»›Es laufen, wohl gestuft, drei Ringe hin durch dies Gestein, den obern, wo du warst, vergleichbar, alle voll verdammter Geister. (…) Betrug, des Menschen Sonderübel, ist vor Gott das schlimmste, so daß die Betrüger am tiefsten stehen und am schwersten büßen. (…) Daher im tiefsten, engsten Kreis, allwo im Mittelpunkt der Welt der Böse thront, auf ewig die Verräter sich verzehren.‹«
DANTE, Die Göttliche
Komödie,
»Hölle«, Elfter Gesang
ERSTER HÖLLENKREIS
DER LIMBUS
»Dem Höhepunkt des Lebens war ich nahe, da mich ein dunkler Wald umfing und ich, verwirrt, den rechten Weg nicht wiederfand. (…) Ich weiß nicht recht, wie ich hinein geriet, war nach und nach so schläferig geworden, bis daß ich abkam weit vom rechten Weg.«
DANTE, Die Göttliche
Komödie,
»Hölle«, Erster Gesang
20. DEZEMBER
Inwood Hill Park,
Manhattan, New York
19:37 Uhr
(12 Stunden und 26 Minuten vor dem
prophezeiten Ende der Tage)
Dunkelheit. Vollkommene Dunkelheit. Und undurchdringliche Stille, bis auf das Heulen des Windes, dessen beißende Kälte ihm verriet, dass er vielleicht blind, aber nicht tot war. Mühsam versuchte er, sich aufzurichten, doch etwas hielt ihn an seinen Schultern, seiner Hüfte und seinem linken Arm fest. Die klaustrophobische Enge erfüllte ihn mit heißer Panik, auch wenn ihn ein letzter Erinnerungsfaden zwang, nicht den Verstand zu verlieren.
Der Rettungshubschrauber …
Seine Augen weiteten sich. Er reckte den Hals und sah an einer schwarzen Decke vorbei in einen Streifen Mondlicht, der halb von Wolken verdeckt wurde. Die Panik verschwand, und langsam begriff er, in welcher Lage er war: Er saß angeschnallt in seinem Pilotensitz. Er war in einem dichten Wald. Es war Nacht.
Wind pfiff durch das gesprungene Acrylglas und nagte an seinem Fleisch. Die kalte Winterluft schien sich bis in seine Knochen zu bohren. Eichen, die er nicht sehen konnte, kratzten mit ihren in der Umklammerung des Winters brüchig gewordenen Zweigen über das zerschmetterte Cockpit.
Shep tastete mit der rechten Hand um sich, bis er den Verschluss fand und seine Gurte lösen konnte. Er versuchte aufzustehen, bemerkte jedoch sofort, dass seine Armprothese zwischen der Steuerkonsole und dem Boden feststeckte. Er konnte weder sehen, wie sie sich verkeilt hatte, noch konnte er sich befreien.
Wieder brandete eine Woge der Panik in ihm auf. Er zerrte an dieser verfluchten Verlängerung seines Körpers, doch der einzige Erfolg bestand darin, dass sich das Plastikfleisch vom Metallskelett löste. Trotzdem mühte er sich weiter damit ab, und bei jeder Bewegung schälte sich Zentimeter für Zentimeter ein weiteres Stück künstlicher Haut vom stählernen Gestänge.
Plötzlich hielt er inne, denn er spürte die Anwesenheit eines Tieres. Er konnte den moschusartigen Geruch des Fells riechen. Unter dem Wollpullover sträubten sich seine Haare, als er hörte, wie sich die Pfoten über den Waldboden tasteten. Während sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte er durch das zerstörte Glas des Cockpits hindurch das typische Bewegungsmuster der näher kommenden Gestalt.
Der Wolf trat aus dem Wald in das matte, graue Mondlicht. Es war ein dunkles, halb verhungertes Männchen. Speichel gurgelte in seiner Kehle, und seine zurückgezogenen Lefzen entblößten die gelben Fangzähne, zwischen denen kleine Atemwölkchen aufstiegen.
Das Raubtier schlich näher und taxierte seine in der Falle sitzende Beute.
Sheps Herz hämmerte in seiner Brust, während er mit der rechten Hand den Boden des Cockpits nach irgendetwas abtastete, das ihm als Waffe dienen konnte. »Hau ab! Verschwinde!«
Der Wolf knurrte lauter. Dünne Speichelfäden tropften von seinen entblößten Zähnen.
Adrenalin schoss durch Sheps Körper. Er drückte die Beine gegen die zerschmetterte Steuerkonsole und befreite mit einem heftigen Ruck seine Armprothese. Kleine Schrauben lösten sich aus der Zange, als das künstliche Fleisch abgerissen wurde.
Der Wolf näherte sich der Pilotenkanzel. Er sah hinein und spitzte plötzlich die Ohren. Er lauschte. Dann zog er den Kopf zurück und verschwand leichtfüßig, von der Nacht verschlungen.
Schwer atmend lehnte Shep den Kopf zurück. Dann hörte er es auch – ein tiefes, grollendes Donnern. Und mehr als nur ein Donnern. Lichtstrahlen schnitten sich von oben durch die Dunkelheit, auch wenn es den Suchscheinwerfern der Hubschrauber kaum gelang, durch die dichten Baumkronen hindurch auf den Boden zu leuchten.
Beweg dich!
Er schob sich hinter der Konsole hervor, stolperte und fiel fast über die zerstörte, in alle Richtungen verstreute Pilotenkanzel, während er die gläsernen Überreste der zerschmetterten Frontscheibe beiseitetrat. Über sich hörte er das Donnern der Rotorblätter, deren Abwind die Zweige der Bäume zur Seite drückten. Die beiden Suchscheinwerfer wechselten ständig ihre Position und beleuchteten den Waldboden. Shep blickte auf, sah die sich abseilenden Soldaten und rannte los.
Der Impfstoff!
Er drehte sich um und eilte zum Rettungshubschrauber zurück. Sich zusammenkauernd tastete er den Sitz des Copiloten ab, bis er das polierte Holzkästchen gefunden hatte. Als er sich umdrehte, um zu fliehen, riss er sich die Stirn an einer Glasscherbe auf. Dünne Blutstropfen rannen ihm in die Augen.
Die schwerbewaffneten Kommandosoldaten durchstießen die Baumkronen, doch sie mussten ihr Tempo drosseln, als sie sich durch das dichte Geflecht der oberen Zweige kämpften.
Shep war von einem dichten, dunklen Wald umgeben, in dem nirgendwo ein Weg zu erkennen war.
»Hallo? Ist da noch irgendjemand am Leben?«
Shep drehte sich in Richtung des vorerst noch unsichtbaren Mannes; seine Stimme klang irgendwie vertraut. Als er erkannte, dass der andere eine Taschenlampe in der Hand hielt, rannte er auf ihn zu. »Ich bin hier! Können Sie mir helfen?«
Der stämmige Mann trat auf die Lichtung. Unter seinem offenen Ledermantel konnte Shep die weißen Buchstaben eines blauen Kapuzenshirts der Columbia University erkennen. Weißes Haar. Pferdeschwanz. Der dazu passende Bart …
»Virgil?«
»Sergeant Shepherd! Hast du diesen Hubschrauber geflogen? «
»Ja! Ich habe einen Impfstoff gegen die Pest transportiert, als ich runtergehen musste.« Er sah auf, als dunkle Körper im hellen Licht der Suchscheinwerfer zu Boden glitten. Ihre Sturmgewehre waren deutlich zu erkennen. »Sie sind hinter mir her. Kannst du mich hier rausschaffen? «
»Nimm meine Hand.« Auf einem kaum erkennbaren Weg führte ihn Virgil durch den Wald in eine Gegend, die in tiefer Dunkelheit lag.
George Washington
Bridge
Fort Lee, New
Jersey
19:51 Uhr
Das Aufmarschgebiet war inzwischen dreimal so groß, denn unterdessen waren zwei weitere Bataillone der Nationalgarde mit schwerer Artillerie eingetroffen. In der Ferne stieg noch immer schwarzer Rauch von den schwelenden Überresten dessen auf, was einmal die Mitte der George Washington Bridge gewesen war. Jeden, der in Manhattan eingeschlossen war, hinderte die einhundertfünfzig Meter große Lücke daran, eine der Fahrspuren zur Flucht nach New Jersey zu benutzen.
Nur mit Mühe war es David Kantor gelungen, die Brücke zu überqueren, bevor in seinem Rückspiegel die Interstate in einer gewaltigen Flammenkugel eingestürzt war. Erschöpft und von Minute zu Minute wütender, ging er im Sanitätszelt auf und ab, während er auf die Rückkehr seines vorgesetzten Offiziers wartete.
Colonel Don Hamilton betrat das Zelt. Trotz seiner neunundfünfzig Jahre war Hamilton noch immer in der Nationalgarde aktiv. Der Autohändler war direkt aus seinem Geschäft in Newark geholt und der Truppe zugeteilt worden. Man hatte ihm eine knappe Übersicht über die Lage und nicht mehr als die absolut notwendige Mindestzahl an Männern gegeben. Während der ersten Stunden hatte er immer wieder an die Weihnachtsverkäufe von Hybridfahrzeugen denken müssen, doch die unerwartete Detonation der George Washington Bridge hatte ihm schlagartig die ernüchternde Realität bewusst gemacht.
Hamilton reichte dem Mediziner sein Handy. »Alle Anrufe nach Manhattan und in die Nachbarbezirke sind blockiert, aber es sollte möglich sein, dass Sie über diese Verbindung Ihre Frau in New Jersey erreichen. Vergessen Sie nicht: keine Einzelheiten über die Operation.«
David gab seine Nummer ein, während der Colonel in Hörweite blieb. »Leslie, ich bin’s.«
»David! Wo bist du? Ich versuche schon den ganzen Tag, dich zu erreichen. Hast du mitbekommen, was hier vor sich geht?«
»Ich musste zum Dienst zur Nationalgarde. Ich bin ganz in der Nähe. Les, hat Gavi es nach draußen geschafft?«
»Nein, aber ich habe ihre Schule erreicht. Sie lassen heute alle in der Turnhalle übernachten. David …«
»Keine Panik. Wenn sie in der Halle bleibt, sollte es eigentlich keine Probleme geben.« Er sah zu Colonel Hamilton, der auf sein Handy deutete. »Leslie, ich muss los. Ich tue von hier aus, was ich kann.«
»Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.« Er beendete die Verbindung und reichte seinem vorgesetzten Offizier das Telefon.
»Tut mir leid, das mit Ihrer Tochter zu hören, Captain. Meine Frau und ich … Wir haben unseren Sohn verloren. Er starb mit sieben Jahren an Leukämie. An unserem fünfzehnten Hochzeitstag ist er von uns gegangen. Es gibt keine Worte dafür.« Hamilton wandte sich ab und wollte gehen.
»Colonel, diese Frau … Gutierrez … Wie geht es ihr?«
»Befehl ist Befehl, Captain. Es tut mir leid.«
Adrenalin mischte sich mit Zorn und Erschöpfung. David packte Hamilton so hart an seinem Bizeps, dass der Griff einen blauen Fleck hinterlassen würde, und drängte den Colonel rückwärts gegen einen Tisch. »Es tut Ihnen leid? Was soll das heißen? Es ging ihr gut!«
»Treten Sie zurück!« Der Colonel riss sich los. »Niemand verlässt Manhattan. Es sei denn in einem biologischen Schutzanzug oder einem Leichensack. Das sind meine Befehle.«
»Bastarde! Ihr habt sie umgebracht! Aber das Baby nicht auch noch, oder?«
»Krieg ist die Hölle, Captain. Ich werde für Ihre Tochter ein Gebet sprechen.«
Governor’s Island,
New York
19:58 Uhr
Governor’s Island: Siebzig Hektar erstklassigen Landes mitten im Hafen von New York. Die Insel, die nicht einmal einen Kilometer von der Südspitze Manhattans entfernt liegt, war im Unabhängigkeitskrieg ein befestigter Außenposten und im Krieg gegen England 1812 eine strategische Militärbasis. Im folgenden Jahrhundert diente sie als Militärgefängnis, bevor sie schließlich für Besucher und als Anlegestelle für Bootsausflüge geöffnet wurde. Seit Jahrzehnten schon spielen Investoren mit der Idee, sie in ein Spielerparadies zu verwandeln.
In dieser Nacht verwandelte sich die Touristenattraktion in eine Art Grauzone.
Genau im Zentrum von Governor’s Island befand sich Leggett Hall. Das Gebäude, das einst als das längste der Welt galt, war so groß, dass man ein gesamtes Regiment darin unterbringen konnte. Jetzt wurde es hastig in eine Isolierstation der Stufe 4 umgebaut. Es sollte als vorübergehende Unterkunft für führende Politiker und Diplomaten aus der ganzen Welt dienen, die im UN-Gebäude verzweifelt darauf warteten, hierhergebracht zu werden.
Captain Jay Zwawa ging durch die gewaltige Kaserne. Er war erleichtert, dass er nach fast zwölf Stunden endlich seinen Racal-Schutzanzug hatte ausziehen können. Sein jüngerer Bruder Jesse war bei den Vereinten Nationen geblieben, um das für Mitternacht geplante Ausfliegen der Diplomaten zu koordinieren – vorausgesetzt, diese medizinische Zwischenstation würde jemals so weit hergerichtet sein, um ihre Gäste zu empfangen.
Verantwortlich für den Umbau der Kaserne war Joseph »Joey« Parker, ein geselliger Kerl aus Tennessee, der die Figur und die Haltung eines Offensive Tackle besaß. Jay Zwawa entdeckte den auf medizinische Einrichtungen spezialisierten Ingenieur, als dieser ein Belüftungsrohr inspizierte, während er über Funk seinen Vorarbeiter anschrie.
»Hören Sie zu, Sie völlig verblödeter Schwachkopf. In diesem Gebäude gibt es mehr Löcher als in einem Bordell in Vegas. Und das Stück Schweizer Käse, das Sie ein Belüftungssystem nennen, muss von Grund auf überarbeitet werden.«
»Probleme, Mr. Parker?«
Der Ingenieur schloss sein Handy und drehte sich zu Zwawa um. »Mein Pferd leidet unter Verstopfung. Mein Pferd hat Probleme. Wir haben hier gleich mehrere Situationen, in denen es um Leben und Tod geht. Zunächst einmal müssen wir in diesem uralten Scheißhaus die Strömungsrate bei der Abluft erhöhen, oder wir werden niemals einen Differenzialdruck erreichen, der so hoch ist, dass das Bakterium uns nicht bei der nächsten kühlen Brise entwischt. Und fragen Sie mich gar nicht erst, wann wir hier fertig sind. Ich habe schon Hühnerställe gesehen, die weniger porös waren.«
»Sagen Sie mir, was Sie brauchen. Mehr Männer? Zusätzliche Ausrüstung?«
»Ich brauche mehr Zeit und ein paar Dutzend Wunder. Wessen brillante Idee war das eigentlich? Sie sollten diese Arschlöcher aus dem Elfenbeinturm zu einer Einrichtung fliegen, die wirklich den Sicherheitsbestimmungen der Stufe 4 entspricht.«
»Wir haben unsere Gründe, Mr. Parker. Und jetzt – wie lange noch?«
»Wie lange, wie lange? Nehmen wir mal an, ich schaffe es, dass das neue Belüftungssystem Punkt neun Uhr läuft. Dann könnte eine Station um zwei Uhr nachts fertig sein.«
»Unser Ziel war Mitternacht.«
»Und mein Ziel war es, alle meine Haare zu behalten. Aber auch das hat sich als vollkommen unmöglich erwiesen. « Er klappte sein Handy beim ersten Klingeln auf. »Susan Lynn, ich muss dich zurückrufen.«
Zwawa warf ihm einen scharfen Blick zu.
»Sehen Sie, Captain, Sie haben mich eingeflogen, damit ich einen Auftrag erledige, und genau das werde ich auch tun. Meine Leute reißen sich den Arsch auf, aber das Problem ist die Einrichtung, die Sie gewählt haben. Sie ist alt, und selbst wenn wir eine neue Innenverkleidung angebracht haben, wird noch überall Luft ausströmen. Wenn wir Luft verlieren, verlieren wir den Unterdruck, der die Bakterien daran hindert, aus dem kontrollierten Bereich zu entkommen. Und wenn das passiert, dann können Sie sich von dieser ganzen verdammten Insel verabschieden.«
Jay Zwawas Handy vibrierte. »Zwawa.«
»Sir, die Frau vom VA Hospital ist gerade eingetroffen. Wir haben sie in Gebäude zwanzig untergebracht.«
»Bin schon unterwegs.« Der Captain wandte sich an den Ingenieur. »Zwei Uhr, Mr. Parker. Eine Minute später, und Sie reinigen Belüftungsanlagen in Midtown Manhattan. «
Fort Tryon
Park
Inwood, Manhattan, New
York
20:22 Uhr
Sie hatten sich zielstrebig durch den Wald bewegt, wobei Virgil die Baumstämme als Deckung gegen die Nachtsichtgeräte der Soldaten benutzte. Die Wege waren kaum sichtbar, und der felsige Boden senkte sich so rasch ab, dass Shep in der Dunkelheit des dichten Waldes über knotige Wurzeln stolperte, die unter den Blättern verborgen waren.
Es dauerte nicht lange, und die Suchscheinwerfer der Hubschrauber lagen hinter ihnen; kurz darauf war auch das Donnern der Rotorblätter nicht mehr zu hören. Virgil trat aus dem Wald und führte sie auf eine Lichtung, auf der ein Kinderspielplatz angelegt worden war.
Shep hustete. Die Kälte machte seiner Lunge zu schaffen. »Wo sind wir?«
»Fort Tryon Park. Was ist mit deinem Arm passiert?«
»Mit meinem Arm?« Patrick musterte die zerstörte Armprothese im Licht einer Lampe des Parks. Vom Ellbogengelenk abwärts hatte sich das künstliche Fleisch vom stählernen Gestänge geschält. Auch das zangenförmige Greifgelenk war verschwunden. Das scharfe Ende des metallenen Unterarms wölbte sich wie eine Sichel.
»Das muss passiert sein, als ich den Arm unter der Konsole herausgerissen habe.« Shep hob die deformierte Prothese und führte sie in einer raschen, bogenförmigen Bewegung nach unten. Die scharfe Kante des beschädigten künstlichen Arms zischte wie eine Klinge durch die frische Nachtluft. »Sie schneidet wie eine Sense. Ich wette, das wäre eine ganz üble Waffe.«
»Mag sein, aber du solltest sie trotzdem abnehmen, bevor du dir ein Bein abschneidest.«
Shep griff unter seinen Pullover und versuchte, die Halterung zu lösen. »Sie klemmt. Und die Sensoren unter meinem Deltamuskel … Sie müssen miteinander verschmolzen sein. Ich kann sie nicht mehr bewegen.«
»Patrick, dieses Holzkästchen … Du hast gesagt, dass sich der Impfstoff darin befindet.«
»Leigh hat das … Dr. Nelson hat das gesagt. Die Schweine haben sie niedergeschossen, als ich mit dem Hubschrauber weggeflogen bin. Auch mich haben sie verfolgt. Ich habe Glück, dass ich noch am Leben bin.«
»Die Nacht ist noch jung. Mach es auf. Sehen wir uns mal an, was drin ist.«
Shep setzte sich auf eine Parkbank und stellte das polierte Kästchen auf seinen Schoß. Er öffnete die beiden Verschlüsse an der Vorderseite und klappte den Deckel auf. Von einer Styroporpolsterung umgeben befanden sich elf Fläschchen darin; jedes von ihnen war mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt. Der Platz für das zwölfte Fläschchen war leer.
Virgil las die getippte Notiz, die jemand zusammengefaltet zwischen die Polsterung und die Wand des Kästchens gesteckt hatte. »Warnung: Dieses Antibiotikum enthält einen mächtigen Neurotransmitter, der die Blut-Hirn-Schranke überwindet. Es kann zu halluzinogenen Wirkungen kommen. Zorn und reaktives Verhalten verstärken die Symptome. Sorgen Sie dafür, dass der Patient ruhig bleibt. Lassen Sie ihn während der ersten sechs bis zwölf Stunden nicht unbeaufsichtigt.«
»Dr. Nelson wollte, dass ich das zum Center for Disease Control in New Jersey bringe. Ich vermute, dass das jetzt nicht mehr infrage kommt.«
»Patrick, die Menschen sterben zu Zehntausenden in den Straßen.«
»Was sollen wir tun?«
»Wir? Du spielst in dieser Sache Gott, nicht ich.«
»Was soll das denn heißen?«
»Das soll heißen, dass du die Macht über das Leben in Händen hältst, und das, mein Freund, macht dich zu Gott. Patrick, der Herr. Also sag mir, wer soll heute Abend leben und wer soll sterben?«
»DeBorn … Ich habe ihn ganz vergessen! Virgil, ich muss meine Familie finden. Sie alle sind in schrecklicher Gefahr.«
»Patrick …«
»DeBorn hat versucht, mich umzubringen, und jetzt wird er versuchen, meine Familie zu erwischen. Ich muss Battery Park erreichen, bevor …«
»Patrick, ich habe mit deiner Seelengefährtin gesprochen. «
Das Blut verschwand aus Sheps Gesicht. »Du hast mit Bea gesprochen? Wie? Wann?«
»Heute Nachmittag. Nachdem ich dich im VA besucht hatte.«
»Was hat sie gesagt? Hast du ihr erzählt, wie sehr ich sie vermisse? Will sie mich wiedersehen?«
»Sie liebt dich, doch sie hat Angst, dass du einen Akt der Verzweiflung begehen wirst. Ich habe ihr gesagt, dass du verwirrt und verängstigt bist. Sie hat darum gebetet, dass ich dir helfen könnte, deinen Weg wiederzufinden. Ich habe ihr versprochen, dass ich das tun würde. Ich habe ihr versprochen, dass ich dich zu ihr und zu deiner Tochter bringen würde … wenn du bereit bist.«
»Ich bin bereit, Virgil. Ich schwöre bei Gott …«
»Sieh dich um, mein Sohn. Alles hat sich verändert. Der Engel der Dunkelheit hält ein Festgelage in Manhattan. Überall in der Stadt herrscht Panik. Wir sind in Inwood, am nördlichen Rand der Insel, und Battery Park liegt an der Südspitze. Das macht gut zehn Kilometer Luftlinie, und zu Fuß sind es doppelt so viel. Es gibt keine öffentlichen Verkehrsmittel. Die Straßen sind völlig verstopft. Wir müssen den gesamten Weg zu Fuß gehen, und alle Wege sind mit Toten gepflastert. Ganze Stadtviertel sind von der Pest verheert.«
»Das ist mir egal. Ich würde durch die Hölle gehen, wenn ich dadurch meine Familie wiedersehen würde.«
»In Ordnung, Dante. Wenn du durch die Hölle spazieren willst, dann werde ich dich hinführen. Doch du solltest lieber eins von diesen Fläschchen trinken, oder du wirst hier nie wieder lebend rauskommen.«
»Ja … okay, das klingt sinnvoll. Am besten trinkst du auch eins.«
»Ich? Ich bin ein alter Mann. Die meisten meiner Tage liegen hinter mir. Außerdem muss einer von uns einen klaren Kopf behalten, wenn wir deine Familie finden wollen.«
»Dann solltest du den Impfstoff nehmen. Ich werde uns führen.«
»Eine edle Geste, aber das ist völlig unmöglich. Ich kenne die Gegend. Du würdest dich schon nach fünf Minuten verirren. Und jetzt tu, was ich dir sage. Wir verlieren kostbare Zeit. Die Soldaten wollen diesen Impfstoff ebenfalls, und ich vermute, dass sie erst schießen und dann Fragen stellen. Aber dir brauche ich das ja nun wirklich nicht zu sagen.«
»Gut. Aber ich hebe den Impfstoff für dich auf, nur für den Fall.« Shep nahm eines der Fläschchen. Er zog den Korkverschluss mit den Zähnen auf und trank die klare Flüssigkeit.
»Wie fühlst du dich?«
»Gut. Aufgeregt. Als hätte ich plötzlich ein wichtiges Ziel.«
»Du solltest dich auf einiges gefasst machen, mein Sohn. Was vor uns liegt … vermag einem Menschen die Seele zu rauben.«
Virgil brach auf, und die beiden folgten einer Reihe von Büschen, die parallel zum Riverside Drive verlief. Der asphaltierte Weg führte sie in Richtung Fluss und Henry Hudson Parkway.



