»Wir in den Regierungsräten müssen uns vor unbefugtem Einfluss – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – durch den militärisch-industriellen Komplex schützen. Das Potenzial für die katastrophale Zunahme fehlgeleiteter Kräfte ist vorhanden und wird weiterhin bestehen.«
PRÄSIDENT DWIGHT D. EISENHOWER
DEZEMBER
VA Medical
Center
East Side, Manhattan, New
York
15:37 Uhr
Das Komische war, er war nie gerne gelaufen. Nicht auf der Highschool, als Coach Segal es von allen seinen Werfern verlangt hatte. Nicht auf der Rutgers, als seine Verlobte für das Feldhockey-Team trainierte und darauf bestand, dass er ihr auf diesen Vier-Meilen-Touren um den Universitäts-Golfkurs Gesellschaft leistete. Und ganz bestimmt nicht, als er in den unteren Ligen warf.
Warum also machte er es jetzt gerne?
Über den Classic-Rock-Radiosender plärrte »Help!« von den Beatles, während der in den Heimtrainer eingebaute Wegstreckenzähler sich der Zwei-Meilen-Marke näherte.
Er machte es gerne, weil er sich durch die Herausforderung wieder lebendig fühlte, und jedes Gefühl, das sich von seiner gewöhnlichen Weltuntergangsstimmung unterschied, war eine gute Sache. Er machte es gerne, weil er sich dann weniger selbstzerstörerisch vorkam, etwas, das Dr. Nelson den »Glücksendorphinen« zuschrieb, die in seinem Gehirn freigesetzt wurden. Vor allem aber lief Patrick Shepherd gerne, weil er beim Laufen klarer denken konnte, weil es ihm half, sich an Dinge zu erinnern. Beispielsweise daran, dass seine Verlobte ihn damals auf der Rutgers zwang, über den Golfkurs zu rennen. Oder daran, dass auch sie ihr Studium einem Sportstipendium verdankte. Daran, dass …
Der Song wechselte. Er hat die Melodie seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr gehört, und der Text lässt eine andere verschlossene Erinnerung aufbrechen. Die Worte, gesungen von dem verstorbenen Jim Morrison, reißen die Kluft in seinem Herzen auf: »Before you slip into unconsciousness, I’d like to have another kiss. Another flashing chance at bliss, another kiss, another kiss …«
Der einarmige Läufer stolperte, und seine rechte Hand packte kurz den Stützbalken, bevor seine Beine unter ihm hinausrollten und der Heimtrainer ihn auf die Gummimatten ausspuckte.
»The days are bright and filled with pain, enclose me in your gentle rain. The time you ran was too insane, we’ll meet again, we’ll meet again …«
Patrick rollte sich herum. Mit blutender Nase und leicht benommen lehnte er sich an die Wand, um sich den Rest des Songs von den Doors anzuhören … Die gestrichenen Betonziegel waren identisch mit den Wänden in dem alten Zimmer seiner Verlobten im Studentenwohnheim.
Er sitzt auf dem Boden, mit dem Rücken an die Wand ihres Zimmers gelehnt. Im Kassettendeck läuft »The Crystal Ship«, die blonde Studentin in der verschmutzten Feldhockey-Montur starrt ihn vom Bett aus an, und ihre braungrünen Augen sind blau getönt vor Tränen.
»Bist du sicher?«
»Frag mich nicht noch mal. Wenn du mich noch mal fragst, Patrick, dann werd ich dir den Teststreifen in den Arsch schieben, und dann werden wir sehen, ob du schwanger bist.«
»Okay, okay. Bloß keine Panik. Jedenfalls jetzt noch nicht. In welchem Monat bist du?«
»Ich weiß nicht. Im ersten oder zweiten vielleicht.«
»Solltest du’s nicht wissen?«
»Solltest du’s nicht, Mister ›Es-dürfte-nichts-passierendu-wirst-noch-weitere-acht-Tage-keinen-Eisprunghaben ‹? O Gott, mein Vater bringt mich um, wenn er’s erfährt. «
»Ich hab eine Idee – wir sagen’s ihm einfach nicht. Wir bringen dich in die Klinik, sie tun, was immer sie tun, und dann nimmst du die Pille.«
Sie wirft einen ihrer Feldhockey-Schienbeinschoner nach seinem Gesicht, der ihn direkt auf der Nase trifft, sodass sie blutet. »Erstens kosten Abtreibungen Geld, etwas, das keiner von uns beiden im Moment hat. Zweitens wächst da ein Baby in meinem Bauch – unser Baby. Ich dachte, du würdest vielleicht anders reagieren. Ich dachte, ich wäre deine Seelengefährtin? «
»Bist du auch. Aber was ist mit unseren Plänen? Du wolltest promovieren, und ich bin noch zwei Jahre wählbar, in denen ich vor der Amateur-Nachwuchsrekrutierung mein Repertoire verbessern kann.«
»Promovieren kann ich trotzdem.«
»Sie werden dein Stipendium annullieren.«
»Ich werd zwei Urlaubssemester nehmen.«
»Gut, sicher. Aber im Ernst – bist du wirklich bereit, ein Kind zu bekommen?«
»Ich weiß nicht.« Sie bedeckt ihr Gesicht und weint hemmungslos.
Patrick ist sprachlos; so hat er sie noch nie gesehen. Er greift nach ihrem Handgelenk und zieht sie hinunter auf den Fliesenboden neben sich, wo er sie auf dem Schoß hält, als wäre sie ein kleines Mädchen.
»The Crystal Ship« endet und weicht wie zum Spott den ersten Worten des Texts von »You Can’t Always Get What You Want«. Und in diesem bemerkenswerten Moment der Klarheit ändert sich alles für Patrick Ryan Shepherd. Die Lösung ist plötzlich klar, als hätte seine Pubertät soeben den Stab der Jugend an das Erwachsenenalter weitergereicht.
»Gut, hier ist eine andere Möglichkeit. Du bleibst auf der Uni, während ich mich für die Nachwuchsrekrutierung im nächsten Monat melde. Ich werde keinen Agenten anheuern, sodass ich noch meinen Amateurstatus behalte. Wenn ich rekrutiert werde, nehmen wir die Antrittsprämie, um die Windeln zu bezahlen. Wenn nicht, beende ich mein Junior-Jahr und arbeite nachts, um die Auslagen für das Kind zu bezahlen. Wie klingt das?«
Sie hört auf zu weinen. Ihr Gesicht ist tränen-und vom nachmittäglichen Training schweißüberströmt. »Das würdest du wirklich tun?«
»Unter einer Bedingung – heirate mich.«
»… das waren die Doors. Dies ist Ihr Sender für Classic Rock, die Zeit: Es ist jetzt 15:45 Uhr. Und als Nächstes nach der Unterbrechung spielen wir die Beach Boys …«
Das Radio wurde ausgeschaltet. »Shep, geht es Ihnen gut?«
Patrick blickte hoch zu Dr. Nelson, seine Nasenlöcher waren voller Blut. »Ich bin noch nie gerne gelaufen. «
»Ich hab Ihnen gesagt, Sie sollen nicht so schnell laufen, Ihr Gang ist aus dem Gleichgewicht. Sie werden sich mehr als Herr Ihrer selbst fühlen, wenn Ihre Armprothese eintrifft.«
»In welchem Jahr wird das sein?«
»Ganz ehrlich, ich wollte, ich wüsste es. Sind Sie noch immer einverstanden mit heute Abend?«
»Sind Sie sicher, dass es kein Blind Date ist?«
»Es ist bloß ein Abendessen. Aber Sie werden meine Schwester mögen; sie ist echt ein Knaller.« Leigh öffnete die lederne Aktentasche, die an einem Schulterriemen hing. »Shep, ich habe etwas, das Ihnen gehört. Ich werde es Ihnen zeigen, weil ich glaube, dass es Ihnen vielleicht hilft, sich an den Namen Ihrer Frau zu erinnern. Ich will nur nicht, dass Sie sich aufregen. Glauben Sie, Sie können damit umgehen?«
»Was ist es?«
»Sagen Sie’s mir.« Sie holt das ledergebundene Buch aus der Aktentasche.
Shep richtet sich mit einem Ruck auf und starrt auf das Objekt aus seiner Vergangenheit. »Dantes Inferno. Meine Frau hat es mir gekauft, als wir auf der Rutgers waren. Es war ihr Lieblingsbuch. Woher haben Sie es?«
»Aus Ihrem Apartment in Brooklyn.«
»Ich habe ein Apartment in Brooklyn?«
»Ja. Aber Sie sind nach Ihrem letzten Einsatz nicht mehr dort gewesen. Shep, erzählen Sie mir von dem Buch. Woran können Sie sich erinnern? Warum war es so wichtig, dass Sie es unter dem Kopfkissen aufbewahrten?«
Sheps Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Es bedeutete mir etwas, weil es ihr etwas bedeutete.«
»Aber Sie können sich noch immer nicht an ihren Namen erinnern?«
Er schüttelte den Kopf. »Er ist da, er ist so nahe.«
»Sie hat eine Mitteilung für Sie auf das Titelblatt geschrieben. Lesen Sie sie, schauen Sie, ob es hilft.«
Mit zitternder Hand schlug Patrick das Buch auf, um die erste Seite zu lesen:
Für das Opfer, das Du
Deiner Familie bringst.
Von Deiner Seelengefährtin, immer in ewiger
Liebe.
Patrick schloss die Augen und drückte das Buch an seine Brust. »Beatrice. Der Name meiner Frau ist Beatrice.«
Oval Office, Weißes
Haus
Washington, D. C.
Präsident Eric Kogelo blickte von seinem Schreibtisch auf, als einer seiner leitenden Berater zu ihrer planmäßigen Besprechung das Oval Office betrat. »Setzen Sie sich, ich bin gleich bei Ihnen.« Kogelo fuhr fort, mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen. Während er der First Lady eine SMS sendete, hörte er am Telefon seinem Stabschef zu.
Der ältere Mann mit dem seidigen weißen Haar und den nach oben gerichteten Augen blickte sich im Oval Office um und machte keinen Hehl aus seiner Geringschätzung.
Der Sitz der Macht. Das Büro des mächtigsten Mannes auf dem Planeten. Und die Öffentlichkeit glaubte es noch immer. Amerika war wie ein Schachbrett, der Präsident sein König, eine bloße Galionsfigur, fähig zu Trippelschritten, kaum größer als die eines Bauern. Nein, die wahre Macht waren nicht die Figuren auf dem Schachbrett, es waren die unsichtbaren Spieler, welche die Figuren bewegten. Die CIA übte redaktionellen Einfluss auf alle bedeutenden Fernsehkanäle, Radiosender und privaten Medien im Lande aus. Die Krankenversicherer und Pharmaunternehmen führten die Medizinbranche, während die Ölmultis den Energiesektor monopolisierten. Aber es war der militärisch-industrielle Komplex, der die Welt führte, eine dunkle Königin, deren Fangarme in die Brieftasche fast jedes Politikers und quer durch die Wall Street reichten und die die Kasse verwaltete, mit der Revolutionen und Terrorakte angezettelt und letztendlich Kriege begonnen wurden.
Er blickte quer durch den Raum auf das Ölgemälde von JFK. Eisenhower hatte Kennedy vor dem unkontrollierten Aufstieg der CIA und ihres militärisch-industriellen Komplexes gewarnt. JFK war entschlossen, den Geheimdienst aufzulösen und »seine Einzelteile in alle Winde zu zerstreuen«. Einen Monat später fiel der Präsident einem Attentat zum Opfer, womit nachdrücklich demonstriert wurde, wer wirklich an den Schalthebeln saß. Die Demokratie war an ihr Ende gekommen, die Freiheit bloß noch eine zweckmäßige Illusion, die die Massen unter Kontrolle halten sollte.
Präsident Kogelo steckte den BlackBerry in seine Jackentasche und wandte seine Aufmerksamkeit seinem Gast zu.
»Ich bitte um Entschuldigung. Kleinigkeiten in letzter Minute vor meiner Abreise nach New York.«
»Betreffen irgendwelche dieser Kleinigkeiten mich?«
Kogelo lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Der Verteidigungsminister wird in drei Stunden zurücktreten. «
»Ist das amtlich?«
»Er hat mir keine Wahl gelassen. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist ein Mitglied meiner Regierung, das verbale Granaten auf den Verhandlungstisch abfeuert.«
»Wenn Sie mich fragen, seine Bemerkungen letzte Woche waren berechtigt. Die Russen hätten Teheran ohne Zustimmung Chinas keine Interkontinentalraketen verkauft. «
»Kann schon sein. Aber dieses Feuer muss gelöscht und nicht mit Benzin übergossen werden.«
»Bieten Sie mir einen Posten an?«
»Sie haben die Erfahrung, außerdem haben Sie Verbündete in beiden Parteien. Bei allem, was gerade im Persischen Golf los ist, könnten wir eine schnelle Bestätigung gebrauchen. Was sagen Sie?«
Der Nationale Sicherheitsberater Bertrand DeBorn grinste breit.
»Mr. President, es wäre mir eine Ehre.«
Hoboken, New
Jersey
17:18 Uhr
»Shepherd, wussten Sie, dass Hoboken der Schauplatz des allerersten Baseball-Spiels war?«
Patrick konzentrierte sich auf das von Jackson Pollock inspirierte Spaghetti-Motiv auf seinem Teller, noch immer zu entmutigt von seiner Umgebung, um Blickkontakt mit Leigh Nelsons Mann oder ihrer jüngeren, weniger kultivierten Schwester Bridgett aufzunehmen.
»Elysian Field, 1846. Die Knickerbockers gegen die New York Nine. Wir waren immer große Baseball-Fans. Bridgett liebt Baseball, nicht wahr, Bridge?«
»Hockey.« Bridgett Deem spülte einen Mund voll Brokkoli runter mit dem bisschen, was von ihrem dritten Glas Wein noch übrig war. »Früher wenigstens.« Sie wandte sich Patrick zu. »Mein Ex … Er hat mir und meiner Freundin immer Saisonkarten für die Rangers besorgt. Später kam ich dahinter, dass er mich bloß weghaben wollte, damit er in unserer Wohnung seine Sekretärin ficken konnte, solange ich beim Spiel war.«
Leigh verdrehte die Augen. »Bridge. Müssen wir das wirklich so genau wissen?«
»Das erinnert mich an einen Witz«, prustete Doug los, und ein jungenhaftes Grinsen begleitete seine Überleitung. »Shepherd, kennen Sie den von der Frau, die stinksauer ist auf ihren Mann, weil er ihr zu ihrem Geburtstag kein Geschenk gekauft hat? Der Mann sagt: ›Warum sollte ich noch mehr Geld für dich verschwenden? Letztes Jahr hab ich dir eine kleine Grabstätte gekauft, und du hast sie immer noch nicht benutzt.‹«
Patrick hustete, ein Lächeln verbergend.
Leigh boxte ihren Mann gegen die Schulter. »Für dich ist alles ein Witz, nicht wahr?«
»He, ich versuch einfach, die Dinge leichter zu nehmen. Bridgett hat kein Problem damit. Nicht wahr, Bridge?«
»Klar, Doug. Ich wusste schon, dass Männer gefühllose Mistkerle sind. Danke für den Beitrag.« Sie wandte sich Shep zu. »Barry erzählte mir immer, ich sei seine Seelengefährtin. Eine Zeit lang hab ich ihm tatsächlich geglaubt. Zehn Jahre, man meint, man würde jemanden kennen, aber kaum dreht man ihm den Rücken zu, haut er ab …«
Patrick krampfte sich das Herz in der Brust zusammen, als wäre ein Stilett hineingestoßen worden. Er kniff die Augen zusammen.
Das Blut wich aus Leighs Gesicht. »Bridgett, hilf mir beim Abwasch.«
»Ich bin noch nicht fertig mit Essen.«
Sein linker Arm kündigt seine Rückkehr an. Der in Lava getauchte Körperteil. Das Fleisch löst sich von seinem Unterarm. Seine Finger, voller Säure, fallen ab. Ein Gummihammer schlägt auf seinen Hinterkopf ein. Sein Körper zuckt krampfhaft. Atme, Arschloch!
Die Hintertür flog auf, und der siebenjährige Sohn der Nelsons, Parker, stürzte herein. Die Anwesenheit des Jungen lenkte die zudringlichen Blicke von seinem inneren Kampf ab.
»Mami, du bist zu Hause! Ich hab dich vermisst.«
»Ich hab dich auch vermisst. Wie war das Naturkundemuseum? «
»Gut. Autumn hat wieder Ärger gekriegt.« Der Kopf des Jungen drehte sich, um den Fremden anzusehen. Bemerkenswerte blaue Augen richteten sich auf Patricks leeren linken Ärmel. »Mami, wo ist sein Arm?«
Aus der heißen Dunkelheit hinter seinen zusammengekniffenen Augen, inmitten des herabtropfenden Fleisches und des sich fest zusammenpressenden Herzens, flüsterte eine Stimme verzweifelt in Patricks Gehirn. Raus hier!
»Schon in Ordnung, Liebling. Das ist Patrick …«
»Toilette!« Er war so schnell auf den Beinen, dass es den Jungen erschreckte. Er umarmte seine Mutter.
Sein Vater zeigte mit dem Finger, bis er die Worte finden konnte. »Flur. Linker Hand.«
Patrick bewegte sich durch violette Lichtflecke in fest gewordener Luft mit Muskeln, die er kaum kontrollieren konnte. Halb blind betrat er die Toilette und schloss sich in der Porzellanzuflucht ein. Schweißflecken hatten seine Kleidung durchnässt. Der blasse Mann mit den langen, verfilzten braunen Haaren erwiderte seinen abwesenden wütenden Blick im Spiegel. Gedämpftes Geschimpfe aus der Küche störte grob die leise Stimme in seinem Kopf, während irre Augen eine angeklebte Notiz suchten, die nicht da war.
Die Gedanken rissen sich los, um die quatschende hispanische Frau zu belauschen.
»Na los, Autumn! Erzähl deinem Vater, was du getan hast.«
»Lass mich in Ruhe!«
»Ich werde dich in Ruhe lassen, wenn du noch mal wegläufst!«
»Sophia, bitte.«
Das schreiende Kind entwand sich der Frau und stieß dabei Patricks Spaghetti-Teller um. Die Kleine wich dem Griff ihres Vaters aus und flüchtete den Flur hinunter, wobei sie Zeter und Mordio schrie, als sie die Treppe hoch in ihr Zimmer stapfte.
»Autumn, komm hierher zurück! Doug?«
»Nicht ich, Leigh. Sie braucht ihre Mutter.«
»Ich kann sie nicht bändigen, Mrs. Nelson«, ereiferte sich das Au-pair-Mädchen. »Sie weigert sich, angeschnallt zu bleiben, sie rennt weg, wenn ich mit ihr spreche. Das Kind ist zu aufgedreht für jemanden in meinem Alter. Ich werde nicht fertig mit ihr.«
»Es ist schon spät – ich sollte wohl gehen.« Bridgett drückte die Schulter ihrer Schwester, mit einem Mal dankbar, dass ihre Ehe kinderlos blieb. »Das Essen war köstlich. Ich ruf dich morgen an.« Sie senkte die Stimme. »Möchtest du, na ja, dass ich Patrick am Krankenhaus absetze?«
»Patrick!« Leigh übergab Parker ihrem Mann und hetzte den Flur hinunter zu der verschlossenen Badezimmertür. »Shep, sind Sie okay?« Keine Antwort. Ihr stockte das Herz. »Shep? Verdammt, Shep, machen Sie die Tür auf!«
Sie drehte den Knauf. Überrascht, die Tür unverschlossen vorzufinden, holte sie kurz Luft und schob sich hinein. Sie machte sich darauf gefasst zu schreien: RUF 9-1-1 an, während sie ihre Berufswahl und die Maßlosigkeit und Ignoranz verfluchte, die dazu geführt hatten, dass …
… leer.
Sie überprüfte das Fenster. Verschlossen und verriegelt. Er ist noch in deinem Haus. Finde ihn schnell, bevor …
Sie verließ das Badezimmer und nahm zwei Treppenstufen auf einmal. Hektisch durchsuchte sie Parkers Zimmer, dann ihr großes Schlafzimmer und das Bad. Sie sah in dem begehbaren Wandschrank nach. Unter dem extragroßen Bett. Nichts außer dem Plüschtier ihrer Tochter.
Der Kern eines Gedankens verfestigte sich zum schlimmsten elterlichen Albtraum. »Autumn …«
Mutter Bär raste quer durch den Flur in das Schlafzimmer ihres Jungen. Die »Dora the Explorer«-Lampe auf dem Schreibtisch des Kindes beleuchtete die zwei reglosen, ineinander verschlungenen Gestalten auf dem Bett.
Doug gesellte sich schweigend zu ihr.
Patricks Kopf wurde von Kissen gestützt. Seine Augen waren geschlossen. Auf der Brust des einarmigen Mannes lag zusammengerollt die Tochter der Nelsons.
Zwei aufgewühlte Seelen. Getröstet im Schlaf.
Frederick,
Maryland
2:05 Uhr
Das Bauernhaus lag auf zwölf Morgen im ländlichen Frederick County. Errichtet im Jahr 1887, war das Haus baulich in gutem Zustand, nachdem seine früheren Bewohner das Fundament gestützt, das Dach ersetzt und die Außenmauern renoviert hatten. Noch immer blieb viel Arbeit zu tun – die verrottende Scheune war ein Schandfleck, der unbedingt abgerissen werden musste –, aber die neue Besitzerin, die in den letzten drei Schwangerschaftsmonaten war, hat kaum für irgendetwas anderes Zeit gehabt als für ihre Arbeit und die Ausstaffierung des Kinderzimmers für ihr ungeborenes Kind.
Mary Louise Klipot hatte das Haus bei einer Versteigerung erworben, nachdem die Bank den Vorbesitzern die Hypothek gekündigt hatte. Die Lage war ideal – abgeschieden, doch in der Nähe mehrerer Einkaufszentren und nur zwanzig Autominuten von Fort Detrick entfernt.
Andrew Bradosky war zwei Wochen nach seinem Heiratsantrag eingezogen.
»… während Bertrand DeBorn heute, am Vorabend eines globalen Gipfels, die Pflichten des amtierenden Verteidigungsministers übernimmt. Uns zugeschaltet ist jetzt der politische Analyst von Fox News, Evan Davidson. Evan, welche Auswirkungen wird Präsident Kogelos Entscheidung, seinen Verteidigungsminister zu entlassen, Ihrer Meinung nach auf den morgigen Gipfel haben?«
Mary betrat von der Küche aus das Wohnzimmer, in jeder Hand einen Becher Kakao. Sie reichte eine Tasse Andrew, der neben dem Kamin kniete und noch ein Scheit auf die verlöschende Glut legte. »Liebling, probier mal, ob er heiß genug ist.«
Andrew nahm mehrere Schlucke von dem heißen Getränk und wischte sich die Schlagsahne von der Oberlippe. »Mmm, der ist gut. Mary, können wir unser Gespräch zu Ende führen?«
Halb setzte Mary sich, halb sank sie in den gepolsterten Schaukelstuhl. Ihr tat das Kreuz weh.
»Ich hab dir gesagt, Scythe müsste bis März, spätestens bis April fertig sein.«
»April?« Mit einem Schürhaken auf die Glut einstechend, entzündete Andrew das Scheit, dann hockte er sich auf die Schwelle vor dem Kamin und sah sie an. »Mary, Timing ist alles. Bis April könnten wir in eine ausgewachsene Invasion verwickelt sein. Das Letzte, was wir wollen, ist, dass die CIA zu der Überzeugung gelangt, wir seien ersetzbar …«
»Andy, für den Fall, dass du es vergessen hast: Das Baby soll in ein paar Wochen kommen.«
»Der Arzt sagte, Januar.«
»Der Arzt irrt sich. Außerdem nehme ich mir mindestens sechs Monate frei zum Stillen.«
»Sechs Monate? Mary, jetzt hör aber auf. Die Zukunft der freien Welt steht auf dem Spiel!«
»Sei nicht so melodramatisch. Ich hab ohnehin nur Spaß gemacht. Scythe ist dem Zeitplan um einiges voraus. Jetzt trink deinen Kakao aus, damit du mir die Füße massieren kannst.«
»Oh Mann, du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.« Erleichtert leerte er den Becher und wischte sich den Mund mit dem Hemdsärmel ab. »Aber ernssa… ernssaff… ernss…« Andrew ging in die Knie, und die gleiche Taubheit, die er in seinen Lippen spürte, kroch ihm die Beine hoch. »Wa… wie…?«
»Keine Bange, Liebling, die Lähmung wird deine Atmung wahrscheinlich nicht beeinflussen – vorausgesetzt, ich habe die Dosis richtig bemessen. Du sagtest doch, du wiegst 91 Kilo? Oje … Ich hab dein Asthma vergessen. Fällt dir das Atmen schwer?«
Mary nippte an ihrem Kakao und zuckte leicht zusammen, als Andrew Bradosky mit der Stirn auf den Ahorn-Holzfußboden schlug.