
Dr. Kremer bekämpfte einen Würgreflex und zwang sich, verfilzte schwarze Haare und blutigen Kot von seinem Visier abzuwischen. »Das war ein bisschen radikal, finden Sie nicht?!«
»Wir brauchen den Diplomatenkoffer. Ich schätze, er ist irgendwo unter dem Haufen begraben.«
»Wenn das stimmt, könnten die Ratten Überträger sein. Ich werde lebende Exemplare brauchen, um toxikologische Tests durchführen zu können.«
»Wenn Sie lebende Ratten wollen, ziehen Sie sie von Gabor ab. Wenn Sie Rattentatar wollen, hier ist ein ganzer Container voll von diesen Scheißviechern.« Jesse Zwawa ging um die Rückseite des Stahlbehälters herum und stemmte seine hundert Kilo gegen den schwelenden Behälter …
… bis der Müllcontainer nach vorn krachte und seinen Inhalt über den mit Abfall übersäten Asphalt verstreute.
Ryan Glinka streckte seinen Greifarm aus und durchforstete den feuchten Haufen Nagetierüberreste, bis er den offenen Diplomatenkoffer zu fassen bekam.
Die Ratten hatten ihn bis zur Unkenntlichkeit zerbissen. Alles, was noch übrig war, war ein Stück vom Griff und ein knapp fünfzig Zentimeter langes blankes Metallprofil, an dem ein blutbeschmiertes Scharnier baumelte.
Glinka hielt seinem befehlshabenden Offizier das Stück Metall in der Luft hin. »Ich glaube, wir haben Probleme, Sir. Captain?«
»Hier drüben.« Jesse Zwawa hatte sich auf ein Knie niedergelassen und seine Taschenlampe auf die Öffnung eines geborstenen Abflussrohrs gerichtet, das entlang der Ziegelverblendung des angrenzenden Gebäudes verlief. Der Lichtstrahl beleuchtete winzige, rote Augenpaare, mit denen die infizierten Nager aus ihrem Loch zu ihm zurückstarrten …
… und warteten.

