»Five to one, baby
One in five
No one here gets out alive, now
You get yours, baby
I’ll get mine
Gonna make it, baby
If we try …«


THE DOORS, »Five to One«

BIOLOGISCHE KRIEGSFÜHRUNG, PHASE VI

S.I.T. (SÄTTIGUNG - ISOLATION - TOD)

20. DEZEMBER

USAMRIID
Fort Detrick, Frederick, Maryland
15:43 Uhr
(16 Stunden, 20 Minuten vor dem prophezeiten Ende der Tage)


Colonel John Zwawa zuckte zusammen, als das Handy in seiner Gesäßtasche vibrierte. »Schieß los, Jay.«

»Wir haben vielleicht unsere erste Chance erwischt. Das CDC hat gerade einen Anruf von einem der örtlichen Krankenhäuser gekriegt. Die behaupten dort, sie hätten eine Pestpatientin, die sagt, sie hätte Zugang zu dem Impfstoff für Scythe. Ihre Beschreibung passt auf diese Klipot.«

Der Colonel bekam Herzrasen. »Wo ist der Impfstoff jetzt?«

»Im Kofferraum ihres Mietwagens, der auf einem Abschlepphof der Polizei festgehalten wird.«

»Wie lautet die Adresse?«

»Die ist irrelevant. Der Krankenhausleiter hat seine Stellvertreterin hingeschickt, um den Impfstoff aus dem Auto zu bergen. Sie ist eben in diesem Augenblick auf dem Rückweg.«

»Wie weit ist das Krankenhaus von dir entfernt?«

»Es ist in der East Side, aber bei diesem Verkehr würde ich eine Stunde brauchen, und ich kann das Sonderkommando nicht entbehren. Wir sollen hier um 19.00 Uhr abschwirren.«

»Okay, okay … Wir werden ein Team hinschicken, um den Impfstoff abzuholen. Welches Krankenhaus?«

»Das VA in der East 23 rd Street.«



Upper East Side, Manhattan, New York
15:45 Uhr


Während der letzten zwei Stunden hatte die wütende Frau, die den schwarzen Chevy Suburban fuhr, sich mittels Sirene und Blaulicht gewaltsam einen Weg durch und um den Stop-and-go-Verkehr herum gebahnt. Während sie sich auf der Park Avenue langsam in südlicher Richtung vorwärtsschob, näherte sie sich einem klassizistischen vierstöckigen Kalksteingebäude, das an der Nordwestecke der East 68th Street lag.

Sheridan Ernstmeyer wandte sich dem auf dem Beifahrersitz zusammengesunkenen Mann zu und riss Ernest Lozano gewaltsam aus seinem Nickerchen.

»Was ist los?«

»Wir kommen gerade am Council on Foreign Relations vorbei. Vielleicht sollten wir uns drinnen verkriechen? «

»Vielleicht.« Lozano lehnte sich über den Sitz und stupste Bertrand DeBorn leicht am Knie an. »Tut mir leid, wenn ich Sie wecke, Sir. Wir kommen gerade am Hauptsitz des Council vorbei. Sollen wir anhalten? «

»Was zum Teufel würde das nützen? Meinen Sie, der Rat für Auswärtige Beziehungen ist immun gegen den Schwarzen Tod?«

Sheridan schmunzelte.

»Nein, Sir. Ich hab nur überlegt …«

»Wenn Sie überlegt hätten, dann wären Sie dieser Klipot auf die Pelle gerückt statt ihrem skurrilen Verlobten!« Das Vibrieren in seiner Tasche unterbrach ihn. Der Verteidigungsminister rieb sich den Schlaf aus den Augen und ging an sein Handy.

»Sprechen Sie.«

»Gute Neuigkeiten. Offenbar gibt es einen Impfstoff.«

DeBorns Herz schlug schneller. »Wer hat ihn?«

»Er wird in eben diesem Augenblick zum Veteranenkrankenhaus gebracht. Impfen Sie sich selbst, dann fliegen wir Sie aus. Sagen Sie einfach, Sie würden zu einem medizinischen Team der Forschungsagentur des Verteidigungsministeriums gehören, das Blutproben für ein neues Antibiotikum sammelt. Wenn Sie den Helden spielen, wird die Presse es begierig aufgreifen.«

»Bravo. Ich melde mich, sobald ich dort bin.«

»Seien Sie bloß vorsichtig dort draußen. Ich verfolge die Nachrichten. Die Einheimischen werden zunehmend unruhig.«


VA Medical Center
East Side, Manhattan, New York
15:49 Uhr


In der stillen Leere eines antiseptischen Zimmers, das weder Erinnerungen noch eine Zukunft enthielt, starrte Patrick Shepherd auf das Gemälde eines Strandhauses, das an der vergilbten Wand hing, und dachte darüber nach, wie sein Leben hätte sein sollen. Was hatte der Seelenklempner noch mal gesagt? Alles hat eine Ursache und eine Wirkung. Bringen Sie die Ursache in Ordnung, und Sie werden die Wirkung in Ordnung bringen. Ich bin in den Krieg gezogen, und Beatrice hat mich verlassen. Ich bin aus dem Krieg zurückgekehrt, und meine Familie ist in New York. Warum jetzt, nach all diesen Jahren? Vielleicht will sie die Scheidung? Vielleicht hat es nichts mit mir zu tun? Woher sollte ich das wissen?

Er streckte seine Armprothese nach dem Gemälde aus und versuchte den hölzernen Rahmen mit der Zange zu packen. Er schaffte es nicht. Versuchte es noch einmal und schaffte es wieder nicht.

Vor Wut schäumend, riss er den Arm zur Seite und schlug das Bild von der Wand. Hör auf, dich wie ein Opfer aufzuführen. Finde Bea. Finde heraus, warum sie hier ist. So oder so wird es Zeit, sich weiterzuentwickeln.



Battery Park City, Manhattan, New York
15:51 Uhr


Beatrice Shepherd durchsuchte den letzten Umzugskarton. Handschriftliches, alt, in Gummibänder eingeschnürt. Sentimental, aber in ihrer neuen Wohnung gab es nicht genug Stauraum. Sie warf alles zum Altpapier.

Auf dem Boden des Umzugskartons stand eine Plastik-Ablagebox. Sie zerrte sie heraus. Schälte das vergilbte Klebeband ab und öffnete sie. Holte einen Stapel ungeöffneter Briefe heraus. Fand den Bilderrahmen. Sie wischte den Staub vom Glas und betrachtete die Fotografie des mit nackter Brust dastehenden kräftigen Fünfundzwanzigjährigen in der Wüstenuniform der Army.

Tränen stiegen ihr in die Augen. Einen langen Moment starrte sie auf das Foto, dann stellte sie es auf das Bücherregal neben den Flachbildfernseher und überlegte, wie sie ihrer Tochter ihren Entschluss erklären sollte.

Ihr Blick fiel auf die stumm geschalteten Nachrichten im Fernsehen. Nachdem sie die Fernbedienung gefunden hatte, stellte sie den Ton lauter. Sie hörte die Worte Pandemie und verbindliche Ausgangssperre, schnappte sich das Telefon und wählte die Handy-Kurzwahl ihrer Tochter. Nach viermaligem Klingeln schaltete es auf die Mailbox um. »Hier ist Mutter. Ruf mich an, so schnell du kannst.«

Das Telefon klingelte in dem Moment, in dem sie den Hörer wieder auflegte. »Wo bist du?«

»Mrs. Shepherd?«

Die Stimme des älteren Mannes erschreckte sie. »Ja? Wer spricht da?«

»Ma’am, Sie kennen mich nicht. Ich rufe wegen Ihres Mannes an, Patrick. Er ist in New York, und er muss Sie sehen.«


Hamilton Heights, Manhattan, New York
16:02 Uhr


Der tibetische Mönch saß im Lotussitz auf dem gebohnerten Bambusboden vor einem geöffneten Laptop. Hauchdünne Kabel verliefen von der Rückseite des Computers durch die offene Tür auf den Balkon in der siebten Etage, der auf den Hudson hinausging, und stellten die Verbindung zu einer an der Ziegelverblendung montierten kleinen Satellitenschüssel her.

Der Älteste meditierte.

Ein Küstenwachboot schlingerte den Wasserweg entlang nach Süden, und der Mönch konnte das gluckernde Dröhnen der Schiffsmaschine spüren, während die Störung in seinen Knochen nachwirkte.

Um Punkt 16:08 Uhr öffnete Gelut Panim die Augen. Er griff nach der japanischen Kabuki-Maske neben seinem rechten Knie, zog sie sich über das Gesicht und rückte sie zurecht, während die Satellitenverbindung zustande kam und der Bildschirm sich augenblicklich in drei mal drei Unterfenster teilte. Acht unterschiedliche Ziermasken starrten ihm entgegen, darunter seine eigene in der oberen linken Ecke. Bild Nummer sieben blieb leer.

Die Gesellschaft der Neun Unbekannten Männer kam zu einer Übertragung zusammen, von der mehr als nur ein paar Mitglieder fürchteten, dass es ihre letzte sein würde.

Der Älteste bestätigte die Biorhythmen seiner Brüder, bevor er das Wort ergriff. »Meine Freunde, die Welt verändert sich vor unseren Augen. Der erste Dominostein wurde soeben umgeworfen.«

»Eigentlich sollte Scythe niemals der erste Dominostein sein. Diese Klipot war ein Joker.«

»Ja, Nummer vier. Aber war sie ein Joker, oder war es göttliche Einmischung? Auf alle Fälle hat sich der Plan der Illuminaten dadurch geändert.«

»Ich würde noch ein paar Tage warten, bevor wir von göttlicher Einmischung sprechen. Bis dahin könnte jeder Mensch auf diesem Planeten, der keinen Lendenschurz trägt, ohne Weiteres tot sein.«

»Vielleicht, Nummer zwei. Aber ich spüre, dass gerade etwas Wichtiges geschieht – dass der Schöpfer sich entschieden hat zu intervenieren, bevor die Bösen den Dritten Weltkrieg entfesseln konnten, ist … ermutigend. «

»DeBorn und seine erleuchteten Brüder werden nicht still und heimlich verschwinden«, warf Nummer fünf mit ausgeprägt frankokanadischem Akzent ein. »Sie werden diese Sache genauso leicht ins rechte Licht rücken, wie Cheney die amerikanische Öffentlichkeit seinerzeit davon überzeugte, dass Saddam wegen 9/11 gestürzt werden müsse. Bevor wir wissen, wie uns geschieht, wird diese Klipot zur muslimischen Fanatikerin, und eine von den USA geführte Koalition marschiert im Iran ein. Russland und China werden mobilmachen, und DeBorn wird seinen Krieg haben.«

»Nummer vier, wo ist DeBorn jetzt?«, fragte Nummer acht.

»Meine Kontaktpersonen bestätigen, dass er noch in Manhattan ist.«

Der Älteste nickte. »Man muss sich noch vor Ablauf des heutigen Tages mit ihm befassen.«

»Was ist mit Nummer sieben?«

»Er und seine Familie sitzen in New York fest. Das Handynetz wird blockiert, aber ich kann seine Gegenwart spüren.«

»Sie werden ihn weiter als Köder benutzen?«, fragte Nummer drei.

»Wenn das hier wirklich das Ende der Tage ist, wie wir glauben, dann hat der Schöpfer jemand Rechtschaffenen ausgesucht, um der Menschheit eine letzte Chance auf Rettung anzubieten. Aus Gründen, die unklar bleiben, wurde die Familie von Nummer sieben auserwählt, um bei diesem Läuterungsprozess als Kanal zu fungieren und so diese rechtschaffene Person mit der überirdischen Welt zu verbinden. Indem ich die Biorhythmen von Nummer sieben überwache, kann ich eruieren, ob und wann Kontakt hergestellt wird, und der oder dem Rechtschaffenen meine Dienste anbieten, sollte sie oder er sie benötigen.«

»Was ist mit Scythe?«

»Mein Immunsystem kann damit fertigwerden.«

»Sieben ist nicht immun. Er und seine Familie könnten in eben diesem Augenblick sterben.«

»Genau genommen, Nummer sechs, gehe ich hundertprozentig davon aus, dass Sieben und seine Familie heimgesucht werden, noch bevor diese Nacht vorüber ist. Und, ja, es ist gut möglich, dass sie vielleicht umkommen, zusammen mit dem Rest von uns.«

Die verbalen Reaktionen stimmten nicht mit den acht unnachgiebigen Mienen überein.

Der Älteste wartete auf Ruhe. »Viele Menschen werden vor Beginn der Wintersonnenwende sterben. Was abzuwarten bleibt, ist, ob unsere Spezies die Läuterung überlebt. Scythe ist nicht der Scharfrichter, meine Freunde, es ist die Prüfung.«

»Was können wir sonst noch tun?«

Die Kabuki-Maske blieb gelassen. »Beten.«



VA Medical Center
East Side, Manhattan, New York
16:18 Uhr


Leigh Nelson trabte die East 23rd Street hinunter, das VA-Gelände in Sichtweite. Als sie die First Avenue erreichte, verlangsamte sie ihr Tempo, schockiert von den Veränderungen, die während der letzten neunzehn Minuten passiert waren.

Der Parkplatz für die Rettungsfahrzeuge war in eine Triage-Zone umgewandelt worden. Hunderte von Leuten bildeten eine Schlange, die sich von der First Avenue die ganze Strecke bis hinauf zur East 25th Street hinzog. Gesichter waren hinter Kohlefiltermasken und Schals verborgen. Mütter wiegten Säuglinge in Decken. Ehemänner und Ehefrauen. Freunde und Familien und unverheiratete Arbeiter. Die lautlose tödliche Krankheit hatte leichtes Spiel.

Das medizinische Personal, angetan mit Kitteln, Masken, Handschuhen und gelben Plastik-Umhängen, führte kurze Untersuchungen durch, bevor die Patienten gesonderten Zelt-Wartezonen neben dem Haupteingang (mutmaßlich Pestinfizierte) oder auf dem Mitarbeiterparkplatz (bestätigte Pestinfizierte) zugewiesen wurden.

Sie entdeckte Dr. Clark, als er aus dem Eingang der Notaufnahme hastete, gefolgt von zwei Assistenzärzten, die Decken trugen. »Nur Kinder unter zwölf. Sorgen Sie dafür, dass die Polizisten Bescheid wissen.«

»Dr. Clark!«

Er sah sie. Gab ihr ein Zeichen zu warten. Er griff sich einen sauberen Umhang von einem Stapel, ging ihr auf halbem Wege über die First Avenue entgegen und streifte ihr den wasserdichten Überzug über den Kopf.

»Sir, all diese Leute …«

»Wenn sie bei ihrer Ankunft noch nicht infiziert waren, dann sind sie’s jetzt. Wir versuchen lediglich, Zeit zu schinden, wenn wir sie von einer Wartezone in die nächste verschieben. Wo ist der Impfstoff?«

»In meinem Rucksack.«

»Wir haben die rothaarige Frau in die vierte Etage verlegt, um sie daran zu hindern, ihr Neugeborenes zu sehen. Verabreichen Sie den Impfstoff und erstatten Sie mir Bericht über die Ergebnisse.«

Sie blickten auf, als ein schwarzer Chevy Suburban mit heulender Sirene in der 23. Straße mitten auf den Bürgersteig fuhr.

»Minister DeBorn? Was macht der denn hier?«

»Ich werde mich um ihn kümmern. Sie legen mit diesem Impfstoff los.«

»Ja, Sir.«


Patrick Shepherd betrat die Krankenhausbücherei, überrascht, das Medienzentrum völlig verwaist vorzufinden. Er ging an Regalen mit gespendeten Büchern vorbei. Peilte die Reihe mit den Computer-Arbeitsplätzen an und setzte sich an einen der Terminals.

Er tippte Dr. Nelsons E-Mail-Adresse und Passwort ein, ging ins Internet und sah ihre alten E-Mails durch. Bei der Betreffzeile VERMISSTENANFRAGE stoppte er und öffnete die E-Mail.


Dr. Nelson,

vielen Dank für Ihre Anfrage bezüglich des Aufenthaltsortes von BEATRICE SHEPHERD, Alter 30 – 38, EIN KIND (weiblich), Alter 14 – 16. Die TOP 5 der Bundesstaaten, für die eine Suche erbeten wurde: NY. NJ. CT. MA. PA. Die folgenden Personen, auf welche die Beschreibung passt, wurden gefunden:

Manhattan, New York: Ms. Beatrice Shepherd

Vineland, New Jersey: Mrs. Beatrice Shepherd

Siehe auch: Mrs. B. Shepherd (NY – 4)

Mrs. B. Shepherd (NJ – 1)

Mrs. B. Shepherd (MA – 6)

Mrs. B. Shepherd (PA – 14)

Um Ihnen die qualitativ besten Ergebnisse zu bieten, schlagen wir unseren Detektiv-Service STUFE 2 vor. Gebühr: $ 149,95.


Er hantierte ungeschickt mit der Maus herum. Klickte auf den Adressen-Link und druckte die Seite aus. Eilte zu einer anderen Nische, die über Internet und Telefon verfügte. Er setzte sich an das integrierte Schreibpult und zog eine Prepaid-Telefonkarte durch den Apparat.


Verbleibendes Guthaben: 17 Minuten


Er fing an, die Telefonnummer von Battery Park zu wählen, dann brach er unter einer Woge der Angst zusammen, die so nervenzermürbend war, dass sie ihm den Atem raubte. »Was tue ich hier? Was soll ich sagen? He, Schatz, ich bin’s, Shep. Also, ich bin zurück. Wollen wir uns treffen? Oh Mann!«

Angewidert knallte er das Telefon zurück auf das Empfangsteil.

Denk gründlich drüber nach, Arschloch. Vergiss nicht, was der Seelenklempner gesagt hat … Ursache und Wirkung. Versuch mit einer Entschuldigung anzufangen. »He, äh, ich bin’s, Shep. Tut mir leid, dass ich dich und das Baby verlassen habe und zur Army gegangen bin … Mist! Das ist alles falsch. Ich muss es aufschreiben. Besser noch …«

Er verließ die Nische und hastete zum Informationsschalter, wo er die Schubladen durchsuchte, bis er fand, was er suchte – ein handtellergroßes Aufnahmegerät, wie es von Amputierten zum Diktieren von Briefen verwendet wird. Er kehrte in die Nische zurück, ordnete seine Gedanken, dann drückte er auf RECORD.

»Bea … ich bin’s, Shep. Erinnerst du dich an mich?« Er stoppte, löschte, fing dann noch einmal an. »Bea, ich bin’s, Patrick. Ich bin zurück, Liebling. Ich bin in New York, im Veteranenkrankenhaus. Vielleicht ist es Schicksal, dass wir beide in Manhattan sind. Schatz, ich wurde verwundet. Ich kann nicht wieder ganz sein ohne dich. Du bist meine Seelengefährtin, Bea, ich muss dich und unsere kleine Tochter sehen … Ich schätze nur, so klein ist sie gar nicht mehr.« Er schluckte schwer, wobei die Worte ihm in der Kehle stecken blieben. »Ich habe einen schlimmen Fehler gemacht. Ich war wütend. Ich habe gründlich über alles nachgedacht. Schatz, ich bin so verloren ohne dich. Wenn du es in deinem Herzen irgendwie fertigbringen könntest, mir zu verzeihen …«

Er hielt inne, als die Büchereitür aufging …


Mary Klipot lag mit ans Bettgeländer gefesselten Handgelenken und Fußknöcheln in dem abgeschlossenen Isolator auf dem Rücken. Eine Plastikhaube hüllte das Bett ein und verhinderte das Entweichen verpesteter Luft. Außerdem schloss die Haube den kombinierten Gestank ihres Atems, ihres Schweißes und des Erbrochenen, das Flecken auf ihrem Krankenhaushemd hinterlassen hatte, ein. Trotz des Morphium-Tropfs blieben die Schmerzen und die Übelkeit, die Mary verspürte, übermächtig und brachten sie in ihrem Delirium an den Rand des Wahnsinns. Sie war zu einem hirnlosen Häufchen Elend geworden, dessen Gedanken vom Fieber verzehrt wurden. Jeder Atemzug kam keuchend. Ihre Augen waren in ihren Höhlen nach innen gerollt, der offene Mund war in einer schiefen Grimasse erstarrt. Die Lippen, weiß und zurückgekräuselt, ließen blutbefleckte gelbe Zähne sehen.

Die kühle Flüssigkeit, die Marys Blutkreislauf wie eine reinigende Flut durchspülte, beruhigte den Rhythmus ihrer Atmung. Binnen Minuten hatte sie das Fieber gesenkt und ließ ihre gereizten inneren Organe in seliger Erleichterung schwelgen.

Marys Augen rollten wieder an ihren Platz, und sie blickte auf.

Leigh Nelson stand außerhalb des Isolationsbettes und hielt die leere Ampulle in der Hand.

»Der Impfstoff – wirkt er?«

Mary versuchte zu sprechen, aber ihre Kehle war noch zu ausgedörrt, ihr Husten mit blutigem Speichel angefüllt.

Leigh verstellte das Kopfteil von Marys Bett, sodass sie in einem Vierzig-Grad-Winkel aufrecht saß. Mithilfe eines der Plastikärmel des Isolationszeltes reichte sie eine Flasche Wasser durch und steckte ihrer Patientin den Strohhalm in den Mund.

Mary trank. »Gott segne Sie, Schwester.«

»Wer sind Sie? Was ist Scythe?«

»Machen Sie meine Fesseln los, dann erzähle ich Ihnen alles.«

Leigh platzierte ihre freie Hand in einem offenen Ärmel, griff in das Zelt und schnallte den Lederriemen los, der Marys rechten Arm am Bettgeländer fixierte.

Mary beugte den Arm, dann befreite sie ihr anderes Handgelenk.

»Jetzt erzählen Sie, was ist Scythe?«

»Eine biologische Waffe … eine genetisch manipulierte Pandemie. Teil eines streng geheimen biologischen Programms. Die Krankheit nährt sich von negativen Gefühlen, vor allem Wut.«

»Wut? Wie das?«

»Mit der zunehmenden Reaktionsfreudigkeit der infizierten Person werden Adrenalin und Noradrenalin freigesetzt, die Herzfrequenz, Blutdruck und Bauchspeicheldrüse beeinflussen. Je größer die Wut, desto schneller breitet sich die Krankheit im ganzen Körper aus. Der Impfstoff – haben Sie beide Behälter mitgebracht?«

»Nein. Ich hab nur den hier gefunden.«

»Bringen Sie mich zu dem Auto, ich zeige Ihnen, wo der zweite versteckt ist.«

»Verraten Sie mir zuerst, wer Scythe in Manhattan freigesetzt hat.«

»Gott. Er hat mich geschickt – als sein Gefäß.«

»Gott hat Ihnen befohlen, eine künstliche Seuche auszulösen? «

»Nachdem Er mich mit Seinem Kind geschwängert hat. Wo ist es? Bringen Sie mir mein Baby!«

Sie ist wahnsinnig. Clark hat dir gesagt, du sollst sie nicht losmachen. Du musst sie wieder betäuben und …

»Das Ende der Tage steht uns bevor. Scythe ist der Erlöser. Es wird uns von den Ketzern befreien. Ich habe den Messias zur Welt gebracht. Wo ist mein Sohn? Bringen Sie mir das Jesuskind!«

»Ihr Kind wird in einem speziell konstruierten Brutkasten versorgt. Ach, übrigens, das Jesuskind – es ist ein Mädchen.«

»Was? Nein … Das kann nicht sein. Sie lügen!«

»Ich lüge? Hören Sie mir zu, Sie krankhaftes, mörderisches Miststück! Ihre Seuche hat Tausende unschuldiger Menschen getötet, vielleicht werden es Zehntausende, vielleicht Millionen sein, bevor wir Ihr Gegenmittel nachproduzieren können.«

»Moment … Heute ist nicht der Fünfundzwanzigste.«

»Hören Sie mir überhaupt zu?«

Marys Miene verdüsterte sich, ihre Stimme krächzte. »Das Kind sollte am Fünfundzwanzigsten geboren werden. Sie haben es zu früh geholt!«

Leigh wich zurück und bewegte sich auf das an der Wand befindliche Telefon der Schwesternstation zu …

… als das Zimmer plötzlich von einem tiefen dröhnenden Geräusch erfasst wurde; der Tumult wurde lauter, bis er die Fensterscheibe vibrieren ließ. Mary hörte den Lärm ebenfalls, ihre Augen weiteten sich und blickten angestrengt, ihr Pulsschlag hüpfte auf dem Herzmonitor. »Satan. Er hat seine Günstlinge geschickt, um mich zu töten. Wie haben die mich so schnell gefunden? «

Leigh ging ans Fenster und hob die Jalousie an. »Was ist denn jetzt los?«

Drei schwarze Helikopter schwebten am Himmel und entließen Dutzende Angehörige eines Sondereinsatzkommandos, die sich gut hundert Meter zur Straße darunter abseilten. Alle waren schwer bewaffnet, steckten von den vermummten Köpfen bis zu den Stiefeln in schwarzen Uniformen, und ihre Gesichter waren hinter Atemgeräten verborgen.

Was Mary Klipot sah, war etwas vollkommen anderes – der Scythe-Impfstoff war von ihrer Blutbahn ins Gehirn gelangt und wirkte sich auf ihr zentrales Nervensystem aus, während er die Freisetzung von Serotonin störte, eines Neurotransmitters, der Stimmungsschwankungen und die Sinneswahrnehmung regulierte. Der Anblick der Soldaten des Sonderkommandos hatte furchterregende Gedanken ausgelöst – Mary durchlebte noch einmal ihre frühesten großen Epilepsieanfälle. Die Bilder trübten ihre Sinne und schickten ihren zerrütteten Verstand auf einen halluzinogenen Trip, der gegenwärtige Ereignisse zu albtraumhaften Visionen der Hölle kondensierte.

Schwarz geflügelte Dämonen flattern an dem Fenster im vierten Stock vorbei. Purpurrote Augen starren durch sie hindurch. Stimmen flüstern ihrem Gehirn hitzige Gedanken ein: »Es gibt kein Entrinnen, Mary Louise. Unsere Klauen werden dir das Fleisch von den Knochen reißen. Deine Existenz wird aus dem Buch der Lebenden gelöscht, deine Seele in die Flüsse der Hölle geworfen werden, wo sie sich für alle Ewigkeit im Lichte Satans sonnt.«

»Santisima Muerte, ich bitte dich von ganzem Herzen, verjage diese Dämonen!« Mary drehte sich auf die linke Seite …

… als die Schnitterin plötzlich vor ihren Augen Gestalt annahm. Violettes Satingewand. Kandisapfelrote Perücke.

»Santa Muerte!«

Die Göttin des Todes erwacht zum Leben. Ihre Sense durchschneidet mit einem kurzen Schlag die Luft, und ihr Schädel steht aus ihrer Kapuze vor, während ihre Kiefer den draußen vor dem Fenster kreisenden Dämonen einen lautlosen Befehl zubrüllen.

Die Günstlinge der Hölle verschwinden.

Leighs Aufmerksamkeit wurde nach unten auf die Kommandosoldaten gelenkt, die jedermann befahlen, sich auf den Boden zu legen. Eine Mutter, die ihr krankes Kind hielt, reagierte zu langsam und wurde vom Kolben eines 5,56-mm-Sturmgewehrs am Kopf getroffen. Der Angriff ließ Dr. Clark quer über den Ambulanzparkplatz stürzen. Die schwarz gekleideten Kommandosoldaten eröffneten das Feuer.

Leigh schrie, als sie Dr. Clarks von Kugeln gepeitschten Körper tänzeln und dann spiralförmig nach hinten zusammensacken sah …

… während das Zimmer sich drehte und schlagartig schwarz wurde.

Mary Klipot stand mit gespreizten Beinen über der bewusstlosen Ärztin. Sie ließ die Aluminium-Bettpfanne fallen, während sie unter der plötzlichen Anstrengung wankte. »Santa Muerte … ist es wahr? Ist das Kind ein Mädchen?«

Die vermummte Gestalt nickt.

»Das Kind … von wem ist es? Ist es von … Gott?«

Die knochige linke Hand der Schnitterin zeigt auf ihre von Stoff verhüllten Lenden.

»O nein … nein!« Mary stolperte über die Ärztin und nahm ihren weißen Laborkittel an sich. Dann riss sie das Fenster auf, kletterte nach draußen auf die Feuerleiter und floh.


Shep versteckte sich unter dem Schreibpult der Internet-Telefon-Station. In seiner übersteigerten Paranoia folgte er mit dem linken Auge durch einen Schlitz in der Ecke der Nische Bertrand DeBorn. Der Verteidigungsminister durchquerte die Bücherei. Er betrat die Internet-Telefon-Station neben der von Shep und wählte eine Nummer.

»Ich bin’s. Ich bin wieder im Krankenhaus … Ja, ich bin dort gewesen, und jetzt muss man mich hier rausholen. Treffen Sie Vorkehrungen für drei, mein Sicherheitsteam kommt auch mit.«

Shep hielt das Aufnahmegerät hoch und zeichnete Bertrand DeBorns Gespräch auf.

»Mir ist scheißegal, welche Beziehungen Sie spielen lassen müssen. Scythe hat bereits Sättigungsgrade der Stufe sechs erreicht. Ich bin ansteckungsgefährdet … Nein, ich kann nicht zu Kogelo durchkommen, die Straßen sind verstopft, wir hatten Glück, dass wir es zurück zum Krankenhaus geschafft haben … Nein, Sie hören zu! Ich hocke mitten im Zentrum der Seuche, und Sie finden jetzt entweder eine Möglichkeit, mich innerhalb der nächsten Stunde hier rauszuholen, oder ich werde alles, was ich über Amerithrax und Battelle weiß, in den 18-Uhr-Nachrichten ausplaudern … Sie haben verdammt recht, ich werde Namen nennen, angefangen mit Ihren zwei FBI-Kumpels, die in West Jefferson gerade dabei sind, Akten zu schreddern.«

Die Muskelkontraktion in Sheps linker Schulter wurde zum Zittern. Sosehr er sich auch bemühte, er konnte auf der glatten Ellenbogenprothese das Gleichgewicht nicht halten. Als er sein Gewicht verlagerte, fiel er nach hinten und stieß sich den Kopf an einem der Beine des Schreibpultes.

»Wer ist da?« DeBorn unterbrach das Gespräch und spähte über das schulterhohe Kabuff.

Patrick stand auf und zeigte sich. »Amerithrax?« Er starrte DeBorn an, während sein Verstand die Verschwörung rekonstruierte. »Sie verrückter Dreckskerl. Sie versuchen einen weiteren Krieg anzuzetteln.«

DeBorn trat aus seiner Nische heraus und griff nach seinem Handy. »Jeder Krieg dient einem Zweck, Sergeant. In diesem Fall bewahrt er den American Way of Life, während er zugleich die Gefahr des Kommunismus verringert. Wir stehen an der Schwelle zur Einleitung echten Wandels auf der Welt … Sie hätten ein Teil davon sein können. Stattdessen sind Sie soeben zum Kollateralschaden geworden.«

DeBorn drückte eine Taste auf seinem Handy. »Ich brauche Sie.«

Sheridan Ernstmeyer betrat die Bücherei vom äußeren Flur aus.

»Agent Ernstmeyer, ich habe Sergeant Shepherd gerade dabei erwischt, wie er am Telefon eine Bombendrohung gegen die Vereinten Nationen aussprach. Gemäß Abschnitt 411, Unterabschnitt B des Patriot Act befehle ich Ihnen, Sergeant Shepherd unschädlich zu machen.«

Die frühere CIA-Attentäterin grinste. Sie zog die .22er Glock aus ihrem Schulterholster und schraubte in aller Seelenruhe einen AAC-40-Evolution-Schalldämpfer auf den Lauf der Waffe.

Shep hechtete über die Rückwand der Internet-Telefon-Nische, wobei sein stählerner Arm die Glastrennwand in Stücke schlug, während er sich hastig auf Hand und Füße hochrappelte, um die nächste Regalreihe zu erreichen.

Nachdem sie den Schalldämpfer montiert hatte, bewegte Sheridan sich systematisch zwischen den Regalen hindurch und pirschte sich mit einem Puls knapp über siebzig an ihr Opfer an.

Patrick Shepherd rannte eine der zwölf parallelen Reihen aus zweieinhalb Meter hohen Bücherregalen hinunter, bis er die hintere Wand erreichte. Er versteckte sich hinter dem Ende eines Regals, duckte sich tief und spähte um die Ecke.

Die Attentäterin hatte ihre Schuhe ausgezogen und bewegte sich das entgegengesetzte Ende der Bücherregale entlang lautlos von rechts nach links, dabei warf sie einen prüfenden Blick in jede Reihe, bevor sie weiterlief.

DeBorns brüllende Stimme ertönte vom Schalter der Bibliothekarin aus. »Kommen Sie schon raus, Sergeant. Wir werden Sie nicht erschießen. Sie sind ein Veteran – ein Held. Ich bin mir sicher, dass man jede Drohung, die Sie geäußert haben, posttraumatischem Stress zuschreiben kann.«

Die Frau war drei Reihen entfernt. Zwei Reihen. Sie zielte mit der Waffe in der linken Hand jede Reihe hinunter, bevor sie sich zeigte.

Sie ist Linkshänderin.

Wieder lief der Erinnerungssplitter in seinem Bewusstsein ab, wie ein Werbejingle, dem man nicht entkam.

Mach dich frei von der Negativität. Stell dir den Erfolg vor. Stell dich erst wieder auf den Mound, wenn du deine Gefühle wieder unter Kontrolle hast.

Sheps Atmung verlangsamte sich, er konnte wieder klar denken.

Es geht nicht um Kraft, Shep, es geht um Cleverness. Bei Linkshändern musst du deinen Change-up einsetzen, also bewusst langsam werfen, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Die Attentäterin war eine Reihe entfernt.

Setz deinen Change-up ein. Leg sie rein.

Shep zog seinen linken Schuh aus und legte ihn seitlich hin, sodass die Sohle am unteren Rand des Bücherregals zu seiner Linken leicht vorstand. Dann robbte er zu dem letzten Regal zu seiner Rechten. Er spähte zwischen den Büchern hindurch und wartete, dass die Frau auftauchte.

Sheridan Ernstmeyer lugte um das letzte Regal am anderen Ende und blickte einen weiteren leeren Gang hinunter. Sie wusste, dass ihre Zielperson festgenagelt war und sich hinter einem der Endregale versteckte. Sie suchte die nächste Reihe ab. Da! Als sie das Stückchen Schuh sah, schlich sie sich auf Strümpfen über den Fliesenboden und bewegte sich lautlos den Gang hinunter, während sie mit der Waffe die exponierte linke Sohle anvisierte …

… ohne zu merken, dass Shep leise den Gang davor hinaufrobbte. Als er die Hälfte hinter sich hatte, stemmte er sich mit der rechten Schulter gegen einen der senkrechten Träger des langen Regals und streckte seine kräftigen Beine.

Das sechs Meter lange, zweieinhalb Meter hohe Bücherregal schwankte und drohte umzufallen.

Bücher regneten auf Sheridan Ernstmeyers Kopf herab. Sie sprang instinktiv zur Seite und schlich sich zum Ende der Reihe, wo ihr Blick auf den leeren Schuh fiel. Sie blickte auf …

… als Sheps stählerner Arm ihr von hinten gegen den Schädel krachte. »Change-up. Strike drei.« Er schnappte sich die Waffe der Frau, hob seinen linken Schuh auf und hastete dann die nächste Reihe hinauf, um Bertrand DeBorn entgegenzutreten. Er zielte mit der Glock auf die Stirn des Verteidigungsministers.

Die graublauen, nach oben gerichteten Augen zeigten keine Furcht. »Denken Sie gut darüber nach, Sergeant. Wenn Sie mich töten, werden Sie Ihre Familie niemals finden. Ganz recht – ich weiß, wo sie ist. Glauben Sie, sie können sie vor meinen Leuten erreichen? Vielleicht können Sie’s. Oder vielleicht habe ich sie schon irgendwo hinbringen lassen.«

»Ich hab Ihr Gespräch aufgenommen … alles. Ich werde es in den 18-Uhr-Nachrichten abspielen.«

DeBorns Gesichtsausdruck veränderte sich. »Sie haben gar nichts.«

»Das werden wir ja sehen.«

»Also ein Tausch – das Band gegen Ihre Familie. Colonel Argenti hat vor ein paar Stunden mit Ihrer Frau gesprochen. Nach all diesen Jahren will sie Sie noch immer sehen. Vermasseln Sie’s nicht, indem Sie etwas Dummes tun.«

Sheps rechter Arm zitterte. »Er hat mit Bea gesprochen? «

DeBorns Stimme wurde leiser. »Nehmen Sie die Waffe runter, Sergeant, und ich bringe Sie zu ihr.«

Er konnte keinen Gedanken zu Ende denken, sein Verstand war unfähig, sich zu konzentrieren, unfähig, logisch zu denken. Er senkte die Waffe …

… als außerhalb der Bücherei eine wilde Schießerei losging, bei der die äußeren Glastüren zu Bruch gingen.

Verwirrt schob sich Patrick an DeBorn vorbei und rannte auf die kleine Nische an der anderen Seite des Vorraums zu. Hastete am Büro der Bibliothekarin vorbei, trat die Brandschutztür am Ende des Gangs auf …

… und fand sich in einem Beton-Treppenhaus wieder.


Leigh Nelson schlug die Augen auf, benommen und mit einem leicht flauen Gefühl im Magen. Sie richtete sich auf. Die Beule am Hinterkopf, dort, wo Mary Klipot sie mit der Bettpfanne getroffen hatte, pochte. Sie schaute sich um.

Die Rothaarige war weg.

Sie taumelte zu dem drehbaren Untersuchungsstuhl und ihrem Mantel. Unter dem Mantel verborgen war der polierte Holzkasten, der die Impfstoff-Ampullen enthielt. Er lag genau dort, wo sie ihn gelassen hatte.

Leigh hörte die Schüsse und geriet in Panik. Sie haben Clark getötet, sie werden auch mich töten! Ich muss diesen Impfstoff zum CDC in New Jersey schaffen … aber wie?

Das Dröhnen der Helikopter des Sondereinsatzkommandos verklang in der Ferne. Der Rettungshubschrauber. Du musst den Piloten finden … Wo könnte er wohl sein? Vielleicht oben im Aufenthaltsraum.

Sie riss die Tür zur Isolierstation auf und blickte den Flur hinunter in Richtung Schwesternstation. Drei Krankenschwestern lagen auf dem Boden, die Handgelenke mit Plastikhandschellen gefesselt, während zwei Kommandosoldaten einen Krankenpfleger, John Voyda, gegen eine Wand pressten.

»Wo ist der Impfstoff?«

Der ehemalige College-Footballspieler blickte den Flur hinunter auf Leigh und sah schnell weg. »Welcher Impfstoff? Nichts, was wir ausprobiert haben, hat gewirkt.«

Ein Kommandosoldat hob eine der Schwestern von ihren Füßen hoch und drückte ihr den Lauf seines Sturmgewehrs unter den Hals. »Sagen Sie uns, wo Dr. Nelson ist, oder diese Schwester stirbt.«

»Sie ist vor etwa einer Stunde gegangen. Ich schwöre, ich habe sie seitdem nicht gesehen.«

Der andere Kommandosoldat schüttelte den Kopf. »Er lügt. Bring sie raus und erschieß sie. Mal sehen, ob das seinem Gedächtnis auf die Sprünge hilft.«

Leigh rannte von dem Zimmer weg und sprintete in Richtung Treppenhaus.

»Da ist sie! Stehen bleiben!«

Sie duckte sich tief, riss die stählerne Brandschutztür auf und rannte die Stufen hinauf, um aufs Dach zu gelangen.

Die beiden Kommandosoldaten betraten das Treppenhaus, vorher gaben sie über Funk durch: »Wir haben sie. Nördliches Treppenhaus, auf dem Weg zum Dach.«

Eine Kugel schwirrte an ihrem Ohr vorbei, dann fraß sich irgendetwas in ihren linken Wadenmuskel.

Die zwei schwarz gekleideten Kommandosoldaten standen über ihr.

»Bitte töten Sie mich nicht! Ich habe zwei kleine Kinder. «

»Hol den Kasten.«

Einer der Kommandosoldaten kniete sich hin, um Leigh den hölzernen Behälter abzunehmen …

… der andere schrie auf, als ein weiß glühendes Stück Blei ihm durch die linke Kniekehle fuhr und die Kniescheibe heraussprengte. »Himmel, Arsch und Zwirn …«

Patrick richtete die Glock auf den zweiten Kommandosoldaten. »Lass die Waffe fallen und geh von der Ärztin weg. Sofort!«

»Du machst einen großen Fehler, mein Freund. Du und ich – wir sind auf derselben Seite.«

»Halt die Fresse.« Shep stieß dem Mann das Knie in die Leiste. Während der Kommandosoldat sich vor Schmerzen krümmte, schmetterte Shep ihm den Kolben der Waffe an den Hinterkopf.

Leigh sprang auf die Füße und fiel Shep um den Hals. »Kommen Sie, Herzchen, wir müssen sehen, dass wir aufs Dach kommen.« Sie schnappte sich den hölzernen Kasten und humpelte die Treppe hinauf.

Shep packte sie am Arm und beruhigte sie. »Doc, was ist hier los? Wer sind diese Kerle?«

»Eine von meinen Patientinnen, eine rothaarige Frau, die wir isoliert hatten – sie hat bei der UNO eine künstliche Seuche ausgelöst. Manhattan steht unter Quarantäne. Diese Arschlöcher haben Dr. Clark getötet. Sie sind hinter dem Impfstoff her.«

»Dann geben Sie ihn ihnen.«

»DeBorns Leute haben dieses Monster erschaffen. Denken Sie, ich vertraue denen den einzigen Impfstoff an? Wir müssen diesen Behälter zum CDC in New Jersey schaffen, bevor aus dieser Sache eine Pandemie wird.«

»Nach New Jersey? Wie denn?«

»Mit dem Rettungshubschrauber. Shep, Sie sind Pilot, Sie können ihn fliegen!«

»Nein, kann ich nicht.«

»Doch, können Sie!«

»Nein, kann ich nicht. Leigh, meine Familie ist in Battery Park, ich muss sie finden, bevor DeBorn sie umbringt. «

Sie erreichte das Dach, zu sehr außer Atem, um sich nach DeBorn zu erkundigen. »Wir werden Ihre Familie finden. Fliegen Sie mich zuerst nach New Jersey.«

»Ich kann nicht …«

»Shep, hören Sie mir zu. Wir müssen diesen Impfstoff analysieren und in großen Mengen nachproduzieren. Tun wir’s nicht, werden Bea, Ihre Tochter und zwei Millionen New Yorker spätestens morgen früh tot sein. Also los, kommen Sie.«

Leigh entriegelte die Brandschutztür zum Dach und stieß sie auf. Ein eisiger Windstoß empfing sie, und der Wind wirbelte um sie herum; das Tageslicht schwand bereits. Im Innern des Treppenhauses prallten Kugeln von den Wänden ab – ein Dutzend weitere Kommandosoldaten waren hinter ihnen her.

Sie knallte die Tür hinter Shep und sich zu. »Geben Sie mir die Waffe. Nehmen Sie den Impfstoff und werfen Sie den Hubschrauber an. Ich werde sie aufhalten.«

Er zögerte.

»Na los!«

Patrick rannte zu dem Hubschrauberlandeplatz und dem Sikorsky-S-76-Rettungshubschrauber. Er kletterte auf den Pilotensitz und verstaute den Holzkasten zwischen dem Copilotensitz und der Mittelkonsole, dann schaltete er die zwei Fünfhundert-Kilowatt-Turbinen ein.

Langsam erwachte der vierblättrige Hauptrotor zum Leben und drehte sich allmählich schneller.

Leigh riss die Dachtür auf und versuchte, den Angriff des Sondereinsatzkommandos durch das Treppenhaus zu verlangsamen, indem sie mit der Glock blindlings mehrere Schüsse abfeuerte. Dann knallte sie die Tür zu, sah sich um …

… und entdeckte den Feuerwehrschlauch, der außen an der Ziegelmauer angebracht war.

Sie ließ die Waffe fallen, schnappte sich die Düse des Schlauchs, zerrte ein Sechs-Meter-Stück des mit vierhundert Kilo belastbaren Schlauchs von der Trommel und fädelte es durch den Stahlgriff der Dachtür.


Sheps rechte Hand packte den Steuerknüppel – ein Gashebel, der benutzt wurde, um das Fluggerät zu steuern, sobald der Hubschrauber in der Luft war. Seine Füße ruhten auf den zwei Ruderpedalen am Boden, die ihm ermöglichten, mithilfe des Heckrotors die Richtung zu kontrollieren.

Schweißperlen liefen ihm über das Gesicht, während er sich abmühte, die Zange seiner Armprothese zu öffnen, was ihm erlauben würde, den Pitch zu packen, den auf dem Boden neben seiner linken Hüfte befindlichen horizontalen Hebel für die kollektive Blattverstellung. Mittels dieses Hebels kontrollierte der Pilot den Winkel der Blätter des Hauptrotors, was dem Hubschrauber ermöglichte, zu steigen und zu sinken. Wenn er diesen Knüppel nicht betätigen konnte, würde er nicht starten können. Schlimmer noch, wenn er es nicht schaffte, die Bewegungen seiner noch fremden Armprothese mit seinen drei anderen Gliedmaßen zu koordinieren, sobald sie in der Luft waren, konnten seine Aktionen dazu führen, dass der Rotor mehr als fünfzehn Prozent unter seiner normalen Geschwindigkeit rotierte – was aus dem Hubschrauber einen dreieinhalbtausend Kilo schweren Felsbrocken machen würde.

Na los … Geh schon auf!

Der Hauptrotor hatte die zum Abheben erforderliche Drehzahl erreicht. Shep, immer noch außerstande, die Zange zu öffnen, gab Leigh mit der rechten Hand ein Zeichen.

Nachdem sie den Schlauch gestrafft hatte, führte Leigh die Düse wieder um die Trommel herum und band sie dort fest. Sie rannte auf den wartenden Hubschrauber zu, als die Kommandosoldaten das obere Ende der Treppe erreichten. Sie versuchten die Dachtür zu öffnen, aber der Schlauch hielt.

Leigh Nelson war gut sechs Meter von dem Hubschrauber entfernt, als die Tür aufgesprengt wurde und ein Feuerstoß sie von hinten traf. Sie ging zu Boden. Kugeln prallten vom Schotter ab. Ein paar trafen den Helikopter. Außerstande, sich zu rühren, und unter Qualen blickte die siebenunddreißigjährige Ärztin und Mutter zweier Kinder auf zu Shep, aber ihr »Los!«-Schrei ging im Dröhnen der sich drehenden Rotorblätter unter.

Der Adrenalinstoß durchfuhr Patrick wie ein elektrischer Schlag. Er befahl der Zangenprothese, sich zu öffnen, dann packte er den Pitch, zog ihn vom Bodenblech weg und katapultierte den Hubschrauber mit einem plötzlichen, schwindelerregenden Vorwärtsruck vom Dach.

Die Kommandosoldaten zielten mit ihren Sturmgewehren …

… während der Rettungshubschrauber knapp vom Dach wegkam, bevor er nach unten außer Sichtweite verschwand.

Der Befehlshaber des Sondereinsatzkommandos, Bryant Pfeiffer, gab seiner Gruppe ein Zeichen, das Feuer einzustellen. Er überquerte den Asphalt-Hubschrauberlandeplatz, trabte zum westlichen Ende des Dachs und blickte nach unten. »Verdammt.«

Drei Stockwerke über der Straße hatte der Hauptrotor des Helikopters Luft zu packen gekriegt. Einen Moment lang blieb er über der flüchtenden Menschenmenge in der Schwebe, dann flog er langsam nach Westen, wobei er der East 25th Street folgte und sich weit unterhalb der Skyline von Manhattan hielt.

Pfeiffer schaltete an seinem Funksprechgerät auf einen anderen Kanal. »Delta eins – Delta sechs. Verdächtiger ist mit Scythe-Impfstoff in einem Rettungshubschrauber entkommen. Ziel fliegt über der East 25th Street in westlicher Richtung und nähert sich Park Avenue. Sofort abfangen – ich wiederhole, sofort abfangen.«

Der Kommandeur sah hinunter auf die zerzauste Gestalt von Leigh Nelson. Die kleine Brünette stöhnte, rings um ihren übel zugerichteten Körper lag ein halbes Dutzend Gummigeschosse. »Knebelt sie und schnappt sie euch. Ich will sie auf dem nächsten Transport nach Governor’s Island haben.«


Wirbelnde Rotorblätter, gefährlich nahe an Laternenmasten und Gebäuden. Das metallische Dröhnen hallte Shep in den Ohren. Er reduzierte die Fluggeschwindigkeit, die nun dem Fahrzeugverkehr entsprach, der gut zehn Meter unter dem Fahrgestell des Hubschraubers dahinfloss. Shep hatte Angst, eine größere Höhe zu riskieren, da seine Zange den Pitch kaum richtig packen konnte, und so flog er durch ein Labyrinth von Wolkenkratzern, manövrierte nach Westen, dann nach Norden, dann wieder nach Westen. Der mörderische Abwind seines Rotors trieb Fußgänger auseinander, der Lärm war so ohrenbetäubend wie eine feuernde Haubitze. Er hatte das Zentrum von Manhattan oberhalb der 40. Straße passiert, als seine Zange abrutschte. Der Hubschrauber sackte bedrohlich ab, die oberen Äste der Ulmen im Bryant Park gefährdeten seinen Heckrotor.

Shep ließ den Gashebel los und langte mit der rechten Hand quer über seinen Körper. Er drückte die Zange nach unten und zwang sie in eine geschlossene Stellung um den Pitch. Dann zog er den Hebel, den er jetzt mit seiner Armprothese sicher im Griff hatte, energisch nach oben.

Der Helikopter schnellte wie ein Fahrstuhl aufwärts, vorbei an Gebäuden und den Dachantennen von Hochhäusern. Mit der rechten Hand wieder am Gashebel, steuerte Shep nach Westen, glitt hoch über dem Central Park dahin, in Sichtweite des Hudson, nur Minuten von New Jersey entfernt.

Lande in New Jersey nur gerade so lange, dass du den Impfstoff abliefern kannst. Steck ein paar Ampullen für deine Familie ein, dann verdufte schnell wieder nach Manhattan. Bea wohnt in Battery Park. Alles, was ich tun muss, ist, mit dieser Kiste auf einem Dach in der Nähe zu landen und …

Die schwarzen Helikopter tauchten aus dem Nichts auf. Apaches. Sie flankierten ihn von oben. Zwei M230-Maschinengewehre schwenkten unter den Kampfhubschraubern in Position, und ihre bedrohlichen Läufe zielten direkt auf sein Cockpit. Eine von zwei Rottweilern in die Enge getriebene Hauskatze.

»Langsam, Freunde, ich bin auf eurer Seite.« Er hielt den Kasten mit dem Impfstoff hoch.

Der Pilot in dem Apache auf seiner Steuerbordseite gab ihm das Zeichen zu landen.

Shep signalisierte Zustimmung und versuchte, Zeit zu schinden, indem er in einem flachen Winkel niederging, mit seinem Hubschrauber aber weiter in westlicher Richtung auf den Hudson zuflog. Lass dich von denen nicht in Manhattan zur Landung zwingen. Du musst über das Wasser entkommen. Er sah im Norden die George Washington Bridge und nahm Kurs auf diesen Orientierungspunkt.

Hinter zweihundert 30-mm-Geschossen, die der Geschützturm des Apache an Steuerbord ausspuckte, riss die Luft auseinander. Die Salven kreuzten Sheps Kurs und zwangen ihn zu einem steileren Sinkflug. Mit Herzklopfen wegen der Rotoren ließ Shep den Pitch behutsam nach unten, und der Rettungshubschrauber rumpelte gefährlich, während er sich abmühte, in der rauen Luft über der Uferlinie des Hudson die Kontrolle zu behalten.

Wenn du landest, werden sie dich töten oder gefangen nehmen. So oder so wirst du deine Familie nie wiedersehen. Verzweifelt und schnell niedergehend, suchte er das Gelände unter sich ab, ohne den Blick von der George Washington Bridge abzuwenden …


»Langsam, nicht pressen. Ich muss es umdrehen.« David Kantor schob seine behandschuhten Finger tiefer an beiden Seiten von Naomi Gutierrez’ vollständig gedehntem Muttermund entlang und bewegte dann behutsam die winzigen Schultern des Ungeborenen. »Okay, noch einmal kräftig pressen.«

Ein feuchter Klecks aus verfilzten Haaren zwängte sich durch den sich weitenden Muttermund; der Scheitel ging einem winzigen Kopf und einem verknautschten Gesicht voran, die behutsam von einer mit Latex bedeckten Handfläche geleitet wurden, bis sich dann plötzlich wie durch ein Wunder der ganze sich windende, leicht violett-rosafarbene 3900 Gramm schwere Körper, an dem zwei Beine baumelten und der ein sich kringelndes Stück Nabelschnur nachzog, aus der Öffnung herauszwängte.

»Gratuliere, es ist ein Junge!« Davids Maske beschlug, als er den Säugling wiegte. Er nahm ein befeuchtetes Erfrischungstuch und machte mit dem kleinen Finger den Atemweg des Neugeborenen frei. Ein gurgelndes Wimmern verwandelte sich in den gesunden Schrei eines Babys, und das violette Gesicht des Säuglings lief rosa an. Stephanie Collins wickelte das Neugeborene in eine Decke, dann reichte die Unteroffizierin das Baby mit feuchten Augen seiner weinenden Mutter.

»Gracias … gracias.«

»Masel tov.« David hatte seine Aufmerksamkeit der Nabelschnur und der herauskommenden Nachgeburt zugewandt …

… als der Lärm von Schüssen losbrach wie am Vierten Juli.

»Verdammt.« Schnell band er die Schnur ab und durchtrennte sie mit der Klinge seines Taschenmessers. Dann streifte er die blutbefleckten Gummihandschuhe ab. »Corporal, Sie bleiben bei der Mutter …«

»Sir … Ihre Hände!«

»Ach ja, richtig.« David zog sich die Handschuhe des Schutzanzugs an und sprang von der Ladefläche des Lastwagens. Sein Sturmgewehr zurücklassend, rannte er auf die Postenkette zu … und blieb, in sein Atemgerät keuchend, in der Mitte der Autobahn stehen, als die Hölle losbrach.

Frierend, hungrig, wütend und verzweifelt vor Angst rannte die Meute, die sich unmittelbar hinter dem Stacheldraht und den Betonbarrieren befand, auf die Absperrung zu. Die Freedom Force warf Gasgranaten … und die Nationalgardisten gerieten ins Kreuzfeuer. Einige krochen in Deckung. Andere schlossen sich ihren Landsleuten an und feuerten auf die ausländische Miliz, und plötzlich war der Krieg ausgebrochen, wurde Blut vergossen, stürzten Körper zu Boden, und das war es dann wohl, es gab kein Zurück mehr, als Fahrer mit aufheulenden Motoren und unter lautem Hupen zum totalen Sturmangriff bliesen. Die vorderen Fahrzeugreihen rammten die Betonbarrieren, nur um vom tödlichen Sperrfeuer schwerer Artillerie getroffen zu werden.

Autos explodierten und fingen Feuer wie Benzinbomben und setzten die Insassen in Brand, deren Schicksal Stunden zuvor durch ihren Platz in der Schlange besiegelt worden war.

Die zweite Welle von Fahrzeugen raste in die Hecks der ersten, schob die brennenden Trümmer vorwärts und drängte sie über die zwei Tonnen schweren Absperrungen hinaus gegen die Stoßstangen der Hummer, und mit einem Mal war es ein regelrechtes Stockcar-Rennen, und der Fortbestand der Postenkette war eine Frage von Sekunden.

Inmitten des Chaos entdeckte David Colonel Herstad. Der Kommandeur der Miliz lag auf der Fahrbahn, blut-überströmt …

… und schrie Befehle in sein Walkie-Talkie.

Davids Augen weiteten sich. »Nein … nein!« Er sprintete zurück zu dem Militärfahrzeug. Stieg ins Führerhaus, gab Vollgas und schleuderte seine fassungslosen Fahrgäste hin und her, als er mit dem Laster in westlicher Richtung über die George Washington Bridge raste.


Die zwei Apaches trieben den langsam niedergehenden Rettungshubschrauber auf einen Flickenteppich aus Tennisplätzen zu, die südlich der Brücke zwischen dem Fluss und dem Henry Hudson Parkway lagen.

Jetzt!

Shep stürzte sich in einen plötzlichen steilen Sinkflug und schwenkte in einem Bogen von den beiden Kampfhubschraubern weg und über das Wasser. Gischt spritzte auf die Frontscheibe, als er den Hubschrauber kaum drei Meter über der kabbeligen Wasseroberfläche abfing. Wind peitschte gegen das Cockpit, als er in westlicher Richtung über den Fluss dahinglitt …

… und die Apaches ihm den Weg abschnitten und ihn zwangen, in einem Bogen auf den Unterbau der George Washington Bridge zuzufliegen!

Shep verringerte seine Höhe, bis das Fahrgestell des Hubschraubers das bleiblaue Wasser streifte, und lenkte den Hubschrauber unter die Hängebrücke. Das Echo seiner Rotoren erschütterte sein Trommelfell, dann war er auf der anderen Seite raus …

BOOM … BOOM … BOOM!

Der Lärm verschwand unter einem dumpfen Klirren, und die Dezemberluft erhitzte sich so plötzlich, als hätte die Sonne mit dem Mond die Plätze getauscht, während sie blendende orangefarbene Salven aus Feuerbällen zündete, die explosionsartig in den Himmel stiegen. Aus Stahlträgern, bestrichen mit Farbe, der Thermit zugegeben worden war, schlugen plötzlich weiß glühende, mehr als zweitausend Grad heiße Flammen, die Metallträger und Haltetrossen schmolzen, als wären sie Butter in einer Mikrowelle. Stoßweise aufsteigender dichter schwarzer Rauch verbarg ganze Abschnitte der Interstate 95 in Richtung Westen, als die schmelzende obere Fahrbahnebene auf das ebenfalls durchbrechende Unterdeck krachte und der ganze Mittelabschnitt der George Washington Bridge samt ihren sechzehn Autobahnspuren in den Hudson stürzte …

… wobei die Lawine aus siedendem Stahl die beiden Apache-Hubschrauber mit sich in die Tiefe riss!

Trümmer schlugen in die Seiten und das Heckteil des flüchtenden Rettungshubschraubers wie Hagel von einem lodernden Meteor. Die Pedale unter Sheps Füßen wurden schlaff, als der Heckrotor zu Kleinholz zerbrach, und der Hauptrotor hatte Mühe, Luft zu packen zu kriegen, während Shep nach Norden über den Hudson schwebte wie ein flatternder Pelikan. Im verzweifelten Bemühen, seine Höhe zu halten, zerrte Shep den Pitch mit einem kräftigen Ruck zurück, woraufhin der Helikopter unter schwindelerregendem Trudeln einen Satz in den trüben Himmel machte, derweil der Fluss unten verschwand und durch einen baumbestandenen Berghang ersetzt wurde.

Der Anstellwinkel der Rotorblätter verstieß gegen die Gesetze der Aerodynamik. Abscheulich schlingernd brach der Rettungshubschrauber mit dem Fahrgestell voran durch die Baumkronen, die schnappenden Äste schlitzten ihn großflächig auf. Rotoren brachen ab, Cockpitglas splitterte, die unerbittliche Erde empfing Shep mit einem letzten, knochenerschütternden Schlag, der den Innenraum um ihn herum zusammenschob.

Das Chaos schwächte sich ab zu einem ruhiger werdenden metallischen Ticken, dann zu Stille.

Ein kalter, scharfer Wind pfiff durch die zerstörte Kabine.

Patrick Shepherd öffnete die Augen. Durch den Dunst konnte er dunkle Säulen ausmachen, jede ein enormer Baumstamm. Die Wurzeln waren knorrig vom Alter und teilweise begraben unter einem Teppich aus totem Laub und vereinzelten Schneebatzen.

Ein heruntergefallenes Schild lehnte am schrottreifen Fahrgestell des Hubschraubers. Shep strengte sich an, die Worte zu entziffern.


Willkommen im Inwood Hill Park


Er drehte den Kopf, weil er die im Dunkel lauernde Gegenwart einer anderen Person spürte. Kopf und Körper der hoch aufgeschossenen Gestalt waren in ein dunkles Gewand gehüllt. Eingefallene Augen starrten. Warteten.

Die Vision verschwand, aufgesogen in der Schwärze der Bewusstlosigkeit.