»Welchen Unterschied macht es denn für die Toten, für die Waisen, für die Vertriebenen, ob die teuflische Zerstörung im Namen einer Diktatur kam oder im heiligen Namen von Freiheit und Demokratie?«

MAHATMA GANDHI



»Unsere Gesellschaft wird von Verrückten geführt, für verrückte Ziele. Ich glaube, wir werden von Wahnsinnigen gelenkt, zu einem wahnsinnigen Ende, und ich glaube, ich werde als Wahnsinniger eingesperrt, weil ich das sage. Das ist das Wahnsinnige daran.«


JOHN LENNON

BIOLOGISCHE KRIEGSFUHRUNG, PHASE IV

GESELLSCHAFTLICHE LÄHMUNG

20. DEZEMBER

VA Medical Center
East Side, Manhattan, New York
11:49 Uhr
(20 Stunden, 14 Minuten vor dem prophezeiten Ende der Tage)


Dr. Jonathan Clark war stolz darauf, ein Mensch mit starker Selbstdisziplin zu sein. Aufstehen vor Tagesanbruch. Haferbrei zum Frühstück. Mittags Geflügelsalat. Kardio-Übungseinheiten dreimal die Woche jeweils dreißig Minuten, anschließend zwanzig Minuten Gewichte. Als Direktor des Veteranenkrankenhauses blieb er der ultimative Zuchtmeister. Die Führungskraft muss das Tempo vorgeben. Von den Mitarbeitern wurde erwartet, zu allen Besprechungen fünfzehn Minuten zu früh zu erscheinen; Clark sprach diesbezüglich von der »Vince-Lombardi-Zeit«. Für jede Aufgabe gab es eine Checkliste, um den Erfolg zu messen. Jonathan Clarks Meinung nach retteten Regeln Leben, und niemand war davon befreit, Gott einmal ausgenommen.

Er würde beiden zu danken haben, sollte er das Ende dieses Tages noch erleben.

Die totenbleiche Russin litt höllische Qualen. Sie hatte hohes Fieber und hustete Blut. Die Röntgenbilder offenbarten eine Beckenfraktur. Die Computertomografien zeigten keine schweren inneren Verletzungen. Für 11:45 Uhr war ein Notkaiserschnitt angesetzt. Infusionen waren verabreicht und Blutproben angeordnet worden.

Um 11:15 Uhr war der Fieberwahn der Patientin heftig geworden. Unter »Der-Teufel-existiert!«-Geschrei hatte sie Radau gemacht, als sei sie besessen. Die Pfleger waren gezwungen, sie festzuschnallen. Eine Schwester gab ihr ein Beruhigungsmittel. Sie wurde in einen Isolierraum verlegt, damit sie die anderen Patienten nicht belästigte. Niemandem fiel auf, dass die Russin in perfektem Englisch geiferte.

Sie wurde gerade für die Operation vorbereitet, als Dr. Clark um Punkt 11:29 Uhr erschien, um seine 11:30-Uhr-Notaufnahme-Visite zu machen. Nachdem er sich noch einmal das Krankenblatt der Russin angesehen hatte, schickte er sich an, Kittel, Handschuhe und Maske anzuziehen.

»Sir, das ist nicht nötig. Sie wurde nur in den Isolierraum verlegt, weil sie tobte wie eine Irre.«

»In der Isolation müssen wir uns nach dem Isolationsprotokoll richten. Mir ist egal, ob Sie bloß reingehen, um eine Glühbirne zu wechseln. Jetzt ziehen Sie sich richtige Kleidung an, bevor ich Ihnen ein Tagesgehalt abziehe.«

»Ja, Sir.«

»Laut ihrem Krankenblatt arbeitet sie in der Russischen Botschaft. Sind die Russen kontaktiert worden?«

»Wir haben’s versucht, Sir. Keine Antwort. Anscheinend gibt es irgendeinen Notfall bei der UNO.«

Dr. Clark wartete, bis der behandelnde Arzt und die Schwester mit dem Umziehen fertig waren, bevor er sie in den Unterdruck-Isolierraum führte.

Die Haut der Frau fühlte sich heiß an, selbst durch Dr. Clarks Handschuhe hindurch. Das Fleisch war so blass, dass es beinahe durchsichtig wirkte und ein dünnes Netz blauer Adern an Stirn, Schläfen und Hals zum Vorschein kam. Ihre Atmung war flach und unregelmäßig, ihre Pupillen waren geweitet. Die Augenhöhlen waren dunkel und eingefallen und wirkten hohl. Ihre Lippen waren weiß und straff über den teils geöffneten Mund gezogen, aus dem bei jedem gekeuchten Atemzug Speichel mit einem Schuss Blut quoll.

Der voll entwickelte Bauch der Frau war entblößt und abgetupft. Das ungeborene Kind darin strampelte und wand sich heftig im Uterus seiner Mutter.

»Haben Sie sie auf Antibiotika gesetzt?«

»Cefuroxim. Keine Wirkung.«

Dr. Clark öffnete Marys Krankenhaushemd und entblößte ihre eher kleinen Brüste. »Was sind das für rote Male?«

»Wir sind uns nicht sicher. Zuerst dachten wir, sie stammen von dem Zusammenprall mit dem Taxi; sie ist ziemlich hart gestürzt, als sie auf die Straße schlug. Wir warten noch auf die Laborergebnisse.«

Dr. Clark befühlte ihren Unterleib, dann arbeitete er sich nach unten zu ihrer Leistengegend vor, wo er sich an dem Baumwollschlüpfer entlangtastete – und an einer Wölbung innehielt. Er nahm eine Schere mit stumpfen Enden und schnitt den Stoff los, woraufhin ein geschwollener, leicht violett-schwarzer, rundlicher Fleischklumpen von der Größe einer Mandarine zum Vorschein kam.

»Sir … Ich schwöre, das war vorhin noch nicht da.«

»Das ist ein Bubo, ein infizierter Lymphknoten. Wer außer Ihnen beiden ist sonst noch mit dieser Patientin in Kontakt gekommen?«

»Die Pfleger. Hollis in der Radiologie.«

»Und die Rettungssanitäter, die sie einlieferten.«

»Dieser Raum steht offiziell unter Quarantäne. Sie beide müssen hierbleiben, während wir eine Isolierstation einrichten und uns mit dem CDC in Verbindung setzen.«

»Sir, ich hab meine TB-Spritzen bekommen.«

»Ich auch.«

»Das ist keine Tuberkulose, Schwester Coffman. Das ist die Beulenpest.«


Negative Energie lag in der Luft. Obwohl nicht so offenkundig wie ein schriller Pfiff oder ein Zahnarztbohrer, war ihre Gegenwart spürbar, und die Bewohner von Station 19-C waren sichtlich aufgewühlt. Diejenigen, die unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln standen, stöhnten in fiebrigem Schlaf. Wer von ihnen bei Bewusstsein war, der kratzte an seiner Haut oder stimmte in ein Furzkonzert ein, das sich gegen die diensthabenden Schwestern richtete. Ein Mann schleuderte seine besudelte Bettpfanne quer durch den Raum, womit er zu einem halben Dutzend ähnlicher Reaktionen anstiftete.

Den verwundeten Soldaten auf dieser Station und einem Dutzend anderer im Großraum New York City fehlten weder Gliedmaßen noch litten sie unter Schuss-oder Granatsplitterverletzungen. All diese Veteranen im Alter zwischen einundzwanzig und siebenunddreißig Jahren starben an Krebs.

Trotz der internationalen Ächtung von Uranmunition hatten die US-Streitkräfte zur Munitionsherstellung weiter unverhohlen abgereichertes Uran verwendet, das ein Nebenprodukt des Urananreicherungsprozesses war. Urangranaten wurden von militärischen Auftragnehmern bevorzugt, weil sie so billig waren – abgereichertes Uran wurde den Waffenherstellern von der US-Regierung kostenlos angeboten.

Die Bewegungsenergie einer abgefeuerten Urangranate verwandelte sich beim Aufprall in Hitze, sodass das Geschoss sich durch Stahl und Stahlbeton brennen konnte, wobei mikroskopisch kleine radioaktive Staubpartikel freigesetzt wurden, die vom Wind verfrachtet wurden. Abgereichertes Uran wurde leicht eingeatmet oder geschluckt, schwächte das Immunsystem und konnte zu akuten Atemwegsleiden, Nieren-sowie Magen-und Darmerkrankungen führen – und zu Krebs.

Staff Sergeant Kevin Quercio hatte zwei Jahre in Basra als Besatzungsmitglied auf einem Bradley-Schützenpanzer verbracht, der 25-mm-Uran-Munition gegen feindliche Kämpfer in der Stadt Al-Samawa einsetzte. Kevin und die Mitglieder seiner Besatzung hatten sich über mehrere Monate hinweg bei ihrem befehlshabenden Offizier über extreme Beschwerden, vor allem im Darm-und Mastdarmbereich, beklagt. Sanitäter taten das Problem als Hämorrhoiden ab, aber der Schmerz wurde nur schlimmer. Nachdem sie von Arzt zu Arzt weitergereicht worden waren, ordnete ein Onkologe, der als Reservist diente, schließlich eine Röntgenuntersuchung an und entdeckte auf den Röntgenbildern drei Fälle von Darmkrebs, einen Fall von Leukämie, zwei Männer mit Morbus Hodgkin und einen weiteren Soldaten mit einem bösartigen Gehirntumor.

Kevin wurde nach New York zurücktransportiert, wo Ärzte seinen Mastdarm verkürzten und die Tumore von seiner Leber brannten; der Krebs hatte sich allerdings bereits auf beide Lungenflügel ausgebreitet. Als der sechsundzwanzigjährige gebürtige New Yorker erwachte, hatte er einen Kolostomiebeutel und die Prognose unheilbarer Darm-und Lungenkrebs; die Ärzte gaben ihm noch ein Jahr zu leben.

Was die Nachricht von seinem Todesurteil noch verschlimmerte, war die Erklärung von Uncle Sam, dass Krebspatienten nicht wie andere verwundete Soldaten Unterstützungsleistungen erhalten würden, weil die US-Regierung sich weigerte, die Krankheit als Kriegsunfall anzuerkennen. Und so lagen Kevin Quercio und Tausende amerikanischer Veteranen wie er auf den onkologischen Stationen von Veteranenkrankenhäusern überall im Lande und warteten auf den Tod, im Stich gelassen von dem Land, für das sie das höchste Opfer, im Krieg zu dienen, gebracht hatten – und alles wurde vom öffentlichen Bewusstsein ferngehalten, um die laufenden Kriegsanstrengungen nicht zu stören.

Nur heute konnte Kevin Quercio nicht im Bett bleiben. Heute brannte ihm etwas auf der Seele, er schäumte vor Wut. Er griff nach dem Klingelknopf neben seinem Bett und rief nach der Schwester, holte aber stattdessen die stellvertretende Direktorin herbei, die gerade Visite machte.


Patrick war allein im Fahrstuhl und beugte seinen neuen linken Arm. Er war innerlich in Aufruhr. Die Erwartung des Wiedersehens mit seiner Frau und seiner Tochter nach so langer Trennung bereitete ihm große Sorge, und die Forderungen des neuen Verteidigungsministers entnervten ihn noch mehr. Was, wenn DeBorn mit harten Bandagen kämpft und mir nicht erlauben will, meine Familie zu sehen? Was, wenn er sie von mir fernhält, sie gar einsperrt, nur um mich dazu zu bringen, sein Aushängeschild für eine neue Rekrutierungswelle abzugeben?

Der Fahrstuhl hielt in der siebten Etage, und die Türen öffneten sich. Patrick Shepherd steuerte auf Station 19-C zu. Die Geräusche und Gerüche des Chaos versetzten seinen angeschlagenen Verstand augenblicklich zurück in die Notfallklinik in Ibn Sina.

»Der Blutdruck fällt, sechzig zu vierzig. Beeilen Sie sich mit dieser Oberarmarterie. Ich muss Dobutrex verabreichen, bevor wir ihn verlieren.«

»Sicher, dass das ein IED war? Sehen Sie sich die Haut an, die unter den Überresten seines Ellenbogens hängt, das Fleisch, das sich aufgelöst hat.«

»Die Arterie ist geschlossen, fangen Sie mit dem Dobutrex an. Okay, wo ist die verdammte Knochensäge?«

»Ich glaube, Rosen hat sie benutzt, um sein Bruststück zu tranchieren.«

»Wie ist sein Blutdruck?«

»Neunzig zu sechzig.«

»Geben wir ihm noch eine Einheit Blut, bevor wir den Arm abnehmen. Schwester, seien Sie so gut und halten Sie dieses Röntgenbild hoch. Ich will gleich hier amputieren, direkt unterhalb der Insertion an der Bizepssehne.«

»Shep, ich bin’s, David Kantor, können Sie mich hören? Shep?«

»Shep!«

Patrick riss sich los von den Bildern in seinem Kopf – Leigh Nelson rief um Hilfe! Er rannte durch die Station und stieß auf Staff Sergeant Kevin Quercio, der die Ärztin an den Haaren gepackt hielt, sich den Infusionsschlauch aus dem Arm riss und versuchte, sie damit zu würgen.

»Lass sie los, Kevin.«

Der Italo-Ire blickte auf und erstarrte. Wilde Wut schlug um in blankes Entsetzen. »Nein, noch nicht, Schnitter. Bitte nimm mich noch nicht mit!«

Shep wandte sich um, er war sich nicht ganz sicher, wen der Soldat ansprach.

Kevin ließ Dr. Nelson frei und ging in die Knie, während ihm Tränen übers Gesicht liefen. »Nimm mich noch nicht mit, bitte. Ich wollte diese Menschen nicht töten. Alles, was ich wollte, war, meine Dienstzeit abzuleisten und nach Hause zu kommen. Schnitter, bitte.«

Auf der Station wurde es still.

»Kevin, ich bin’s, Shep. Schon gut.«

»Ich hab nur Befehle befolgt! Ich hatte keine Wahl.«

»Alles in Ordnung, Alter.«

»Sie haben uns angelogen. Bitte, nimm mich noch nicht mit.«

»Mit wohin? Kevin, wohin soll ich dich nicht mitnehmen? «

Kevin wischte sich die Tränen ab, sein von der Chemotherapie geschwächter Körper zitterte vor Angst. »In die Hölle.«

Die Pfleger stürzten ins Zimmer. Einer half Leigh auf die Füße. Zwei brachten Kevin zurück zu seinem Bett.

Shep sah sich um. Die anderen Veteranen – alles Krebspatienten – starrten ihn angstvoll an. Mehrere Männer bekreuzigten sich.

Dr. Nelson zog ihn beiseite, sie zitterte am ganzen Körper. »Danke, Herzchen, Sie haben mir den Skalp gerettet. Sind Sie okay?«

»Sind Sie es?«

»Eigentlich nicht.« Ihre Unterlippe bebte. »Entschuldigung. Es war einer dieser Tage, Sie wissen schon. Oh, mein Gott, ich hab nicht mal den neuen Arm bemerkt. Toll, er sieht großartig aus. Gewöhnen Sie sich schon dran?« Ihr Pieper unterbrach die beiden, bevor Shep eine Chance hatte zu antworten. »Was ist denn jetzt wieder? « Sie blickte auf die SMS. »Ich muss los … irgendein Notfall.«

»Leigh, meine Frau … Sie sagten, Sie hätten eine Adresse.«

Sie machte ein langes Gesicht. »Tut mir leid, ich hab sie DeBorn gegeben. Aber sie ist noch in meinem Posteingang. Gehen Sie in die Bücherei und öffnen Sie die E-Mail. Mein Passwort ist Virginia Fox. Mann, ist das peinlich.« Sie küsste ihn flüchtig auf die Lippen. »Nochmals danke, Shep. Ich muss los.«

Sie machte zwei schnelle Schritte, dann fiel ihr etwas ein. »Colonel Argenti hat angerufen. Ihr neuer Therapeut wird heute Nachmittag kommen. Reden Sie mit ihm, Shep. Tun Sie’s für Bea.«

Sie winkte und eilte dann durch die Station zu den Fahrstühlen …

… ohne das Sicherheitsteam zu bemerken, das die Klinikausgänge verriegelte.



Sekretariatsgebäude der Vereinten Nationen
United Nations Plaza, Manhattan, New York
33. Etage
11:55 Uhr


Präsident Eric Kogelo lehnte sich im Sessel zurück und schloss die Augen. Umringt von einem Beraterteam, war er einem pausenlosen Kreuzfeuer aus Wortkaskaden ausgesetzt, was seine Migräne weiter verstärkte, bis er das Gefühl hatte, dass seine Augäpfel mit einem Eispickel untersucht wurden.

»… ja, der Iran droht mit einem Angriff, aber bei allem Respekt, Mr. President, unsere größere Sorge ist im Augenblick Scythe. Die Leute vom CDC bestätigen, dass die iranische Delegation verseucht wurde …«

»… zusammen mit Dutzenden anderer Delegierter und Hunderten amerikanischer Bürger. Also lassen Sie uns die Schuldzuweisungen zurückstellen.«

»Die Frau hat sich selbst mit einem Bakterium der Biosicherheitsstufe 4 infiziert, das sie in einem von der CIA finanzierten Labor in Fort Detrick kultiviert hat. Sie hat sich gezielt die iranische Delegation herausgesucht. Wenn Sie Schuldzuweisungen erleben wollen, dann warten Sie, bis ihr Höchster Führer seine nächste Rede hält.«

»Das dürfen wir nicht zulassen. Sir, ich empfehle, dass wir sämtliche Übertragungen abschalten …«

Der Präsident massierte seine Schläfe, während sein Geist nach einer Insel der Ruhe in dieser stürmischen See suchte. In jeder bedeutenden Gesellschaft gab es opponierende Kräfte, die das Chaos dem Fortschritt vorzogen. Eric Kogelo hatte diese Kräfte seit dem Augenblick seiner Amtsübernahme auf Schritt und Tritt bekämpft, und seine Regierung versuchte Kompromisse auszuhandeln, statt alles über den Haufen zu werfen. Mit dieser Taktik hatte er die Progressiven enttäuscht, während er es nach wie vor nicht schaffte, die Republikaner zu bekehren, die das Land lieber mit Furcht polarisierten, als einen bedeutsamen Wandel zu unterstützen. Kogelo, der nicht nachgeben wollte, mobilisierte seine Unterstützer und machte allmählich Fortschritte gegen eine Opposition, die von der Krankenversicherungsbranche, den Pharmaunternehmen und dem Monopol fossiler Brennstoffe angeführt wurde. Der junge Präsident wusste jedoch, dass sich im Schatten des Krieges noch eine stärkere Macht verbarg. Sich mit dem militärisch-industriellen Komplex einzulassen war ein gefährliches Spiel.

Einen Tag wie heute hätte er sich dennoch niemals träumen lassen.

»Mr. President, Scythe ist nicht bloß ein iranisches Problem. Nach allem, was wir wissen, hätte sich jeder in dem Saal infizieren können – Sie eingeschlossen, Sir.«

Köpfe drehten sich zu dem Stabschef, als hätte der soeben Gott verflucht.

Kogelos Pressesprecher versuchte die Situation zu retten. »Sir, der Bürgermeister soll in fünfzehn Minuten zu den Medien sprechen – vielleicht sollten Sie dort sein.«

»Der Präsident kann das Gebäude nicht verlassen. In dem Moment, wo er geht, werden die anderen Delegierten verlangen, dass man sie ebenfalls gehen lässt; wir verlieren die Kontrolle und haben keine Möglichkeit, die Sache einzudämmen.«

»Wer sagt denn, dass wir überhaupt die Kontrolle haben? Haben Sie in letzter Zeit mal einen Blick nach draußen geworfen? Die Typen von der Army haben gerade eben noch zwei Zelte aufgebaut, und der ganze Platz ist von Militärfahrzeugen umstellt.«

»Genau deswegen müssen wir jetzt etwas unternehmen, bevor es zu spät ist. Einen Evakuierungshubschrauber aufs Dach beordern. Bringen wir den Präsidenten raus aus Manhattan.«

»Sie meinen, bringen wir Sie raus aus Manhattan.«

»Ist das ein solches Verbrechen? Ich habe Frau und Kinder. Keiner von uns ist infiziert.«

»Sind Sie da so sicher, dass …«

»Schluss jetzt!« Eric Kogelo stand auf, der Schmerz in seinem Kopf war fürchterlich. »Informieren Sie den Bürgermeister. Sagen Sie ihm, er soll die Abriegelung Manhattans öffentlich bekannt geben, aber er soll auch betonen, dass es sich um eine reine Vorsichtsmaßnahme handelt, eher eine Katastrophenübung als ein tatsächlicher Ernstfall. Sagen Sie ihm nichts von Scythe. Das Letzte, was wir im Moment gebrauchen können, ist eine Massenpanik. Wo ist die First Lady?«

»Von Chicago unterwegs zum Weißen Haus.«

»Sie soll dort bleiben, sorgen Sie dafür, dass meine Familie in Sicherheit ist. Ich muss mich hinlegen … eine Stunde, um nachzudenken.« Der Präsident steuerte auf das Schlafzimmer zu, wandte sich dann noch einmal um und suchte den Blickkontakt mit jedem seiner Berater. Allen war bange zumute, doch niemand sah weg – ein gutes Zeichen.

»Wir stecken ziemlich in der Klemme, aber wir wollen nicht unsere Fassung verlieren und die Masse in Panik versetzen. Das Letzte, was wir wollen, ist, unseren Feinden den Vorwand liefern, für den sie die ganze Zeit die Trommel rühren, um Irans Ölreserven übernehmen und ihre Neue Weltordnung aus dem Boden stampfen zu können.«

»Sir, Scythe wurde nur Minuten, bevor Sie zur UNO sprechen wollten, freigesetzt. Ist es möglich …«

»Dass wir einen Judas im Weißen Haus haben?« Der Präsident atmete aus und kniff sich in den Nasenrücken. »Trauen Sie niemandem außerhalb dieses Raumes.«


City Hall Park, Lower Manhattan, New York
12:04 Uhr


Geboren in Niagara Falls und aufgewachsen in der Bronx, war Mathew Kushner New Yorker in der vollen Bedeutung des Wortes. Nachdem er die Syracuse University und die New York Law School absolviert hatte, trat Kushner in die Kanzlei seines Vaters ein und spezialisierte sich auf Einwanderungsrecht. Am Morgen des 11. September 2001 war der Anwalt weniger als einen Kilometer von seinem Büro in Lower Manhattan entfernt, als der erste gekaperte Passagierjet in den New Yorker Luftraum eindrang und ins World Trade Center einschlug.

Bürgermeister Kushner stand auf den obersten Stufen des Rathauses vor einem mit Mikrofonen gespickten Podium und musste sich beherrschen, das Rednerpult nicht mit einem Fußtritt in die Menge zu befördern. Wieder einmal war seiner geliebten Stadt Gewalt angetan worden. Man hatte Manhattan gewaltsam isoliert, ohne seinen Rat oder seine Billigung einzuholen. Aus Washington wurde er mit Halbwahrheiten gefüttert, während schwarze Militär-Hummer durch die Straßen rasten und Männer in Schutzanzügen überall in Tudor City und bei der UNO die Angst schürten. Es brauchte weder einen Einwanderungs-Anwalt, um zu begreifen, dass gerade massiv Bürgerrechte verletzt wurden, noch ein Examen in Psychologie von der Syracuse, um zu wissen, dass Manhattans Blutdruck weiter in Wallung geraten würde, bis die Situation in einem Aufstand eskalierte, gegen den die Watts-Unruhen von Los Angeles aussehen würden wie eine Parkplatz-Party.

Und das war letztendlich auch der Grund, warum Bürgermeister Kushner schließlich eingelenkt hatte und nun die zweifelhafte Rolle des Pressesprechers spielte. Nicht weil er die Geschichte, die man ihm aufgetischt hatte, glaubte, sondern weil er sie glauben musste – weil die Notlüge eines Politikers manchmal den Unterschied zwischen staatsbürgerlichem Gehorsam und staatsbürgerlicher Zerrüttung ausmachte.

»Guten Tag. Wie die meisten von Ihnen inzwischen wissen, sind sämtliche Brücken, Tunnels, Schnellstraßen, im Prinzip alle Möglichkeiten, Manhattan zu verlassen oder zu betreten, vorübergehend gesperrt worden. Diese Anordnung, die direkt aus dem Weißen Haus kam, ist eine Vorsichtsmaßnahme, die es dem medizinischen Personal der Seuchenschutzbehörde erlaubt, einen kleinen Ausbruch eines grippeähnlichen Virus, der vor ein paar Stunden auf der United Nations Plaza entdeckt wurde, zu bewältigen, zu versorgen und zu beobachten. Zu Ihrer eigenen Sicherheit und um eine Entspannung der Stauverhältnisse zu ermöglichen, bitte ich alle Bewohner und Gäste Manhattans, in geschlossenen Räumen zu bleiben, bis das CDC offiziell Entwarnung gibt.«

»Bürgermeister Kushner …«

»Herr Bürgermeister!«

Ohne die Presse zu beachten, folgte Mathew Kushner seinen Referenten zurück ins Rathausinnere und nahm sich vor, seine Wut an dem ersten Mitarbeiter der Regierung Kogelo auszulassen, der dumm genug war, seinen Anruf entgegenzunehmen.


143 Houston Street
Lower Manhattan, New York
12:55 Uhr


Im Jahr 1898 erbaut, beherbergte das Sunshine Cinema zunächst das Houston-Hippodrome-Filmtheater, dann ein jiddisches Varieté, bevor es in eine Lagerhalle umgewandelt wurde. Fünfzig Jahre später wurde es wieder in ein Kino umgewandelt, das mit fünf Leinwänden, modernster Projektionstechnik, bequemen Sitzen, Dolby Digital Surround EX Sound sowie Imbiss-und Getränke-Ständen ausgestattet war und außerdem über einen japanischen Steingarten und eine Aussichtsbrücke verfügte, die von der dritten Etage des gläsernen Anbaus aus atemberaubende Blicke auf die Stadt bot.

Die dreizehnjährige Gavi Kantor stand mit ihren beiden besten Freundinnen, Shelby Morrison und Jamie Rumson, vor der Kinokasse. Nachdem sie zuvor übereingekommen waren, am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien den Unterricht zu schwänzen, stritten die drei Siebtklässlerinnen nun darüber, welche Frühvorstellung sie sich ansehen sollten.

»Wie wär’s mit Sisters of the Traveling Pants, Teil 3?«

»Bist du lesbisch, Jamie? Im Ernst. Was ist mit dir, Gavi?«

»Ist mir egal. Ich hätte nichts dagegen gehabt, mir in Mrs. Jenkins’ Unterricht Blu-Ray-Filme anzugucken.«

»Du meinst, dir Blu-Ray-Filme mit Shawn-Ray Dalinky anzugucken.«

»Halt die Klappe, Shelby.«

»Versuch’s gar nicht erst abzustreiten. Er ist praktisch überall auf deiner Facebook-Seite.«

Shelbys Handy klingelte. Sie sah auf die Nummer. »Gavi, es ist deine Mom! Was soll ich machen?«

»Geh nicht ran!«

»Hallo? Oh, hi, Mrs. Kantor. Nein, ich hab Gavi nicht gesehen … Ich meine, ich hab sie in der zweiten Stunde vermisst. Ich, äh, hatte schlimme Krämpfe und musste zur Schulkrankenschwester. Wieso? Stimmt irgendetwas nicht?« Die Augen des Teenagers weiteten sich. »Echt? Okay, wenn ich sie sehe, sag ich ihr, sie soll anrufen.« Sie legte auf.

»Was ist los?«

»Es gibt irgendeinen Notfall. Deine Mom hat gesagt, sie hätten die Straßen und Züge stillgelegt.«

»Wie kommen wir nach Hause?«

»Von jetzt an gar nicht. Wahrscheinlich werden wir in der Turnhalle campieren müssen.«

»Oh, yeah, Baby. Gavi und Shawn-Ray Dalinky, wie sie sich auf dem Hartholzfußboden aneinanderkuscheln.«

Jamie lachte.

Gavi hatte Angst. »Wir sollten lieber zurück zur Schule.« Ihre Freundin ignorierend, gab Shelby der Frau an der Kinokasse ihre Kreditkarte. »Dreimal Stranglehold

»Shelby, was tust du da?«

»Wir sind hier, Gavi. Warum sollen wir zurück zur Schule hetzen? Ruf deine Mom später an und sag ihr, dein Telefon wär verreckt.«

»Vergiss es. Ich gehe zurück. Jamie?«

»Ich bleibe.«

Gavi zögerte, dann ging sie, überquerte die Houston Street und lief in Richtung Chinatown.

»Gavi, geh nicht. Gavi!«

»Vergiss sie, Jamie. Ich wundere mich, dass sie überhaupt mitgekommen ist. Na los, du kaufst die Süßigkeiten und das Popcorn.«


George Washington Bridge
13:07 Uhr


Der Verkehr auf der New-Jersey-Seite der Brücke staute sich auf mehreren Kilometern. Die Mittelleitplanken waren entfernt worden, und die Fahrer waren gezwungen, kehrtzumachen und auf die nach Westen gehenden Fahrspuren der Interstate 95 hinüberzuwechseln, die sie nach Fort Lee zurückbrachten.

David Kantor klammerte sich an die Sitzbank auf der Ladefläche des Armeetransporters, während das Fahrzeug über das jetzt leere Oberdeck der George Washington Bridge ostwärts auf Manhattan zuraste. Die stickige Sauerstoffmaske, die sein Gesicht bedeckte, gab jeden schwerfälligen Atemzug verstärkt wieder. Die Schultern schmerzten ihn von den zwanzig Kilo Ausrüstung, die er auf den Rücken geschnallt hatte. Die an seinen Allzweckgürtel geklemmten Tränengaskartuschen und das mit Gummikugeln geladene Sturmgewehr machten ihm höllisch Angst. Aber nicht so sehr wie das, was er durch das offene Heck des Lasters sah.

Während ein Sprengtrupp der Army mit Klebeband Ladungen an den Haltetrossen befestigte, besprühte ein Team, das Overalls trug und mit Atemgeräten ausgerüstet war, mittels langer Greifarme Fahrbahn und Unterbau der Brücke mit Farbe.

David wusste, was der Farbe beigemischt war, und das war es, was ihn verunsicherte. Das ist wahnsinnig. Irgendetwas Schlimmes ist passiert. Er verfluchte sich dafür, dass er sein Handy abgegeben hatte, bevor er seine Frau anrufen konnte, um zu erfahren, ob Gavi es überhaupt nach Hause geschafft hatte.

Das Militärfahrzeug kam schleudernd zum Stehen. Als höchster Offizier vor Ort wies David die zehn Nationalgardisten und drei Army-Reservisten an, hinter dem Heck des Lasters anzutreten.

»Captain Kantor?« Die dröhnende Stimme brachte das Walkie-Talkie im Innern von Davids Kapuze zum Klirren. Er drehte sich zu einem imposanten bärtigen Mann um, der eine mit UN gekennzeichnete Uniform trug.

»Ich bin Commander Oyvind Herstad. Meine Männer sind für diesen Außenposten verantwortlich. Sind Sie der vorgesetzte Offizier für die innere Truppe?«

»Im Moment ja.«

»Ihre Leute werden ausschließlich zur Kommunikation eingesetzt; die Postenkette werden wir aufrechterhalten. «

»Postenkette? Welche Postenkette?«

Commander Herstad führte ihn um den Lastwagen herum.

Am Ende der Straße, wo die Brücke auf Manhattan traf, waren quer über alle acht Spuren der Interstate 95 Militär-Hummer als Hindernis postiert. Hinter den Fahrzeugen lagen Stacheldrahtrollen, die über die obere Fahrbahn und die beiden Fußgängerwege auseinandergezogen waren, das Ganze verstärkt von schwer bewaffneten Soldaten in kakifarbenen Tarnanzügen, mit Gesichtsschutz, Atemmaske und Kapuzen.

Jenseits der Postenkette auf der Manhattan-Seite wurde der Fußgängerverkehr, so weit das Auge reichte, abgefangen. Die meisten zivilen Autofahrer blieben in ihren Fahrzeugen, um sich warm zu halten. Andere liefen in Gruppen umher, schrien die Soldaten an und verlangten Antworten. Mehrere Männer warteten, bis sie an der Reihe waren, um sich hinter einem stählernen Brückenträger, der von der Allgemeinheit zur behelfsmäßigen Toilette auserkoren worden war, zu erleichtern. David konnte die Auffahrt der 178. Straße sehen, auf deren Fahrspuren in Richtung Brücke sich Tausende Autos, Busse und Lastwagen Stoßstange an Stoßstange hintereinanderreihten. Sowohl die obere als auch die untere Trasse auf der Manhattan-Seite der Brücke blieben gesperrt.

»Was ist hier los?«

»Manhattan steht unter strikter Quarantäne. Bis auf Weiteres darf niemand die Stadt betreten oder verlassen.«

»Was ist passiert? Gab es einen Terroranschlag?«

»Einen biologischen Anschlag. Pest. Sehr ansteckend. Ihre Männer werden Positionen in nächster Nähe der Fußwege für Zivilisten beziehen. Vernünftig mit den Leuten reden. Sie ruhig halten. Die Freedom Force wird die Quarantäne aufrechterhalten.«

»Was zum Teufel ist die Freedom Force?«

»Wir sind eine internationale Division. Berufssoldaten.«

»Seit wann setzen die Vereinigten Staaten Berufssoldaten bei Notfällen im Innern ein?«

»Feldstudien haben gezeigt, dass eine einheimische Miliz zögern wird, die zur Bekämpfung ihrer Mitbürger erforderliche Gewalt anzuwenden. Die Freedom Force wurde geschaffen, um solchen Situationen zu begegnen. Unsere Miliz rekrutiert sich unter anderem aus der Kanadischen Militärpolizei, der Königlich-Niederländischen Brigade und den Norwegischen Streitkräften.«

»Das ist ja Wahnsinn.«

»Das ist die Welt, in der wir jetzt leben.«

»Wir sind an einem Sprengtrupp vorbeigekommen, der an der Brücke arbeitet. Was tun diese Männer?«

»Dafür sorgen, dass wir die Quarantäne auch durchsetzen können.«

»Sie haben vor, die George Washington Bridge in die Luft zu jagen?«

»Das ist nur eine Rückversicherung. Sie können ganz beruhigt sein, meine Männer werden die Postenkette aufrechterhalten. Machen Sie Ihre Arbeit und …« Herstad legte den Kopf auf die Seite und lauschte Befehlen, die aus seinem Ohrhörer kamen. »Schaffen Sie Ihre Männer her, schnell!«

David eilte zurück hinter den Laster. »Abteilung – mitkommen! «

Die Soldaten bildeten zwei Reihen und liefen hinter ihrem befehlshabenden Offizier her, überquerten im Laufschritt die Schnellstraße und steuerten auf den Fußweg für Pendler zu, der sich auf der Südseite der Brücke befand und wo ein anschwellender Mob aus mehreren Hundert Leuten sich durch die Barrikade zu drängen drohte; die Leute nahmen Reserveräder und Montiereisen zu Hilfe, um sich über den Stacheldraht herzumachen. Ein Dutzend Zivilisten fuchtelte mit Pistolen herum.

»Lass uns sofort durch, Kamerad!«

»Keiner von uns ist krank! Lass uns gehen!«

»Meine Frau ist in dem Auto, sie liegt in den Wehen.«

Commander Herstad zog David beiseite und reichte ihm ein Megafon mit einem Stecker für seine Atemmaske. »Sagen Sie ihnen, sie sollen zurücktreten, sonst haben wir keine andere Wahl.« Der Norweger fingerte am Abzug seiner Waffe herum. »Hier sind keine Gummikugeln drin.«

David näherte sich der Menge. Es waren überwiegend Männer. Getrieben von Verzweiflung. Befeuert durch Angst und das Bedürfnis, sich selbst und ihre Angehörigen zu retten. Sie waren unterlegen, aber ausreichend viele, um zu gewinnen, sobald sie organisiert waren. Hunderttausend in die Enge getriebene Katzen.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals. »Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten? Mein Name ist David Kantor, ich bin Captain der Reserve in der US Army …«

»Lassen Sie uns durch!«

»Das können wir im Moment nicht tun.«

»Dann werden wir es für Sie tun!« Ein Revolver wurde über die Menge erhoben.

Eine Schützenlinie aus Soldaten der Freedom Force brachte als Antwort die Sturmgewehre in Anschlag.

Die Menge duckte sich, während noch mehr Handfeuerwaffen auftauchten.

»Augenblick!« David trat vor die Schützenlinie.

Die ausländische Miliz rührte sich nicht vom Fleck und behielt die Finger am Abzug.

»Wo ist die schwangere Frau?« Keine Reaktion. »Ich bin Arzt. Wenn es jemanden gibt, der ärztliche Hilfe braucht, dann lassen Sie sie durch.«

Köpfe drehten sich. Die Menge teilte sich. Ein hispanisches Paar Anfang dreißig näherte sich dem Stacheldraht. Die Frau ging vornübergebeugt und stützte ihren geschwollenen Bauch.

»Wie heißen Sie?«

»Naomi … Naomi Gutierrez. Meine Fruchtblase ist geplatzt. Das ist mein Viertes. Es wird nicht mehr lange dauern.«

Commander Herstad nahm David beiseite. »Was tun Sie da?«

»Verhandeln.«

»Es gibt nichts zu verhandeln.«

»Wir verhandeln über Zeit, Commander. Die 42. IDS-COM mit ihren gepanzerten Fahrzeugen ist noch nicht eingetroffen, und ich wette, dass Ihr Sprengtrupp noch nicht ganz so weit ist, um ein Loch durch alle vierzehn Fahrspuren einer Hängebrücke mit zwei Ebenen zu sprengen. Außerdem wissen wir glaube ich beide, dass Ihre Männer nicht Hunderte von Fahrzeugen stoppen können, die gleichzeitig auf Ihre Postenkette zurasen. Also, wir machen Folgendes: Sie lassen die Frau durch, und wir bringen sie hinten in dem Laster unter, geben ihr ein paar Decken, und wenn es sein muss, helfe ich, ihr Kind auf die Welt zu bringen. Damit gewinnen wir etwas Zeit. Im Irak nannten wir das die menschliche Note. Aber, he, ich bin mir sicher, dass irgendwo eine Feldstudie herumliegt, falls Sie es nachlesen müssen. «

Herstad überflog die Menge; in den letzten paar Minuten hatte sie sich verdreifacht. »Nehmen Sie die Waffen runter. Und lassen Sie die Frau durch. Nur die Frau.«

David überflog sein Kommando und machte einen der weiblichen Nationalgardisten aus. »Wie heißen Sie, Corporal?«

»Sir, Collins, Stephanie, Sir.«

»Rühren. Corporal Collins, ich möchte, dass Sie Mrs. Gutierrez zu dem Laster begleiten, mit dem wir gerade hergekommen sind. Sorgen Sie dafür, dass sie es bequem hat, aber gefährden Sie Ihre Schutzausrüstung nicht. Ist das klar?«

»Sir, ja, Sir.«

David sah zu, wie Herstads Männer den Stacheldraht auf einem kleinen Teilstück zurückzogen und die schwangere Frau hindurchließen. Er schaltete das Megafon ein und wandte sich noch einmal an die Menge. »Der Frau wird nichts geschehen. Gehen Sie jetzt bitte zu Ihrer eigenen Sicherheit zurück zu Ihren Fahrzeugen und warten Sie, bis das Zeichen für Entwarnung gegeben wird.«

Die Meute zerstreute sich.

Die Freedom Force senkte die Sturmgewehre.

David Kantor folgte den beiden Frauen zu dem Militärfahrzeug, während sein Blick auf den knapp hundert Meter entfernten Sprengtrupp gerichtet war …

… der fortfuhr, die Unterseite der Brücke mit Farbe zu besprühen.


VA Medical Center
East Side, Manhattan, New York
13:32 Uhr


Leigh Nelson legte sich ins Zeug, um mit Dr. Clark mitzuhalten, der ihr sogar noch Anordnungen diktierte, während er Assistenzärzten Anweisungen erteilte, die dabei waren, Dutzende von Patienten zu verlegen und in der Notaufnahme zu ebener Erde eine Isolierstation einzurichten. »Wir haben die Seuchenschutzbehörde in Albany kontaktiert. Die Leute vom CDC sind schon bei der UNO. Anscheinend hat der Ausbruch dort angefangen. «

»Ergibt Sinn. Die Russin ist eine Delegierte.«

»Wir werden den Kaiserschnitt in der Notaufnahme durchführen und Mutter wie Kind anschließend auf die Isolierstation im dritten Stock zurückbringen. Der Säugling wird in einer Isoliereinheit bleiben. Die Mutter muss fixiert werden.«

»Ja, Sir.«

»Zeigen die Antibiotika irgendeine Wirkung?«

»Nein, Sir, noch nicht. Kalte Kompressen haben das Fieber ein wenig gesenkt. Sobald das Baby geboren ist, werden wir die Mutter an einen Morphium-Tropf hängen, um die Schmerzen zu behandeln.«

»Nein, sorgen Sie dafür, dass sie bei klarem Verstand bleibt. Das CDC will, dass wir so viele Informationen aus ihr herausholen, wie wir können. Mit wem sie in Kontakt kam, welche Gebäude sie betreten hat … Das ist Ihre Aufgabe, Dr. Nelson. Finden Sie alles heraus. Das CDC behauptet, diese Sache eindämmen zu können, aber ich erkenne Scheiße, wenn ich sie rieche, besonders wo die Bundespolizei jetzt das Verkehrsnetz stilllegt. Ich habe ein Dutzend Schutzanzüge bestellt, die aus dem Lagerbestand herübergebracht werden, und Myers ordentlich Dampf gemacht. Machen Sie sich auf das Schlimmste gefasst. Leigh, es wird eine lange Nacht.«


Der alte Mann betrat die Unfallstation. Seine Miene war gelassen, ein Kontrast zu dem Chaos rings um ihn herum. Er machte einen Bogen um den Tumult an der Aufnahme und schlenderte einen Flur hinunter, der gesäumt wurde von stöhnenden Patienten in fahrbaren Betten und verwirrten Assistenzärzten, die frustrierte Schwestern um Rat fragten. Als er bei den Fahrstühlen ankam, drückte er den Aufwärts-Knopf.

Der mittlere Aufzug kam als erster, die Türen öffneten sich …

… und ein Angestellter der Klinikverwaltung und drei Assistenzärzte stiegen aus, die alle Kittel, Handschuhe und Masken trugen. Sie schoben eine von einem tragbaren Plastik-Isolationszelt umgebene Bahre, auf der eine Patientin – eine leichenblasse schwangere Frau – lag, der man Handgelenke und Fußknöchel mit Fixierriemen ans Bettgeländer gefesselt hatte.

»Sir, bitte treten Sie zurück.«

Mary Louise Klipot öffnete ihre eingesunkenen Augen und starrte den alten Mann entgeistert an. Er grüßte mit einem schlichten Winken, bevor er in den nun leeren Fahrstuhl trat.


»He, Weißbrot, Telefon! Es ist entweder deine Alte oder die Nutte, mit der du gestern Abend zusammengezogen bist.«

Patrick Shepherd schnappt sich den Hörer des Münzfernsprechers. »Entschuldigung, Schatz. Nur einer von meinen Mannschaftskameraden, der dich verarscht. Wie geht’s deinem Dad?«

»Nicht gut. Der Krebs ist in seine Lymphknoten gewandert. Der Doktor sagt … es wird nicht mehr lange dauern.«

Tränen laufen ihm über die Wangen. »Okay. Ich komme nach Hause.«

»Dad sagte Nein, und er meinte es auch. Er sagte, wenn du die Mannschaft jetzt verlässt, wirst du deine Platzierung in der Rotation verlieren.«

»Ist mir egal.«

»Aber ihm nicht! Immer wenn das Fieber sinkt, redet er nur von dir. Wie geht’s Shep? Hat er heute geworfen? Also wie läuft’s?«

Shep wirft einen Blick in den Flur, um sich zu vergewissern, dass niemand zuhört. »Unterliga-Baseball ist beschissen. Ich bin umgeben von einem Haufen Achtzehnjähriger aus der Dominikanischen Republik, die keine Spur Englisch sprechen. Diese Burschen sind verrückt, als hätte man sie gerade erst vom Schiff gelassen.« Er drückt eine Träne weg. »Die Wahrheit ist, ich bin einsam. Ich vermisse dich und das Baby.«

»Wir werden dich schon bald besuchen. Wie ist die Konkurrenz? «

»Unerfahren. Aber ein paar Typen … Man kann sehen, dass sie ordentlich was schlucken.«

»Denk nicht mal drüber nach.«

»Was, wenn es meine einzige Chance ist?«

»Patrick …«

»Schatz, ich bin ein Draft Pick der neunzehnten Runde und wurde für fünfzehnhundert Dollar von der Rutgers ausgeliehen. Ein paar Spritzen, und ich wette, ich könnte meinen Fastball um mindestens vier Meilen pro Stunde beschleunigen.«

»Keine Steroide. Versprich’s mir, Schatz.«

»Na schön, ich versprech’s.«

»Wann ist dein nächster Start?«

»Mittwochabend.«

»Denk einfach daran, was Dad dir beigebracht hat. Tritt erst auf die Platte, wenn du weißt, wie du werfen willst. Wenn der erste Schlagmann wild um sich schlagend zu Boden geht, kein Lächeln, keine Gefühlsregung, ganz der Killer. Shep, hörst du überhaupt zu?«

»Entschuldigung. Ich kann nicht klar denken. Zu wissen, was mit deinem Dad los ist … dich und das Baby nicht zu sehen … Es kommt mir vor, als hätte ich ein Loch im Herzen.«

»Hör auf damit. Hör auf zu jammern. Du bist kein Opfer.«

»Er ist nicht bloß mein Trainer; er ist der einzige Vater, den ich jemals kannte.«

»Du hast dich vor drei Wochen verabschiedet. Wir alle wussten das. Wir haben alle geweint. Wenn du ihn in Ehren halten willst, dann mach Gebrauch von dem, was er dir zeit seines Lebens beigebracht hat. Und vergiss unsere Abmachung nicht. Ich heirate dich erst, wenn du in den oberen Ligen wirfst.«

»Ist schon in Ordnung, du knallharter Kerl.«

»Glaubst du etwa, ich mache Spaß?«

»Wir sind Seelengeschwister. Du kannst deinen Seelengefährten nicht verlassen.«

»Eine Abmachung ist eine Abmachung. Wenn du das Team jetzt verlässt oder anfängst, dir Nadeln in den Arsch zu stechen, bin ich auf der Stelle weg. Ich und meine Tochter.«

»Warum tust du das?«

»Weil Dad zu krank ist, um dir selbst den Kopf zu waschen. Weil wir uns an dem Tag, als du erfuhrst, dass ich schwanger war, auf einen Plan geeinigt haben. Du musst erfolgreich sein, Shep. Mach jetzt keinen Rückzieher. Wir zählen auf dich.«


Patrick Shepherd richtete sich im Bett auf, keuchend. Sein Körper war schweißgebadet, sein Verstand hatte einmal mehr Mühe, seine neue Umgebung zu erkennen.

»Das muss ein heftiger Traum gewesen sein.«

Shep drehte sich erschrocken um.

Der alte Mann lehnte sich in dem Schreibtischstuhl zurück und beobachtete ihn. Mehr alternder Hippie als älterer Mitbürger. Eine lange Haarmähne, silberweiß, über eine gebräunte Stirn nach hinten zu einem fünfzehn Zentimeter langen Pferdeschwanz gerafft. Ein passender Schnauzer und ein gestutzter Bart rahmten die Kieferpartie ein bis hinunter zum Adamsapfel. Die Augen waren blau, freundlich, aber wissbegierig und hinter einer Pilotenbrille mit burgunderrot getönten Gläsern verborgen. Er trug ausgeblichene Bluejeans, braune Wanderschuhe und einen dicken grauen Wollpullover über einem schwarzen T-Shirt. Mit seiner leichten Wampe ähnelte er einer älteren und gesunden Version des verstorbenen Sängers und Gitarristen der Grateful Dead, Jerry Garcia, wenn der seine mittleren bis späten Siebziger noch erlebt hätte.

»Wer sind Sie? Was tun Sie in meinem Zimmer?«

»Ein Freund von Ihnen hat mich geschickt, damit ich mit Ihnen rede. Meinte, Sie bräuchten irgendwie Hilfe. Übrigens, wer ist Trish?«

»Trish?«

»Sie haben laut ihren Namen gerufen.«

»Sie meinen Beatrice. Beatrice ist … war meine Frau. DeBorn hat Sie geschickt. Sie sind der Seelenklempner.«

Der alte Mann lächelte. »Wahrscheinlich nicht gerade das, was Sie erwartet haben, als Sie um Hilfe baten.«

»Sie sehen eher aus wie ein Flüchtling aus den Sechzigern als wie ein Psychiater.«

»Wie sollte ein Psychiater denn aussehen?«

»Ich weiß nicht. Klüger.«

»Mehr konnte ich so kurzfristig nicht tun. Soll ich mir den Bart abnehmen?«

»Mann, mir ist völlig schnuppe, wie Sie aussehen. Und nur um eine Sache klarzustellen, DeBorn ist nicht mein Freund. Er benutzt mich nur für irgend so eine neue Army-Rekrutierungspolitik von ihm. Sie sollten von vornherein wissen, dass ich es nicht mache.«

»Okay.«

»Okay? So mir nichts, dir nichts?«

»Nun ja, wir könnten Sie vermutlich foltern, aber ich war immer schon ein Befürworter des freien Willens.«

»DeBorn wird Sie nicht bezahlen, wenn ich nicht tue, was er sagt.«

»Kümmern wir uns nicht um Mr. DeBorn. Außerdem, was zwischen uns gesprochen wird, bleibt unter uns. Ist das nicht so üblich?«

»Die Sache ist komplizierter. Er kann mich daran hindern, meine Familie zu sehen.« Shep rutschte vom Bett und zog sich mit der rechten Hand das schweißnasse T-Shirt aus, wobei er es vorsichtig über seine neue Armprothese zog.

»Hat er Sie bis jetzt daran gehindert, sie zu sehen?«

»Tja … nein.«

»Warum haben Sie sie dann nicht gesehen?«

»Ich war wohl noch nicht so weit.«

»Aber jetzt sind Sie so weit?«

»Ja.«

»Gut. Wie lange ist es her, seit Sie sie zuletzt gesehen haben?«

»Zu lange. Elf Jahre, ungefähr. Ich kann mich kaum erinnern.«

»Warum sie dann überhaupt sehen? Wie’s aussieht, würden Sie bloß alte Wunden aufreißen.« Der Psychiater nahm die ledergebundene Ausgabe von Dantes Inferno in die Hand, die auf dem Schreibtisch lag, und durchblätterte beiläufig die abgewetzten Seiten.

»Alte Wunden? Es ist meine Familie. Ich habe gerade erfahren, dass sie hier sind, in Manhattan.«

»Sie wollen sagen: Ihre von Ihnen getrennt lebende Familie. Elf Jahre sind eine lange Zeit – ungefähr. Als Ihr Seelenklempner würde ich sagen, es wird Zeit, dass Sie sich weiterentwickeln.«

»Sie sind nicht mein Seelenklempner … Und könnten Sie wohl dieses Buch hinlegen! Leihen Sie sich’s in der Bücherei aus, wenn sie’s unbedingt lesen wollen.«

»Oh, ich habe es gelesen.« Er drehte das Buch um und las laut die Inhaltsangabe. »Dantes Göttliche Komödie, geschrieben von Dante Alighieri zwischen 1308 und 1321, gilt weithin als eines der bedeutendsten und am meisten geschätzten Werke der Weltliteratur. Es ist in drei eigenständige Teile untergliedert – Das Inferno, Das Fegefeuer und Das Paradies. Das Inferno schildert Dantes Reise durch die Hölle, dargestellt als neun Kreise des Leidens. Die Göttliche Komödie ist eine allegorische Darstellung der Reise der Seele zu Gott, wobei im Inferno das Erkennen und die Zurückweisung der Sünde geschildert wird …«

Patrick riss dem alten Mann das Buch aus der Hand. »Ich weiß, wovon die Geschichte handelt. Ich habe das Buch so viele Male gelesen, dass ich es praktisch auswendig kenne.«

»Und stimmen Sie den Schlussfolgerungen des Autors zu?«

»Welchen Schlussfolgerungen?«

»Dass die Bösen zu einem elenden Leben nach dem Tode verdammt sind, ohne jede Hoffnung auf Rettung.«

»Ich wurde katholisch erzogen. Von daher, ja, das glaube ich.« Die Frage lastete auf Patrick. »Nur aus Neugier: Was glauben Sie?«

»Ich glaube, dass der Mensch selbst im letzten Augenblick seines Lebens noch Erlösung erlangen kann.«

»Sie glauben nicht, dass Gott die Sünder bestraft?«

»Jede Seele muss geläutert werden, bevor sie weiterzieht, aber Bestrafung … Was ich lieber Hindernisse nennen möchte, sind Gelegenheiten, Zugang zum Licht Gottes zu erhalten.«

»Sie klingen wie irgend so ein New-Wave-Guru. Welcher Religion gehören Sie an?«

»Ganz ehrlich, ich bin kein großer Freund von Religion. «

»Also glauben Sie nicht an Gott?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich glaube bloß nicht, dass der Schöpfer vorhatte, dass Spiritualität zum offenen Wettbewerb ausartet. Was ist mit Ihnen? Glauben Sie an Gott?«

Patrick grinste spöttisch. »Ich glaube, dass Gott vor langer Zeit am Steuer eingeschlafen ist. Er ist so nutzlos wie Zitzen an einem Bullen. Ich hab null Vertrauen in Ihn. Der Typ ist ’ne größere Niete als ich.«

»Sie machen Gott für den Verlust Ihres Arms verantwortlich? «

»Ich mache Gott für die Welt verantwortlich. Schauen Sie sich all das Böse an, all das nutzlose Leiden. Zwei Kriege finden statt, ein dritter rückt bedrohlich näher. Menschen verhungern. Sterben an Krebs …«

»Sie haben recht. Scheiß auf Gott. Wenn Er irgendein Schöpfer wäre, hätte Er diesen Saustall schon vor Äonen ausgemistet. Fauler nichtsnutziger Mistkerl.«

»Ja … Nein, so habe ich das nicht gemeint. Ich meine, einiges davon ist unsere Schuld, von wegen freier Wille und das alles.«

»Aber Sie machen Ihn für Ihr Leben verantwortlich.«

»Nein. Ich mache Ihn dafür verantwortlich, dass er mich von meiner Familie getrennt hat.«

»Sagten Sie nicht, sie ist in New York?«

»Ja, aber …«

»Schließt man Sie nachts ein?«

»Nein.«

»Dann gehen Sie doch einfach. Gehen Sie Ihre Frau und Ihr Kind suchen – oder lassen Sie’s. Aber hören Sie auf, das Opfer zu spielen.«

Das Blut wich aus Patricks Gesicht. »Was haben Sie gesagt?«

»Ich denke, Sie haben mich gehört.«

»Denken Sie, das ist so leicht?« Shep setzte sich auf die Ecke des Bettes, während seine Angespanntheit zurückkehrte. Er spielte mit der Stahlzange herum, fühlte sich unwohl in seiner eigenen Haut. »Es gibt Dinge, wissen Sie … in meinem Kopf.«

»Ach so – die Albträume.«

»Sie sind ein echtes Genie. Ja, die Albträume. Und fragen Sie mich auch nicht nach denen.«

»Sie sind der Boss.« Der alte Mann lehnte sich zurück, blätterte in Dantes Inferno. »Eine interessante Lektüre. Ich mag Bücher, die sich mit Herausforderungen des menschlichen Geistes befassen.«

»Das Inferno befasst sich mit Gerechtigkeit. Mit der Strafe für die Bösen.«

»Wieder bei Gott, der am Steuer eingeschlafen ist?«

»Ich war im Gefecht. Ich habe unschuldige Menschen leiden sehen. Warum muss es so viel Hass geben? So viel sinnlose Gewalt und Gier … So viel Verdorbenheit. Es gibt keine Gerechtigkeit auf der Welt. Genau deshalb passieren diese Dinge.«

»Wollen Sie Gerechtigkeit oder Zufriedenheit?«

»Gerechtigkeit würde mir Zufriedenheit verschaffen. Wenn Gott wirklich dort draußen ist, warum lässt Er dann zu, dass böse Menschen Erfolg haben, während die Guten unter uns leiden?«

»Zählen Sie sich zu den Guten?«

»Nein.«

»Leiden Sie?«

»Ja.«

»Gratuliere, es gibt Gerechtigkeit auf der Welt. Seien Sie froh.«

»Pah! Sie wollen es einfach nicht kapieren, oder?«

»Ich kapiere es sehr wohl. Sie wollen, dass Gott jeden Sünder und jede Sünderin in dem Moment vernichtet, in dem er oder sie sündigt. Aber wozu wäre das gut? Schon mal dabei zugesehen, wie Tiere abgerichtet werden? Wenn die Tiere eine gewünschte Aktion vollbringen, erhalten sie einen Leckerbissen. Wenn sie etwas Ungezogenes tun, jagt man ihnen einen Schrecken ein. Bei Spiritualität geht es nicht darum, konditioniert zu werden, es geht um den freien Willen und darum, den negativen Antrieben, einer Versuchung nachzugeben, zu widerstehen. Es geht darum, das menschliche Ego zu kontrollieren – den wahren Satan. Satan ist gerissen. Er zieht die Zeit von der Ursache-und-Wirkung-Gleichung ab, wodurch sich die Zuordnung von Belohnungen zu guten Taten und von bösen Handlungen zu Bestrafungen etwas unübersichtlich gestaltet.«

»Na schön, aber die wahre Gerechtigkeit kommt noch, nicht wahr? Sagen wir mal, ich habe Dinge getan, Dinge, die im Krieg gerechtfertigt sind – nur bin ich mir vielleicht nicht mehr sicher … Werde ich bestraft werden?«

»Machen wir uns nichts vor: Sünde ist Sünde, es gibt keine Freistellung in Kriegszeiten für Töten und Vergewaltigen. Was wahre Gerechtigkeit betrifft – Dantes Feuer und Schwefel –, keine Seele kehrt zurück zum Licht, ohne geläutert zu werden. Für einige kann der Läuterungsprozess sehr schmerzhaft sein.«

»Sie sprechen andauernd vom Licht.«

»Ich bitte um Entschuldigung. Mit Licht meine ich das Licht des Schöpfers. Das Unendliche. Endlose Erfüllung. «

»Wie den Himmel?«

»Wenn Sie es vereinfachen wollen.«

Shep dachte darüber nach. »Was passiert, wenn das Böse einen umringt … Wenn es überall zugleich zu sein scheint, wenn jede Entscheidung die falsche Entscheidung ist und man ihm nicht entkommen kann?«

»Wenn die Schlechtigkeit eine kritische Masse erreicht, wenn sie sich weit verbreitet wie eine unkontrollierbare Seuche, sodass sie den Zugang zum Licht des Schöpfers versperrt, dann fallen selbst unschuldige Seelen der Vernichtung anheim. In diesem Fall muss eine Läuterung stattfinden, in einem Umfang, der über die Verderbtheit der Bösen hinausgeht. Erinnern Sie sich an die Geschichte von Noah? Von Sodom und Gomorra? Oh, aber ich schätze, diese Läuterungen fanden statt, bevor Gott am Steuer einschlief.«

Shep erwiderte nichts, er starrte auf das linke Handgelenk des alten Mannes. Der Ärmel des Pullovers war hochgerutscht und enthüllte eine an der Außenseite seines Unterarms längs eintätowierte Nummer. »Sie haben den Holocaust überlebt?«

»Richtig.«

»Dann kennen Sie das Böse besser als die meisten.«

»Ja.«

Patrick traten beinahe Tränen in die Augen. »Ich kenne das Böse auch.«

»Ja, mein Junge, das glaube ich Ihnen.«

»Ich habe ein paar schreckliche Dinge getan.«

»Dinge, die Ihre Frau niemals gutheißen würde?«

»Ja.«

»Und jetzt wollen Sie sie zurück?«

»Und meine Tochter. Sie haben mich beide verlassen. Ich vermisse sie so sehr.«

»Was macht Sie so sicher, dass Ihre Frau Sie wiedersehen will?«

»Sie ist meine Seelengefährtin.«

Der alte Mann seufzte. »Das sind starke Worte, mein Freund. Wissen Sie überhaupt, was dieser Ausdruck bedeutet? Seelengeschwister sind zwei Hälften einer einzigen Seele, geteilt von Gott.«

»Das habe ich noch nie gehört.«

»Es ist Teil einer uralten Weisheitslehre, einer Lehre, die älter ist als die Religion. Die Wiedervereinigung von Seelengeschwistern ist ein gesegnetes Ereignis, aber Sie müssen Folgendes wissen: Seelengeschwister können erst wiedervereinigt werden, wenn beide Parteien ihr tikkun vollenden – ihre spirituelle Verbesserung. Und Sie, mein Freund, sind noch lange nicht so weit.«

Der alte Mann stand auf, um zu gehen.

»Langsam, Doc, warten Sie eine Minute. Ich hab’s mir anders überlegt. Ich brauche doch Ihre Hilfe. Sagen Sie mir, was ich tun muss, um meine Seelengefährtin zurückzubekommen, und ich werde es tun.«

»Alles hat eine Ursache und eine Wirkung. Bringen Sie die Ursache in Ordnung, und Sie werden die Wirkung in Ordnung bringen.«

»Was zum Teufel bedeutet das? Vergessen Sie nicht, sie hat mich verlassen. Sie wollen, dass ich mich entschuldige? Würde das die Sache wieder einrenken?«

»Lassen Sie sich etwas Zeit. Denken Sie über alles nach. Werden Sie sich klar darüber, was Sie vom Leben wollen. Wenn Sie bereit sind aufzuhören, das Opfer zu spielen, kommen Sie mich besuchen.«

Der alte Mann kramte in seiner Tasche und zog eine Visitenkarte heraus. Er gab sie Shep und ging.

Patrick Shepherd starrte auf die Karte.


Virgil Shechinah Inwood Hill, New York



Inwood Hill, New York
13:51 Uhr


Genau an der nördlichen Spitze der Insel gelegen, war Inwood Hill ein Viertel von Manhattan, das anders war als alle anderen. Hier gab es keine Wolkenkratzer. Der Harlem River markierte die nordöstliche Grenze des Viertels, direkt im Süden lagen Washington Heights und der Highbridge Park. Zu den Wahrzeichen im Westen von Inwood Hill zählten die Sportplätze, die zur Columbia University gehörten und die sich unmittelbar an ein stark bewaldetes hügeliges Gelände schmiegten, das tausend Meilen vom Big Apple entfernt zu sein schien.

Dies war der Inwood Hill Park, der einzige natürliche Wald, der in Manhattan noch übrig war. Wenn man seinen felsigen Gipfel erklomm, wurde man mit einem großartigen Blick auf den Hudson belohnt. Wenn man sein dichtes Gehölz erkundete, konnte man uralte Höhlen entdecken, die einst, lange vor der Ankunft der ersten Europäer, von den Lenape-Indianern bewohnt gewesen waren.


Der schwarze Chevy Suburban fuhr nach Inwood Hill hinein, wendete an der Kreuzung Broadway und Dyckman Street und parkte.

Bertrand DeBorn stieg aus dem Fond des Wagens und knallte die Tür zu. Nachdem er die Straße überquert hatte, ging er zu einer der neuen Internet-Telefonzellen, die in Manhattan aufgestellt worden waren, vergewisserte sich, dass der Apparat betriebsbereit war, und wählte dann eine Nummer auf seinem Handy.

»Ja?«

»Ich bin’s. Rufen Sie mich unter 212-433-4613 zurück.« Der Verteidigungsminister legte auf, wartete und schnappte sich beim ersten Klingeln den Hörer des Münzfernsprechers. »Was ist passiert?«

»Irgendjemand hat Scythe freigesetzt.«

DeBorn bekam eine Gänsehaut. »Wo? Wann?«

»Auf der UN Plaza. Vor ungefähr fünf Stunden.«

»Vor fünf Stunden? Fünf Stunden sind eine Ewigkeit. Sie haben keine Ahnung, wie schnell dieser Erreger sich in einer großen Metropole ausbreiten kann. Ich muss zur UNO, bevor sie keinen Impfstoff mehr haben …«

»Bert, Scythe wurde genetisch verändert. Keines unserer Antibiotika schlägt an.«

Dem Verteidigungsminister trat der kalte Schweiß auf die Stirn.

»Der Heimatschutz hat Manhattan komplett abgeriegelt, sodass keiner rein oder raus kommt. Wo sind Sie jetzt?«

»Im Norden. Noch auf der Insel.«

»Sind Sie sauber?«

»Im Moment noch. Ich war an einem sicheren Ort, hatte eine Besprechung mit den wichtigsten Stadträten.«

»Und?«

»Sie unterstützen den Plan, der soeben komplett fraglich geworden ist.«

»Nicht unbedingt. Denken Sie darüber nach. Wenn Scythe nächsten Monat in Teheran ausbrechen würde, könnte unmöglich jemand die Schuld …«

»Schluss jetzt! Sie haben ja keine Ahnung, was Sie da reden. Wenn Scythe in seiner momentanen Form Manhattan verlässt, sind wir alle tot. Wir alle! Ohne einen Impfstoff ist Scythe ein außer Kontrolle geratener Zug. Ich muss schnell von dieser Insel runter, bevor ich infiziert werde. Wo ist der Präsident?«

»Er wird bei der UNO unter Quarantäne gehalten. Niemand darf raus.«

»Der Präsident wird ausgeflogen, genau wie alle anderen. Sie werden alle nach Fort Detrick geschickt und dort festgehalten, solange ein Impfstoff gesucht wird. Ich muss zur UNO. Es ist meine einzige Hoffnung. Halten Sie mich über mein Handy auf dem Laufenden.«

»Bert, die Leitung ist nicht abhörsicher.«

»Kein Mensch hört zu. In Manhattan ist die Pest ausgebrochen. «

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