»Angesichts der Tatsache, dass das Schweinegrippevirus sich innerhalb einer Vielzahl von Ländern ausbreitet, hat die Gesundheitsbehörde der Vereinten Nationen heute den internationalen Alarmzustand auf Phase 5 auf einer Sechs-Punkte-Skala erhöht, was eine unmittelbar bevorstehende Pandemie signalisiert und alle Länder drängt, ihre Vorbereitungen zu intensivieren.«


UN-Nachrichtenzentrum, 29. April 2009



»Zur Unterbrechung des normalen Lebens könnte es aufgrund eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs, eines außer Kontrolle geratenen Klimawandels, des Eintretens des globalen Ölfördermaximums, einer Pandemie oder irgendeiner unvorhergesehenen Kombination dieser und anderer Faktoren kommen. Was diese Aussichten besonders furchterregend macht, sind mögliche Reaktionen des Menschen darauf. Wir könnten entweder einen gesellschaftlichen Zusammenbruch erleben — bei dem es zu einem Kampf aller gegen alle um die Vorherrschaft oder ums nackte Überleben kommt – oder einen Faschismus, bei dem die Menschen aus Angst vor dem Chaos allmächtigen Führern die Leitung von allem überlassen.«


SARAH VAN GELDER, Chefredakteurin des Yes Magazine

BIOLOGISCHE KRIEGSFÜHRUNG, PHASE V

GESELLSCHAFTLICHER ZUSAMMENBRUCH

20. DEZEMBER

Sekretariatsgebäude der Vereinten Nationen
United Nations Plaza
14:39 Uhr
(17 Stunden, 24 Minuten vor dem prophezeiten Ende der Tage)


Das neununddreißigstöckige Sekretariatsgebäude ragte hoch über der United Nations Plaza auf. Der rechteckige Bau mit der grünen Glasfassade gehörte zu den bekanntesten Bauwerken in New York. Als Teil der UNO galt das Gebäude als »internationales Territorium«, und seine Delegierten waren zu keiner Zeit den Gesetzen New Yorks oder der Vereinigten Staaten unterworfen worden. Bis heute.

Schwerbewaffnete Angehörige der New Yorker Bereitschaftseinheit ESU waren in der Eingangshalle des Sekretariatsgebäudes und auf jeder Etage postiert. Der Strom war abgeschaltet worden, um die Ausbreitung von Scythe über die Belüftungssysteme zu verhindern, und die niedrigen Temperaturen machten das Ganze nur noch schlimmer. Aktuelle Informationen wurden jede Stunde bekannt gegeben, und die Hinhaltetaktik ermöglichte es den Einheiten des CDC, sich in sechs Teams von Stockwerk zu Stockwerk, von Büro zu Büro vorzuarbeiten und an den eingesperrten Diplomaten der UNO eine Triage durchzuführen.


Der Fahrstuhl wurde von einem Notstromgenerator betrieben. Zwei Begleiter von der ESU und Dr. Roy Mohan fuhren schweigend in die siebte Etage hoch. Mohan konnte nur allzu gut nachempfinden, was Tragik bedeutete. Ein betrunkener Autofahrer hatte ihm vor sechs Monaten seine Frau und seinen kleinen Sohn genommen. Jetzt arbeitete der Arzt Sechzig-Stunden-Wochen bei der Seuchenschutzbehörde und benutzte seine Arbeit, um den Schmerz zu betäuben. In den letzten vier Stunden hatte er über siebzig Zivilisten und einunddreißig Polizeibeamte untersucht. Was er gesehen hatte, hatte all seine schlechten Erinnerungen aufgewühlt.

Scythe tötete erbarmungslos und war so konzipiert, dass es sich schneller ausbreitete als alle Erreger, mit denen der Mikrobiologe jemals zu tun gehabt hatte. Seine Wirkung war unheimlich. Beinahe übernatürlich. Binnen Minuten nach der Ansteckung infizierte der neue Wirt bereits andere. Ein Kuss. Ein Husten. Eine Umarmung. Manchmal bloße körperliche Nähe. Während Scythe seine tödliche Ausbreitung fortsetzte, war aus dem Sekretariatsgebäude ein Brutkasten toxischer Bazillen geworden.

»Doc, sind Sie bereit?«

Er nickte dem ESU-Beamten zu. Die drei Männer traten aus dem Fahrstuhl. Einer der Beamten klopfte mit dem Kolben seines Elektroschockers an die Tür von Suite 1701. Eine Plakette identifizierte die Bewohner als Vertreter der Demokratischen Republik Kongo.

Nach einem Moment wurde die Tür aufgerissen, und zum Vorschein kam ein kakaohäutiger Mann Anfang zwanzig. In eine Decke gehüllt. Ein blutiges Handtuch vor Nase und Mund haltend. Die dunklen, gelbsüchtigen Augen des Mannes waren angstvoll geweitet. »Mai … poladó.«

Der Sicherheitsbeamte sah sich zu seinem Partner um. »Spricht irgendjemand Afrikanisch?«

»Das ist Lingala.« Dr. Mohan griff in seinen Rucksack und holte eine Flasche Wasser heraus.

Der Mann entriss sie ihm und trank sie leer.

»Sprechen Sie Englisch?«

»Ein bisschen. Nur das, was ich auf der Tasok, der amerikanischen Schule in Kinshasa, gelernt habe. Mein Name ist Matthew Vincent Albert Hawkins. Meine Eltern arbeiten für die Regierung. Sagen Sie mir, was uns tötet.«

Der erste Polizeibeamte antwortete: »Es ist nur eine schlimme Grippe. Wir müssen jeden in der Suite untersuchen, dann kommen wir mit Medikamenten zurück.«

»Sie lügen. Das ist keine Grippe.« Hawkins machte die Tür zur Suite weiter auf.

Drinnen waren mindestens noch ein Dutzend Leute, überwiegend Schwarze, ein paar Weiße, darunter eine weiße Frau zwischen fünfzig und sechzig. Ihre Gesichter waren mit Zeitungspapier abgedeckt. Auf den bedruckten Seiten waren Schlieren frischen Bluts zu sehen.

»Vierzehn sind tot. Fünf weitere in dem angrenzenden Büro sind am Leben, aber infiziert. Ich bin Medizinstudent und besuche gerade die Einführungskurse, deshalb werden Sie mich nicht noch einmal anlügen. Was tötet uns?«

»Die Beulenpest«, erwiderte Dr. Mohan. »Ein Stamm, der sich sehr schnell ausbreitet.«

»Warum haben Sie keine Antibiotika ausgegeben?«

»Leider haben wir keine gefunden, die wirken.«

Hawkins brach fast in Tränen aus, ihm lief die Nase, und er runzelte wütend die Stirn. Er senkte die Decke und riss sein Anzughemd auf – zum Vorschein kam die Tätowierung eines Löwen über seinem Herzen, eingekreist von den Worten Mwana ya Congo. Oberhalb des Tattoos, am Hals entlang verlaufend, war eine geschwollene schwarze Beule von der Größe eines Apfels. »Wir haben etwas Besseres verdient. Nicht wahr?«

»Ja.«

»Mein Bruder und meine Schwester … sie haben auch Durst.«

Dr. Mohan reichte ihm seinen Rucksack. »Hier sind Wasser und ein paar Vorräte. Gehen Sie mit Gott.«

Hawkins nickte. Und schloss die Tür.



VA Medical Center
East Side, Manhattan, New York
14:44 Uhr


Leigh Nelson drückte sich vor dem tragbaren Plastik-Isolationszelt herum. Leuchtete mit ihrer Lampe in die halb offenen, eingesunkenen Augen der Russin. Die Pupillen reagierten.

Unterhalb des fiebrigen Heißwassers in der an-und abschwellenden Übelkeit in dem endlosen Ozean aus Schmerz folgte Mary Klipot dem Licht an die Oberfläche ihres Bewusstseins.

»Bogdana, mein Name ist Dr. Nelson. Sprechen Sie Englisch?«

»Mein Baby?«

»Ihr Kind ist in Sicherheit. Wir mussten einen Notkaiserschnitt durchführen.«

Klein-Jesus ist geboren! »Ich will mein Baby sehen.«

»Bogdana, hören Sie mir zu. Ihrem Baby geht es gut, aber Sie sind sehr krank. Wir müssen warten, bis Sie sich besser fühlen. Die Antibiotika müssten bald wirken.«

»Bringen Sie mir mein Kind.« Die Worte krächzten in ihrer Kehle, glucksten in Blut.

»Bogdana, Sie sind ansteckend.«

»Das Kind ist geschützt. Ich habe es gegen Scythe geimpft. «

»Scythe?«

»Die Beulenpest. Ein neuer Stamm. In meinem Labor gezüchtet.«

Die Farbe wich aus Leighs Gesicht. »Was für einem Labor?«

Mary hustete Blut, leckte es dann weg und färbte sich dabei die Lippen rot. »Fort Detrick.«

»Sie haben das hier angerichtet?«

»Bekannte Antibiotika werden es nicht stoppen. Das Gegenmittel … ist in meinem Auto. In der Radnabe des Reserverads.«

»Wo ist Ihr Auto?«

»Es wurde heute Morgen abgeschleppt … in der Nähe der UNO. Bringen Sie mir das Gegenmittel, und ich werde Ihnen zeigen, wie man es anwendet.«


USAMRIID
Fort Detrick, Frederick, Maryland
14:53 Uhr


Die auf der dreieinhalb Meter großen Projektionswand gezeigte Karte von Manhattan war eine Mischform aus einer Echtzeit-Satellitenaufnahme und einem Stadtplan, auf dem Straßennamen aufgeführt waren und Gebäude identifiziert werden konnten. Rote Punkte symbolisierten die überprüfbare Anzahl von infizierten Einzelpersonen in einem bestimmten Stadtviertel, die aktuellen Zahlen wurden längs des Bildrandes angegeben.

Die Pandemie konzentrierte sich auf die Lower East Side, und zwar besonders auf ein Viertel aus vier quadratischen Häuserblocks, das die United Nations Plaza umfasste, wo die Zahl der Infizierten auf die zweihundert zuging.

Größere Sorge bereitete dem Team von Colonel Zwawa die wachsende Zahl von Fällen, die aus anderen Vierteln Manhattans gemeldet wurden, darunter Lenox Hill, die Upper East Side sowie Central und East Harlem, wo Scythe nach Westen auf Lincoln Square und Manhattanville übergesprungen war. Auf jedem Schauplatz hatte es zunächst nur einen einzelnen Fall gegeben, aus dem dann ein Muster aus roten X erwuchs, da die infizierte Einzelperson die Seuche unwissentlich auf Familienmitglieder, Freunde und schließlich auf das medizinische Personal übertragen hatte.

Colonel Zwawa warf einen Blick auf die Wanduhr. Sieben Minuten bis zur nächsten Pressekonferenz von Bürgermeister Kushner, und noch immer kein Wort vom Präsidenten.

Als könne er Gedanken lesen, schaltete sich ein Monitor an der leeren Wand ein und zeigte Präsident Eric Kogelo. Er wirkte erschöpft. Seine Gesichtsfarbe war von einem käsigen Grau. »Ich bitte um Entschuldigung. Da der Strom ausgeschaltet ist, mussten wir uns mit einigen technischen Schwierigkeiten herumschlagen. Unsere Konferenzmonitore funktionieren nicht … Ist der Vizepräsident zugeschaltet?«

»Ja, Mr. President. Ich bin mit Ministerin Clausner und den Vereinigten Stabschefs im Kontrollraum. Ich habe Lieutenant General Folino von der Nationalgarde und Admiral Ogren von der Küstenwache gebeten, zu uns zu stoßen. Sie haben ihre Verbände mobilisiert, um bei der Sicherung der Brücken, Tunnels und Wasserwege Manhattans zu helfen.«

»Wessen Entscheidung war es, die Freedom Force zu mobilisieren?«

Der Vizepräsident runzelte verärgert die Stirn. »Darüber müssen Sie mit Ministerin Clausner sprechen, Sir.«

Harriet Clausner wollte sich nicht wegducken. »Es war meine Entscheidung, Mr. President. Der Leiter des Heimatschutzes, der auf dem Weg nach New York war, rief mich von unterwegs persönlich an und erklärte rundheraus, dass er drei Stunden bräuchte, um die Nationalgarde zu mobilisieren und so in Stellung zu bringen, dass sie sämtliche Ein-und Austrittspunkte Manhattans abriegeln könnte. Wir hatten aber nur Minuten zur Verfügung. Also habe ich mich mit der Freedom Force in Verbindung gesetzt. Sie haben eine Abteilung aus New Jersey geschickt. Ich habe getan, was ich für notwendig hielt.«

»Ich verstehe. Wer ist für die ausländische Miliz verantwortlich? «

»Das bin wohl ich, Mr. President.« Ein blauäugiger Mann erschien auf dem Bildschirm. Kurz geschnittene, leicht blonde graue Haare. Sein Akzent: klassisches Sandhurst. »James O’Neill, Britische Streitkräfte, amtierender Befehlshaber der Freedom Force. Ich darf Sie beruhigen, Mr. President. Der Umgang mit Zivilbevölkerungen ist unsere Spezialität. Meine Einheiten haben im Kosovo gedient, in Sierra Leone, in Nordirland und auch …«

»Ich stelle Ihre Qualifikationen nicht infrage, Mr. O’Neill, nur die Entscheidung meiner Außenministerin, eine private internationale Miliz in einer innerstaatlichen Angelegenheit einzusetzen.«

»Bei allem Respekt, Sir, genau wegen solcher Ereignisse wie heute hat Ihr Vorgänger unsere Einheit finanziert. Wenn es um innerstaatliche Herausforderungen geht, kann die Freedom Force schneller und effizienter mobilmachen als die Nationalgarde.«

»Wir wissen Ihre Dienste zu schätzen, aber dies ist eine heikle Angelegenheit, und Ihre Anwesenheit könnte alles nur noch schlimmer machen. General Folino?«

»Hier, Sir.«

»Wie schnell können wir die Freedom Force durch US-Truppen ersetzen?«

»Wir haben die 1. Kampfbrigade der 3. Infanteriedivision mobilisiert; die Einheit ist von ihrem Heimatstandort in Fort Stewart, Georgia, unterwegs. Was die Nationalgarde betrifft, so müssten wir ein oder zwei Divisionen freimachen, die im Augenblick dabei helfen, die Dämme längs des Mississippi zu verstärken.«

»Was auch immer nötig ist, ich will, dass die Freedom Force ersetzt wird. Colonel Zwawa, wie ist die Lage bei der UNO?«

»Nicht gut, Sir. Die AIT-und CDC-Teams werden von der schieren Zahl der Infizierten überwältigt. Wir bereiten uns darauf vor, abzuziehen und nach Governor’s Island überzusiedeln.«

»Moment. Soll das heißen, wir haben die Vereinten Nationen verloren?«

»Mr. President, wir haben schon vor Stunden Manhattan verloren.«

»Manhattan? Du lieber Himmel …«

»Sir, wir gehen davon aus, dass wir bis heute Abend 19 Uhr auf Governor’s Island eine brauchbare Anlage eingerichtet haben. Wir werden Hubschrauber einsetzen, um Sie ebenso zu evakuieren wie die überlebenden Delegierten. Um es zu wiederholen, wir lassen jedes BSL-4-Labor in Nordamerika an der Entwicklung eines wirksamen Antibiotikums für diese mutierte Version des Erregers arbeiten.«

»Reden Sie Klartext, Colonel. Sie verlegen uns nach Governor’s Island, damit Sie uns unter Quarantäne halten können, richtig?«

»Unter Quarantäne, ja, aber Sie werden auch leichter erreichbar sein, sodass wir ein wirksames Antibiotikum schnell verabreichen können, sobald wir eines haben.«

»Aber Manhattan haben wir verloren?«

»Ja, Sir. Während wir noch keine einzige Meldung erhalten haben, dass die Seuche außerhalb Manhattans ausgebrochen wäre, verbreitet sich Scythe über die ganze Insel, und jedes infizierte Gebiet ähnelt einem kleinen Buschfeuer, das jederzeit außer Kontrolle geraten kann.«

»General Folino, können Ihre Truppen die Quarantäne aufrechterhalten?«

»Vorläufig. Es ist wie Rinder hüten. Ein Dutzend Cowboys auf Pferden schafft es – vorausgesetzt, es gibt keine Stampede. Sobald diese Stadtviertel einen Sättigungspunkt erreichen, wird die Herde in Panik geraten, und plötzlich hat man unabsichtlich einen Mob von mehreren Hunderttausend Leuten organisiert. Gegen eine solche Übermacht können unsere Einheiten die Eindämmung einfach nicht aufrechterhalten.«

»Was empfehlen Sie?«

»Weisen Sie den Bürgermeister an, die Straßen zu räumen. Befehlen Sie allen, drinnen zu bleiben, und verhängen Sie dann das Kriegsrecht. Zivilisten, die sich an öffentlichen Orten versammeln, sind sozusagen das Streichholz von Scythe, jeder Krawall könnte so ausarten, dass unsere Eindämmungsmaßnahmen überwunden werden.«

»Admiral Willick?«

Steven Willick, Vorsitzender der Vereinigten Stabschefs, erschien auf dem Bildschirm. »Ich stimme mit General Folino überein. Nach Lage der Dinge sind unsere größte Sorge im Moment die hunderttausend Pendler, die in dem lahmgelegten Verkehr auf den Brücken und in den Tunnels von Manhattan feststecken. Wenn diese Herde in Panik gerät, stehen wir vor einem Massenexodus von Fahrzeugen, der unsere Postenketten überrollen wird. Sollte das passieren, bringen wir die Brücken zum Einsturz. Dann sind da noch die Fluchtwege über den Hudson, den Harlem und East River. Wir patrouillieren an den Uferlinien der Bronx und von Queens, und wir behandeln Roosevelt Island als Teil von Manhattan. Zwei weitere Küstenwachboote sind unterwegs, um die Wasserwege zu bewachen, zusammen mit einer Frachtmaschine, die mit unseren neuesten Luftkampfdrohnen beladen ist. Im Augenblick muss der Bürgermeister uns ausreichend Zeit verschaffen, damit wir unsere Einheiten in Stellung bringen können.«

»Wie viel Zeit brauchen Sie?«

»Zwei Stunden.«

Der Präsident massierte seine Schläfen und schloss die Augen, um nachzudenken. »Verbinden Sie mich mit Bürgermeister Kushner.«


Sunshine Cinema
Lower Manhattan, New York
14:47 Uhr


Shelby Morrison bediente sich aus dem Popcorneimer, der auf ihrem Schoß thronte. Ihre Freundin Jamie simste in dem dunklen Kinosaal. »Brent Tripp hat mich gerade eingeladen. «

»Der Stoppelkopf aus Georgia?«

»Er ist süß.«

»Shh!« Eine korpulente Frau zwei Reihen weiter hinten sah sie verärgert an.

Shelby senkte ihre Stimme. »Der ist doch Pfadfinder oder so was.«

»Eagle Scout. Na und? Der Typ ist cool. Er meint, er will Filmemacher werden.«

»Im Ernst?«

»Shh!«

»Ach, seien Sie selber still!« Shelby griff sich noch eine Handvoll Popcorn – und schrie auf, während sie beide Füße auf ihren Sitz zog. »Jamie, irgendwas ist gerade über meinen Fuß gerannt!«

»Ein Hund?«

»Ich glaube, es war eine Ratte.«

»Oh mein Gott.« Jamie Rumson zog ebenfalls die Füße hoch und sah nach unten, als eine kiloschwere Hausratte ihr Bein hochhuschte!

»Ahhh! Ahh!« Der von Entsetzen gepackte Teenager nahm den Popcorneimer und klatschte das Vieh in die nächste Reihe, während eine Armee von Hausratten den Fußboden entlang und über die Sitze huschte und Wellen schreiender Kinobesucher auf den Gang hasten ließ.

»Lauf!« Shelby versuchte über die Sitze zu laufen, gab auf und trat auf den Rücken eines Nagers, wobei sie sich den Fuß verstauchte. Die Saalbeleuchtung ging an, und man sah die korpulente Frau, wie sie sich vor ihnen den Mittelgang hinunter mühte, während Ratten ihr hinten auf den Pelzmantel sprangen.

Jamie packte Shelbys Hand, und die beiden schoben sich durch die Menge in Richtung Leinwand auf einen Schimmer Tageslicht zu, der durch die offene Ausgangstür fiel. Von allen Seiten drängten Körper heran. Eingezwängt zwischen Wänden aus menschlichen Leibern, schlurften sie blind weiter, griffen hierhin und dorthin, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und beteten, nicht hinzufallen. Auf das graue Tageslicht folgte eine kalte Dezember-Bö, und im nächsten Moment standen sie in einer Gasse, wo sie an einem Müllcontainer vorbeihasteten, der von Plastik-Müllsäcken und einem Obdachlosen überquoll. Der Mann krümmte sich auf seiner Seite. Er war betrunken und redete wirres Zeug. Ein Dutzend Ratten strömte über seine zerlumpten Kleider und machte sich über sein Fleisch her.

Ununterbrochen schreiend, rannten die Teenager durch die Gasse und folgten der sich verlaufenden Menge über die Houston Street, wo sie den Verkehr aufhielten.

»Oh mein Gott, oh mein Gott … Ich werde krank werden. «

»Shelby, mein Bein blutet. Ich glaube, sie hat mich gebissen. «

»Im Ernst? Oh mein Gott, Jamie, du blutest.«

»Oh mein Gott, werde ich sterben?«

»Nein, schon gut. Leute werden die ganze Zeit von Ratten gebissen. Wir waschen es lieber ab oder so, bevor du Tollwut kriegst. Komm schon.«



Chinatown, Manhattan, New York
14:51 Uhr


Manhattans Chinatown war die Heimat von mehr als 160 000 Menschen, die in einem Labyrinth enger Straßen voller Straßenverkäufer und Obst-und Gemüsegeschäfte, Fischhändler und Schmuckläden und mit über zweihundert »authentischen« chinesischen Restaurants lebten und arbeiteten. Aber zu Chinatown gehörte mehr als Dim Sum und billiges Parfüm. Eine Unterströmung aus Schwarzmarktwaren floss durch dieses asiatische Ghetto und lockte Schnäppchenjäger, die auf illegale Imitate von Designer-Sonnenbrillen und -Handtaschen aus waren, in die Hinterzimmer von Ladenlokalen, in schmale Gassen und Keller.

Gavi Kantor hatte auf der Suche nach einem Weihnachtsgeschenk für ihren neuen Verehrer Shawn-Ray einen Umweg in die Mott Street gemacht. Der »Beobachter« schätzte von einer Hausecke aus die hellhäutige Jugendliche schnell ein und verständigte dann per Funk seinen »Schlepper«.

»Prada … Gucci … Coach. Willst du Prada? Gucci? Ich besorge dir gutes Geschäft.«

»Eigentlich suche ich nach einer Armbanduhr. Für meinen Freund.«

»Wie viel hast du?«

»Vierzig Dollar.«

»Hm. Seiko. Timex. Moment! Wie wär’s mit Rolex?«

»Für vierzig Mäuse? Jetzt hören Sie aber auf!«

»Leicht gebraucht. Sehen nagelneu aus. Funktionieren perfekt. Dir sehr gut gefallen. Hat sogar Schachtel. Los komm, ich dir zeigen.«

Mit Visionen von einem überwältigten Shawn-Ray Dalinky im Kopf lief die naive Dreizehnjährige ihrem Rattenfänger durch eine sich windende Gasse hinterher und folgte ihm eine Treppe hinunter, die in den Kellergang eines Backsteinbaus führte und in die Dunkelheit, die ihrer harrte …


Times Square
Broadway & 45th Street
Midtown Manhattan, New York
15:02 Uhr


Es war das Herz Manhattans: Ein sich über zwölf Blocks erstreckendes, hell erleuchtetes Mekka aus Multiplexen und Broadway-Shows, eingeklemmt zwischen Glastürme und digitale Billboards. Jetzt hielt eine Viertelmillion Menschen inmitten des lahmgelegten Verkehrs inne, um schweigend zu ihrem Bürgermeister emporzustarren, dessen Ansprache über ein halbes Dutzend riesige HD-Bildschirme ausgestrahlt wurde.

»… um die Ausbreitung des Virus zu verhindern und den Gesundheitsbehörden zu ermöglichen, die Infizierten richtig zu behandeln, verhängen wir eine verbindliche 17-Uhr-Ausgangssperre. Jeder, der sich nach 17 Uhr noch auf der Straße aufhält, muss mit der Festnahme rechnen. Diejenigen unter Ihnen, die auf den Brücken und Autobahnen Manhattans festsitzen, werden für die Nacht mit Bussen zum Madison Square Garden gebracht. Diese verbindliche Ausgangssperre wird so lange in Kraft bleiben, bis das Gesundheitsministerium Entwarnung gibt.«

Ein kollektives Stöhnen ergriff die Menge.

Auf den Großbildschirmen überschrien die Reporter einander, um sich Gehör zu verschaffen. »Herr Bürgermeister, die Vereinten Nationen stehen unter Quarantäne. Was ist mit Präsident Kogelo?«

»Präsident Kogelo, sein Stab und der Rest der UNO-Delegierten sind angewiesen worden, zu bleiben, wo sie sind, bis die Gefahr vorüber ist. Der Präsident bittet uns alle, ähnliche Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.«

»Wie tödlich ist dieses Virus?«

»Es ist äußerst ansteckend. Niemand hat gesagt, es sei tödlich.«

»Jetzt hören Sie aber auf, Bürgermeister Kushner! Es gibt Teams von Mitarbeitern der Gesundheitsbehörden, die Schutzanzüge tragen und auf der UN Plaza Leichen in Säcke packen. Läuft alles auf YouTube! Wie können Sie sich hier hinstellen und uns erzählen, es sei nicht tödlich? «

Auf der überfüllten Kreuzung, mitten zwischen einer Viertelmillion plötzlich besorgter Einkäufer, Touristen und Geschäftsleute, traf der Weihnachtsmann zu Fuß ein, um eine andere Art von »Feiertagsfreude« zu verbreiten.

Noch immer im Kostüm, stolperte Heath Shelby durch die Menge. Er fieberte. Sein Körper schmerzte. Weiße Haarsträhnen von seiner Perücke blieben an den Schweißperlen haften, die auf seiner Stirn und der käsigen Gesichtshaut glänzten. Tröpfchen ausgehusteten Blutes besudelten den falschen Bart und Schnauzer, die in seinem Gesicht klebten. Eine weitere Welle der Übelkeit stieg in ihm hoch.

»Herr Bürgermeister, wie können Sie sich hier hinstellen und uns erzählen, das Virus sei nicht tödlich?«

Tödlich? Der Freiwillige der Heilsarmee blickte hoch zu dem großen Bildschirm, der an der Seite des abgeschnittenen dreieckigen Gebäudes befestigt war, das als One Times Square bekannt war.

Die schwangere Frau bei der UNO? Sie war krank.

Heath Shelbys Herz klopfte im schnellen Rhythmus eines Mannes, der soeben sein Todesurteil empfangen hat. Er musste flüchten, um zu einem Krankenhaus zu gelangen, aber er war von einem Meer von Menschen umgeben, und seine bloße Anwesenheit unter ihnen gefährdete ihr Leben, während die erdrückend zahlreiche Menge ihm die Zurückgezogenheit verweigerte, um der scharfen Galle nachzugeben, die aus seinen Eingeweiden hochstieg.

Körper aus dem Weg schiebend, torkelte er zu einer Mülltonne und würgte.

»Mami, guck mal! Der Weihnachtsmann ist krank.«

Die Mutter schüttelte den Kopf. »Er ist nicht wirklich der Weihnachtsmann, Liebling, nur irgendein hoffnungsloser Säufer.«

»Nein, Mami, er ist wirklich krank. Guck mal, das ganze Blut.«

Die Mutter wandte sich noch einmal um. »Mein Gott … Er hat das Virus. Er ist infiziert!« Sie schnappte sich ihren Sechsjährigen und schob sich schreiend durch die Menge: »Er ist krank! Geht mir aus dem Weg!«

Köpfe drehten sich.

Als er merkte, dass sein Geheimnis aufgeflogen war, wischte Heath Shelby sich den Mund ab und stolperte vorwärts, sich mühsam einen Weg durch den urbanen Wald aus Menschen bahnend …

… während Scythe bei jedem Schritt einen neuen Haufen Wirte infizierte.


West 38th Street & Twelfth Avenue
Manhattan, New York
15:19 Uhr


Der Taxifahrer blickte kurz nach oben in seinen Innenspiegel auf die hübsche Brünette auf dem Rücksitz, die eine Maske über dem Gesicht trug. »Der Verkehr bewegt sich nicht. Die Polizeiwache ist sechs Blocks entfernt. Geht wahrscheinlich schneller, wenn Sie laufen.«

Leigh Nelson bezahlte den Fahrer, dann zwängte sie sich auf den überfüllten Bürgersteig. Sie blieb stehen, um sich zu orientieren, nur um von Wellen verärgerter Fußgänger angerempelt zu werden, die in beiden Richtungen an ihr vorbeirauschten, Handys an die Ohren geklebt, über die sie alles andere als private Gespräche führten.

»… dann rufen Sie den Senator an! Ich bin zwanzig Riesen losgeworden bei seinem letzten Wahlkampf, er sollte lieber eine Möglichkeit finden, mich von dieser von Gott verlassenen Insel herunterzuholen!«

»Liebling, ich weiß nicht, wann ich zu Hause sein werde, sie haben alles gesperrt. Ich werd wohl einfach im Büro schlafen.«

Das Polizeidepot lag auf der Strecke zum Lincoln-Tunnel, der verkehrsreichsten unterirdischen Straßendurchfahrt der Welt. Im Zentrum von Manhattan gelegen, tauchten die aus drei Röhren bestehende Durchfahrt und ihre sechs Fahrspuren unter das Bett des Hudson und beförderten Tag für Tag mehr als 120 000 Fahrzeuge ins Zentrum von New Jersey und zurück.

Leigh folgte den Schildern für die I-495 West. Als sie die Ninth Avenue erreichte, hielt sie an. Die Szene vor ihr hatte etwas Surreales.

Nachdem er an der Mautstation im Zentrum von Manhattan gesperrt worden war, hatte der Lincoln-Tunnel einen Rückstau aus Autos und Bussen produziert, der, so weit das Auge reichte, die städtischen Straßen verstopfte. Viele Insassen hatten ihre Fahrzeuge stehen lassen, um bewaffneten Arbeitern der Hafenbehörde und Polizeibeamten Obszönitäten zuzubrüllen. Andere versammelten sich in kleinen Gruppen und besprachen die Optionen für eine Revolte.

»Was zum Teufel sollen wir im Madison Square Garden? «

»Wissen Sie noch, was mit diesen Leuten passiert ist, die während des Hurrikans Katrina im New Orleans Superdome festsaßen?«

»Ich weiß nur eines: Ich muss was essen und aufs Klo. Schließ den Wagen ab und schnapp dir ein Kind. Wir laufen.«

Leigh Nelson brauchte zwanzig Minuten für den Zweieinhalb-Kilometer-Marsch zu dem Abschlepphof. Auf dem Polizeirevier herrschten chaotische Zustände, Streifenpolizisten und Angehörige einer taktischen Spezialeinheit gingen ein und aus, viele trugen Gasmasken.

Sie schob sich zum Empfangsschalter durch. »Mein Name ist Dr. Nelson. Es ist sehr wichtig. Ich suche eines der Fahrzeuge, das heute früh hierher abgeschleppt wurde.«

»Tut mir leid, Doktor. Wir geben Fahrzeuge erst frei, wenn die Stadt wieder aufmacht.«

»Ich will nicht das Fahrzeug, ich muss es nur durchsuchen. Es sind Medikamente im Kofferraum. Meine Patientin stirbt.«

Sie stritt weitere zehn Minuten, bevor sie ihre Kreditkarte rausrückte, um die städtische Abschleppgebühr zu bezahlen.


Der weiße Honda Civic mit dem Kennzeichen aus Virginia sah völlig harmlos aus. Dennoch jagte sein Anblick Leigh Schauer über den Rücken. Sie sah zu, wie der Polizeibeamte ein Montiereisen am Kofferraum ansetzte, das Schloss aufknackte und die Alarmanlage auslöste.

Nachdem sie sich Gummihandschuhe übergezogen hatte, holte sie das Ersatzrad heraus, unter dem sich ein polierter Holzkasten von der Größe einer Zigarrenkiste befand. Leigh klinkte die beiden Scharniere auf und öffnete den Deckel, worauf ein Dutzend kleiner Ampullen mit einer klaren Flüssigkeit zum Vorschein kam, die sicher in Styroporfächern steckten. Obendrauf lag zusammengefaltet eine getippte Notiz.


Scythe MK-36 Impfstoff/Gegenmittel

Anweisungen: Oral einnehmen. Eine Dosis pro Patient. Warnung: Dieses Antibiotikum enthält einen mächtigen Neurotransmitter, der die Blut-Hirn-Schranke überwindet. Es kann zu halluzinogenen Wirkungen kommen. Zorn und reaktives Verhalten verstärken die Symptome. Sorgen Sie dafür, dass der Patient ruhig bleibt. Lassen Sie ihn während der ersten sechs bis zwölf Stunden nicht unbeaufsichtigt.


Leigh holte ihr Handy heraus und drückte eine Kurzwahlnummer. »Dr. Clark, ich bin’s, Dr. Nelson. Ich habe ihn!«

»Sind Sie sicher, dass es der richtige Impfstoff ist?«

»Hundertprozentig wissen werd ich’s erst, wenn wir ihn an einem Patienten testen, aber die Frau hat mich praktisch darum angebettelt.«

»Wie schnell können Sie zum VA zurückkommen?«

»Geben Sie mir eine Stunde.«

»In Ordnung, ich werde das CDC in Kenntnis setzen. Gut gemacht, Dr. Nelson. Sie haben uns vielleicht gerade vor einer Pandemie bewahrt.«

Das Herz schlug Leigh vor Adrenalin bis zum Hals, als sie den Rucksack abnahm, ihn öffnete und den Kasten vorsichtig zwischen ihrem OP-Kittel und einem Wollschal platzierte. Nachdem sie sich die Kohlefiltermaske wieder richtig aufs Gesicht gesetzt hatte, steuerte sie in zügigem Dauerlauf den Ausgang des Abschlepphofs an.



Central Park, Manhattan, New York
15:42 Uhr


Genau in der Mitte von Manhattan gelegen, war er der am meisten besuchte Stadtpark in den Vereinigten Staaten. Rund vier Kilometer lang und achthundert Meter breit. Ein perfektes Rechteck aus Natur, doch vollkommen künstlich. Er bestand aus 55 Hektar Wald, 100 Hektar Rasen und 60 Hektar Wasserflächen, von denen die größte das 42 Hektar große, Milliarden Liter fassende Jacqueline Kennedy Onassis Reservoir war. Es gab 93 Kilometer Fußwege, rund sieben Kilometer Reitwege, zehn Kilometer Fahrwege und rund neuntausend Parkbänke. Einundzwanzig Spielplätze. Sechsunddreißig Brücken und überwölbte Torwege. Das höchste Gebilde war ein 1500 vor Christus in Ägypten hergestellter, 21 Meter hoher und 244 Tonnen schwerer Obelisk; die älteste und zugleich die wichtigste natürliche Attraktion des Central Park – seine tiefer liegende Geologie, ein glaziales metamorphes Schiefer-Grundgestein, das 450 Millionen Jahre alt war.


Die sechsunddreißigjährige Marti Evans und ihre Lebenspartnerin, Tina Wilkins, folgten dem Strom der Menschen, der sich in südlicher Richtung den West Drive entlang bewegte. Der gewundene Fußweg führte sie vorbei an einer Felsgrotte, dem sogenannten Pool, wo die Frauen sich zum ersten Mal begegnet waren. Die grasbewachsenen Böschungen jenes Frühlingstages vor elf Jahren lagen jetzt unter einer Schneedecke begraben, die Weiden, vom Winter kahl, beugten sich tief über die teilweise gefrorene Oberfläche des Sees.

Marti schob den Buggy, in dem ihre fünf Jahre alte Tochter Gabi lag. Das lesbische Paar wohnte in Des Moines, Iowa, hatte aber beschlossen, den Weihnachtsurlaub in New York zu verbringen. Vor ein paar Stunden hatten sie die Radio City Music Hall besichtigt und Gabi versprochen, ihr nach dem Abendessen den riesigen Weihnachtsbaum im Rockefeller Center zu zeigen.

Jetzt wollten sie nur noch lebend aus Manhattan raus.

Die beiden Frauen folgten Tausenden anderer verängstigter Zivilisten, die alle zu einem Sammelpunkt unterwegs waren, der auf einem hastig gedruckten Handzettel bekannt gegeben worden war. Sie passierten das Reservoir zu ihrer Linken, dessen Wasserfläche so ausgedehnt war, dass sie zehn städtische Blocks umfasste. Amerikanische Ulmen kamen zu beiden Seiten des gewundenen Fußweges immer näher, und die kahlen Äste hoch droben schufen die Illusion eines von Ranken überwölbten Weges. Spindeldürre Finger, an den grauen Nachmittagshimmel geworfen wie eine Vision aus Tim Burtons Sleepy Hollow.

Fünfzehn Minuten später trafen sie am Great Lawn ein. Vor ihnen erhob sich Belvedere Castle auf dem Vista Rock. Nördlich des Schlosses, auf dem gegenüberliegenden Ufer des Turtle Pond, lag das Delacorte Theater, wo sich Zehntausende Menschen versammelt hatten, während noch mehr unterwegs waren. Ihre Anwesenheit auf der 22 Hektar großen Rasenfläche verwandelte die Schneedecke in Matsch.

Ein großes Vinyl-Transparent war an Drähten hoch über der Bühne aufgespannt:

DIE STADT NEW YORK PRÄSENTIERT
DISNEY ON ICE
28. Dezember – 7. Januar

Freiwillige hatten auf der Bühne des Amphitheaters ein Mikrofon und eine Lautsprecheranlage aufgebaut. Aller Augen folgten einem Weißen zwischen sechzig und siebzig, der mit schwarzen, nach hinten geklatschten Haaren und einer Südflorida-Bräune herumlief. Er überquerte mit großen Schritten zielstrebig die Bühne und griff sich das Mikrofon.

»Mein Name ist Lawrence Hershman. Ich war während der zweiten Regierung Bush Hauptabteilungsleiter Politik für den Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium. Ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass man uns alle belügt und dass wir alle, wenn wir nicht bald handeln, wahrscheinlich sterben werden.«

Die Menschen in der unruhigen Menge brachten sich gegenseitig zum Schweigen, um weiter zuhören zu können.

»Was ich Ihnen gleich sage, ist vertraulich. Schon seit Jahren treffen die Vereinigten Staaten und andere westliche Regierungen Vorbereitungen, um eine neue Pandemie auszulösen, die noch verheerender wäre als die Spanische Grippe, die im Jahr 1918 dreißig Millionen Menschen tötete. Die pharmazeutische Industrie steckt bis zu den Ellenbogen mit drin, nachdem ihr heimlich gewaltige Regierungsaufträge zur Massenproduktion von Impfstoffen für gentechnisch veränderte hybride Viren erteilt wurden. Diese Viren, von Wahnsinnigen im Verteidigungsministerium entwickelt, wurden dafür konzipiert, die Bevölkerungen ins Visier genommener feindlicher Nationen auszurotten. Eine dieser biologischen Waffen wurde heute Morgen bei der UNO freigesetzt. Irgendwie haben die verrückten Dreckskerle den Impfstoff vermasselt und die Eindämmung verschlampt. Die Militärs halten alle fern, aber die Körper der Toten stapeln sich schneller, als sie wissen, wohin damit. In einer Großstadt wie Manhattan wird sich das Virus wie ein Flächenbrand ausbreiten.«

Tina fasste Martis Hand, die beiden Frauen waren aufgewühlt.

»Es gibt nur eine Chance, um zu überleben, und Sie müssen jetzt handeln, bevor man anfängt, Leute auf den Straßen zu erschießen: Bedecken Sie Mund, Nase und Haut, so gut Sie können, und versuchen Sie dann, von der Insel zu fliehen. Nehmen Sie die U-Bahn-Tunnel, schwimmen Sie, wenn Sie müssen … Nur verschwinden Sie aus Manhattan, bevor Sie in einem Leichensack enden.«