»Das Böse existiert nicht (…). Oder wenigstens nicht aus sich selbst. Das Böse ist schlicht die Abwesenheit Gottes, ist (…) ein Begriff, den der Mensch erfunden hat, um diese Abwesenheit Gottes zu beschreiben. Gott hat nicht das Böse geschaffen. Es verhält sich damit nicht wie mit dem Glauben oder der Liebe, die existieren wie die Wärme oder das Licht. Das Böse ist das Ergebnis dessen, dass der Mensch Gott nicht in seinem Herzen gegenwärtig hat. So wie er es kalt empfindet, wenn Wärme fehlt, oder dunkel, wenn kein Licht da ist.«
ALBERT EINSTEIN
JULI
Fort Detrick,
Frederick, Maryland
7:12 Uhr
Irgendwo in der Sackgasse wird die Trübheit des Morgens durch die Hydraulik eines Müllwagens entweiht. Ein Hund antwortet auf den Lärm von einer rundum verglasten Veranda aus. Ein Schulbus, der Camper zur örtlichen Jugendherberge befördert, passiert mit rülpsendem Auspuff die Ringstraße.
In dem Haus ohne Kinder am Ende des Blocks schnarcht die Frau mit den kandisapfelroten Haaren leise in ein Daunenkissen. Ihr Unterbewusstsein lehnt es ab, sich von dem erwachenden Viertel stören zu lassen. Ihre Blase kribbelt, trotzdem schläft sie noch eine Weile.
Mary Klipot klammert sich an den Traum, wie ein Nichtschwimmer sich in stürmischer See an ein gekentertes Boot klammert.
In ihrem Traum ist die Leere verschwunden. In ihrem Traum ist ihr Vater kein namenloser Kerl, und ihre drogensüchtige Mutter bereut, dass sie ihr Kind ausgesetzt hat. In ihrem Traum gibt es ein Zuhause und ein warmes Bett. Kekse mit Schokoladensplittern und Gutenachtküsse, die nicht nach Tabak schmecken. Die Luft ist süß wie Flieder, und die Wände sind von einem heiteren Weiß. Es gibt private Toiletten und Duschen und Lehrerinnen, die keine Nonnen sind. Es gibt keinen schallisolierten Raum an Mittwoch-und Samstagvormittagen, keine Lederriemen und Weihwasserspritzer und ganz bestimmt keinen Pater Santaromita.
In ihrem Traum ist Mary nicht außergewöhnlich.
Die außergewöhnliche Mary. Die Waise mit dem hohen IQ. Intelligent, aber gefährlich. Satan ist die winzige Stimme in deinem Kopf, die sagt: Zünde die Katze an, es wird Spaß machen. Spring vom Fenstersims, du kannst überleben. Gott ist abwesend in diesen Momenten. Der Arzt mit dem kalten Stethoskop gibt dem Ganzen einen Namen – Schläfenlappenepilepsie – und bietet ihr ein Medikament an.
Pater Santaromita weiß es besser. Die wöchentlichen Exorzismen dauern bis zu ihrem achten Geburtstag.
Sie nimmt die Medikamente. Der im Zaum gehaltene IQ macht sich bezahlt. Auszeichnungen der Konfessionsschule. Ein Hochschul-Stipendium. Abschlüsse in Mikrobiologie von der Emory und der Johns Hopkins. Die Zukunft sieht golden aus.
Natürlich gibt es »andere« Herausforderungen. Partys und gemischte Schulen. Bier und Drogen. Die introvertierte Rothaarige mit den harten haselnussbraunen Augen mag nuttig süß aussehen, aber sie macht nicht die Beine breit. Die außergewöhnliche Mary wird als Jungfrau Maria stigmatisiert. Die Keuschheit stempelt sie als Ausgestoßene ab. Komm schon, Mary. Nur die Guten sterben jung. Mary stirbt hundert Tode. Sie arbeitet in zwei Jobs, damit sie sich ihre eigene Wohnung leisten kann.
Absonderung ist einfacher.
Glatte Einsen öffnen Türen, die Arbeit im Labor bietet Rettung. Mary hat Talent. Das Verteidigungsministerium arrangiert ein Gespräch. Fort Detrick braucht sie. Gute Bezahlung und staatliche Vergünstigungen. Die Forschungsarbeit ist anspruchsvoll. Nach ein paar Jahren wird sie einem Sicherheitslabor der Stufe 4 zugewiesen, wo sie mit einigen der gefährlichsten biologischen Substanzen auf dem Planeten arbeiten kann.
Die kleine Stimme ist einverstanden. Mary nimmt die Stelle an. Der Beruf wird ein Leben bestimmen, das kaum gelebt wird.
Mit der Zeit ändern sich die Träume.
Der Fund war in Montpellier zutage gefördert worden. Das für die Ausgrabung verantwortliche archäologische Team musste einen Mikrobiologen hinzuziehen, der Erfahrung in der Arbeit mit exotischen Wirkstoffen hatte.
Montpellier liegt zehn Kilometer vom Mittelmeer entfernt. Es ist eine von Geschichte und Tradition durchdrungene Stadt, die einst von einem Albtraum heimgesucht worden war, unter dem der gesamte eurasische Kontinent zu leiden hatte.
Die archäologische Ausgrabung war ein Massengrab – eine Gemeinschaftsgrube, die auf das Jahr 1348 zurückging. Sechseinhalb Jahrhunderte hatten Organe und Fleisch entfernt und ein Durcheinander von Knochen zurückgelassen. Dreitausend Männer, Frauen und Kinder. Die Leichen waren hastig entsorgt worden von den Angehörigen, deren entsetzliche Angst größer war als ihre Trauer.
Die Pest: der Schwarze Tod.
Das Große Sterben.
Dreihundert Menschen pro Tag waren in London umgekommen. Sechshundert in Venedig. Die Pest hatte Montpellier verwüstet und neunzig Prozent der Stadtbewohner hinweggerafft. In nur wenigen Jahren hatte der Schwarze Tod die Bevölkerung des Kontinents von achtzig Millionen auf dreißig Millionen dezimiert – und das alles in einer Epoche, deren Fortbewegungsmittel sich auf Pferde und die eigenen Beine beschränkten.
Wie hatte die Seuche so effektiv töten können? Wie hatte sie sich so schnell ausgebreitet?
Die Grabung wurde von Didier Raoult geleitet, einem Medizinprofessor an der Universität des Mittelmeers in Marseille. Raoult fand heraus, dass das Zahnmark, das im Innern der Überreste von Zähnen der Pestopfer gefunden worden war, DNS-Spuren enthielt, anhand derer man das Rätsel endlich lösen konnte.
Mary machte sich an die Arbeit. Der Übeltäter hieß Yersinia pestis – Beulenpest. Eine Seuche direkt aus der Hölle. Extreme Schmerzen. Hohes Fieber, Schüttelfrost und Beulen. Die schließlich anschwollen – zu schwarzen, golfballgroßen Vorwölbungen, die am Hals und in der Leistengegend der Opfer auftraten. Zu gegebener Zeit versagten die inneren Organe, die oftmals ausbluteten.
Ein Kinderlied aus dem 14. Jahrhundert lieferte anschauliche Hinweise darauf, wie rasch der Schwarze Tod sich ausgebreitet hatte: Ring around the rosie, a pocket full of posies, at-shoo, at-shoo, we all fall down. Ein Nieser, und die Seuche infizierte einen Haushalt, schließlich das ganze Dorf, und löschte ihre ahnungslosen Opfer binnen Tagen aus.
Beeindruckt von ihrer Arbeit, überreichte Didier Raoult Mary ein Abschiedsgeschenk – ein Exemplar eines kürzlich entdeckten unveröffentlichten Berichts, verfasst während der Großen Pest vom Leibarzt des Papstes, Guy de Chauliac. Aus dem französischen Original übersetzt, schilderte das Tagebuch ausführlich, wie das Große Sterben während der Jahre 1346 bis einschließlich 1348 die menschliche Spezies beinahe vollständig ausgerottet hätte.
Mit Chauliacs Tagebuch und Proben des 666 Jahre alten Killers kehrte Mary nach Fort Detrick zurück. Das Verteidigungsministerium war fasziniert. Die Behörde behauptete, man wolle Schutzmaßnahmen für amerikanische Soldaten im Falle eines biologischen Angriffs erforschen. Die einunddreißigjährige Mary Louise Klipot wurde befördert und zur Leiterin des neuen Projekts ernannt, das Scythe – die Sense – getauft wurde.
Noch vor Ablauf eines Jahres übernahm die CIA die Finanzierung, und Scythe verschwand aus den Büchern.
Mary wird wach, bevor der Wecker klingelt. Ihr Bauch gluckert. Ihr Blutdruck sinkt. Sie schafft es gerade noch rechtzeitig auf die Toilette.
Mary ist seit einer Woche krank. Andrew hat ihr versichert, es sei bloß eine Grippe. Andrew Bradosky war ihr Labortechniker. Neununddreißig Jahre alt. Von jungenhaftem Charme und gut aussehend. Sie hatte ihn aus einem Pool von Mitarbeitern ausgewählt, nicht weil er besonders qualifiziert war, sondern weil sie ihn einschätzen konnte. Selbst seine Versuche, eine soziale Beziehung außerhalb des Labors aufzubauen, zielten auf eine Beförderung ab. Die Reise nach Cancún im letzten April war eine willkommene Zerstreuung gewesen, wenn auch erst, nachdem er ihre Enthaltsamkeitsregeln anerkannt hatte. Mary sparte sich für die Ehe auf. Andrew hatte kein Interesse an der Ehe, aber eine Augenweide war er schon.
Mary zieht sich rasch an. Die Arztkittel vereinfachten die Wahl ihrer Garderobe. In Räumlichkeiten der Biosicherheitsstufe 4 und in dem Schutzanzug, den sie stundenlang trug, war locker sitzende Kleidung die bessere Wahl.
Ihr verstimmter Magen vertrug nichts anderes als Toast und Marmelade. Sie würde heute Vormittag den Betriebsarzt aufsuchen. Nicht dass sie hingehen wollte. Aber sie war krank, und die übliche Vorgehensweise bei der Arbeit mit exotischen Wirkstoffen verlangte Routinekontrollen. Als sie zur Arbeit fuhr, versicherte sie sich selbst, dass es bloß eine Grippe sei. Andrew könnte recht haben. Selbst eine kaputte Uhr geht zweimal am Tag richtig.
Sie hasste Warten. Warum wurden Patienten immer in sterile Untersuchungszimmer mit papierüberzogenen Polstertischen und alten Golf-Digest-Ausgaben verbannt? Und diese Untersuchungskittel … Hatte sie jemals einen getragen, der tatsächlich passte? Musste sie daran erinnert werden, dass sie abnehmen musste? Sie gelobte, nach Feierabend ins Fitnessstudio zu gehen, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Sie hatte viel zu viel zu tun, und Andrew war bei seinen Arbeiten wie immer im Rückstand. Sie überlegte, einen neuen Techniker hinzuzuziehen, sorgte sich aber darum, wie Andrew das aufnehmen würde.
Die Tür ging auf, und Roy Katzin trat ein. Die Miene des Arztes war zu fröhlich, um eine schlechte Nachricht zu verbergen. »Also. Wir haben mit den raffiniertesten Apparaten, die man mit Steuergeldern kaufen kann, alle nur möglichen Tests durchgeführt, und wir meinen, die Ursache für Ihre Symptome konkretisiert zu haben.«
»Ich weiß schon, es ist die Grippe. Dr. Gagnon hatte sie vor ein paar Wochen und …«
»Mary, es ist keine Grippe. Sie sind schwanger.«