»Die Stärke einer Korrektur ist gleichwertig und entgegengesetzt zur Täuschung, die ihr vorangegangen ist.«
»The Daily Reckoning«
NOVEMBER
Tepito-Flohmarkt
Tepito,
Mexiko
17:39 Uhr
Am nördlichen Rand des historischen Zentrums von Mexiko-Stadt gelegen, gehörte das Barrio Tepito zur Colonia Ampliación Morelos im Stadtbezirk Cuauthémoc. Zusammen mit den Barrios Lagunilla und Peralvillo bildete Tepito einen der größten Flohmärkte in ganz Lateinamerika. Lagunilla und Peralvillo sind Künstlermärkte, wo alles verkauft wird, von TShirts bis zu Antiquitäten und Schmuck. Tepito, auch bekannt als »Barrio Bravo«, als »Wildes Viertel«, war ein reiner Schwarzmarkt.
Tepitos Geschichte ging zurück auf das Aztekenreich. Die Azteken gründeten das Viertel als Teil ihres Sklavenhandels. Als den Leuten verboten wurde, ihre Waren in Tlatelolco zu verkaufen, richteten die Tepiteños ihren eigenen Markt ein – einen Ort, wo Diebe ihre gestohlenen Waren absetzen konnten.
Heute war das Viertel vom Verbrechen schwer gezeichnet, wurde von mehr als fünfzig Gangs kontrolliert und von Drogenkartellen beherrscht. Wer den Markt betrat, fand nachgemachte Designerklamotten, gestohlene Kameras und Stand um Stand mit raubkopierten CDs und DVDs. Gebrauchte Elektronikartikel wurden als neu verkauft, Kochgeschirr und andere Waren waren unschlagbar billig, nachdem sie »vom Lastwagen gefallen« waren. Wenn man seinen Pass verlor, konnte man ihn wahrscheinlich in Tepito für 5000 Dollar zurückkaufen. Jemand brauchte während seines Aufenthalts in Mexiko gefälschte Papiere oder eine Waffe? Sein Reiseziel hieß Tepito.
Die Einwohner von Tepito waren sehr religiös. An fast jeder Ecke standen Altäre, deren beherrschendes Element La Santa Muerte war – die »Heilige Frau Tod« oder der »Heilige Tod«.
Niemand wusste mit Bestimmtheit, wie dieser weibliche Sensenmann, diese Schnitterin, entstanden war. Historiker verfolgten ihre Ursprünge zurück auf Mictlantecuhtli, den Herrscher des Totenreiches Mictlan, und dessen Gefährtin Mictlantecuhtzi. Von der römisch-katholischen Kirche verurteilt, blieb der Kult der Santa Muerte bis zum Jahr 2001 im Untergrund. Aus einem einzigen Altar in Tepito wurden zwanzig, und die wachsende Gemeinde des »dünnen Mädchens« bewies, dass die Kraft des Gebets nicht auf jene beschränkt war, die es vorzogen, ein sündenfreies Leben zu führen.
Für Gangmitglieder und Angehörige der Drogenkartelle Mexikos war »Santisima Muerte« eine spirituelle Gestalt, deren Gegenwart psychische Stärke verlieh. Häftlinge beteten zu ihr um Schutz vor anderen Insassen. Mexikos Arme, Kranke und Unterdrückte suchten die Erlösung, die sie ohne zu urteilen anbot.
Andere beteten zu der Schnitterin, damit sie ihre Feinde erschlug.
Das Taxi fuhr auf der Paseo de la Reforma nach Norden, und der Fahrer warf alle paar Minuten einen Blick auf seinen weiblichen Fahrgast im Rückspiegel. Goldenes Kreuz, keine anderen Schmuckstücke. Schlichte Handtasche, keine Designerkleidung. Trotzdem, eine Amerikanerin, und obendrein schwanger. Der Ehering ist wahrscheinlich in der Handtasche.
Er ließ ein falsches Lächeln aufblitzen. »Señorita, waren Sie schon mal auf dem Mercado de Tepito?«
Die Frau starrte weiter aus dem Fenster und befühlte mit der rechten Handfläche geistesabwesend ihren geschwollenen Unterleib, während ihre linke Hand eine seidige rote Haarsträhne zwirbelte.
»Ich liebe dich, Mary. Ich möchte da sein, wenn du unser Baby bekommst. Ich möchte, dass wir eine Familie sind. Heirate mich, Mary, und mach mich zum glücklichsten Kerl auf der Welt.«
Wenn Andrew Bradoskys Antrag ein Geschenk des Himmels war, dann war der zweikarätige Verlobungsring das Sahnehäubchen. Auf Wolken schwebend, konnte Mary an nichts anderes denken als daran, die Vorbereitungen für eine Hochzeit im Dezember zu treffen.
Andrew hatte andere Pläne. »Mary, Liebling, eine Hochzeit im Dezember – das ist zu früh. Wir müssten eilends Einladungen verschicken, uns einen Festsaal sichern, es gibt tausend Kleinigkeiten. Juni ist besser für eine Hochzeit. Das Baby wird geboren sein, du hast wieder deine alte Figur. Außerdem kann ich einen Hochzeitsplaner anheuern, während du dich auf die Fertigstellung von Scythe konzentrierst.«
Andrews Sentimentalität rührte sie zutiefst. Und er hatte recht. Wie konnte sie sich denn auf den schönsten Tag ihres Lebens vorbereiten, solange sie weiter vollauf damit beschäftigt war, die genetischen Geheimnisse des Schwarzen Todes zu enträtseln? Und so stürzte sie sich in ihre Arbeit, entschlossen, die Entwicklung von Scythe zur Waffenfähigkeit eine volle Woche vor der Geburt von Klein-Jesus abzuschließen. Nach dem gesegneten Ereignis würde sie sechs Monate Urlaub nehmen, sodass sie Zeit hätte, eine Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen und ihre Hochzeit durchzuplanen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so glücklich gewesen zu sein, sich schon einmal so lebendig gefühlt zu haben.
Drei Wochen später kamen ihr erste Zweifel.
Der Preis ihres Diamantrings überstieg Andrews finanzielle Möglichkeiten, aber sie hatte das Ganze als emotionalen Kauf abgetan. Seine neuen Anzüge und den Plasmafernseher konnte sie mit seinem Entschluss erklären, seine Eigentumswohnung zu verkaufen und in Marys Bauernhaus, eine kürzliche Investition in einen rückläufigen Immobilienmarkt, einzuziehen. Dann war da sein neues Mustang-Cabrio. Er hatte die Anschaffung vor einem Monat mit einem Achselzucken abgetan und erklärt, dass sein Leasingvertrag auslaufe und er ein gutes Angebot bekommen habe. Als sie beschloss, den Verkäufer zu kontaktieren, ging ein weiteres Warnlicht an – er hatte den neuen Wagen bar bezahlt.
Woher kam der plötzliche Geldsegen? Konnte sie zulassen, dass Klein-Jesus unter demselben Dach mit einem Mann aufgezogen wurde, bei dem sie sich nicht sicher war, ob sie ihm trauen konnte?
Mary hatte Rosario Martinez im Fitnessstudio kennengelernt, wo die beiden Frauen manchmal zusammen trainierten. Ihre Neugier wurde durch die Tattoos geweckt, die die Schnitterin darstellten und Arme und Rücken der Mexikanerin bedeckten. Eine Tätowierung wies eine fünfzehn Zentimeter lange Narbe quer über dem linken Schulterblatt auf.
»Die Heilige Frau Tod wacht über mich. Als ich jünger war, wurde ich verhaftet, weil ich Kokain verkauft hatte. Der Richter verurteilte mich zu sieben Jahren Knast in Almoloya de Juárez, einem Hochsicherheitsgefängnis. Meine Zellengenossin hatte das dünne Mädchen an unsere Zellenwand gemalt. Viele der Häftlinge hatten Santa-Muerte-Tattoos. Meine Zellengenossin erzählte mir, das dünne Mädchen würde über ihre Schar wachen, besonders über die Frauen. Eines Tages fielen zwei Gangmitglieder in der Dusche über mich her. Einer erwischte mich an der Gurgel, der andere stach mir in den Rücken, und die Klinge schnitt durch mein Tattoo der Santa Muerte. Ich wachte im Krankenhaus auf, nachdem ich zwei Wochen im Koma gelegen hatte. Mein Arzt meinte, es sei ein Wunder, dass ich überlebt hätte. Aber ich wusste, die Heilige Frau Tod hatte mich gerettet. Weißt du, ich sah sie in meinen Träumen. Sie stand über mir und trug ein rotes Satinkleid, ihr Haar war so dunkel wie die Mitternacht. Ich versprach, wenn sie mich rettete, würde ich etwas aus meinem Leben machen, sobald ich aus dem Gefängnis käme. Und das habe ich getan. Ich verdanke ihr mein Leben.«
»Ich wäre lieber tot, als Satan anzubeten.«
»Das ist keine Anbetung des Satans. Ich gehe in die gleiche Kirche und glaube an den gleichen Gott wie du. Aber wir alle werden sterben, und ich möchte, dass mein Tod süß ist, nicht bitter. Ich habe in meinem Leben Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin. Die Heilige Frau Tod hat mir meine Sünden vergeben, und jetzt kümmert sie sich um mich. Eines Tages brauchst du vielleicht Schutz. Eines Tages machst du dir vielleicht Gedanken über die Absichten deines Mannes. Es gibt einen Ort in Mexiko namens Tepito. Jeder Monatserste ist ein heiliger Tag, der dem dünnen Mädchen geweiht ist. Tausende von Menschen gehen dorthin, um ihren Segen für den kommenden Monat zu erbitten. Geh hin und erbitte ihre Hilfe. Wenn du dir Geld wünschst, wird sie dir Wohlstand gewähren. Wenn du in Gefahr bist, wird sie dich vor jenen beschützen, die dir schaden wollen. Wenn du befürchtest, dass dein Mann dich verlassen wird, bete zu ihr, und sie wird ihn strafen, sollte sein Auge jemals abschweifen.«
Es war dunkel, als das Taxi den Paseo de la Reforma verließ und in die Calle Matamorosa, eine der nach Tepito führenden Nebenstraßen, einbog. Der Verkehr stockte. Die Menge strömte unablässig vom Gehweg auf die Straßen. Ein Einheimischer erschreckte Mary, als er gegen ihr Fenster hämmerte. Er hielt ein Tütchen Marihuana hoch. Trotz ihrer Einwände versuchte er, mit ihr zu handeln, bis das Taxi weiterfuhr.
Der Fahrer starrte sie im Rückspiegel an. »Tepito kann ein gefährlicher Ort sein, Señorita. Sagen Sie mir, was Sie suchen, und ich kann Sie hinbringen, wo Sie hinmüssen.«
Sie faltete den Zettel auseinander, den ihre mexikanische Bekannte ihr gegeben hatte, und las dann die Adresse vor. »Calle Alfareria 12.«
Die Augen des Fahrers weiteten sich. »Sie sind hier, um das dünne Mädchen zu sehen?« Er bekreuzigte sich und preschte dann, alle früheren Gedanken bezwingend, durch eine Lücke im Verkehr.
Er fuhr noch eine halbe Meile, bevor er am Straßenrand anhielt. »Die Menge ist zu groß, Señorita, sie haben die Calle Alfareria gesperrt. Von hier werden Sie laufen müssen.«
Sie bezahlte den Fahrer, schnappte sich anschließend ihre Einkaufstasche und trat hinaus in einen Schwarm dunkelhäutiger Menschen, die sich alle auf ein Ziel zubewegten. Viele Einheimische trugen Santa-Muerte-Puppen. Die einen Meter zwanzig großen Skelettfiguren waren mit langen Perücken und Gewändern herausgeputzt, deren Farben symbolische Bedeutungen hatten – Weiß stand für Schutz, Rot für Leidenschaft, Gold für Geld und Schwarz für den Schaden, der jemand anderem zugefügt werden sollte.
Irgendwo weiter vorne spielte eine Mariachi-Band.
Die Calle Alfareria Nummer 12 war ein Wohnblock aus braunem Backstein mit weißen dekorativen Elementen, der auf der anderen Straßenseite gegenüber einem heruntergekommenen Waschsalon lag. Der Blickfang einer kleinen Ladenfront war eine knapp zwei Meter große Schaufensterdekoration, die in einen Schrein verwandelt worden war. Hinter dem Glas stand eine lebensgroße Figur der Santa Muerte – die Heilige Frau Tod, angetan mit einem Hochzeitskleid.
Mary folgte einem Prozessionszug, der sich näher vordrängte. Der zu dem Schrein führende Weg war mit frischen Blumen geschmückt, der Boden leuchtete von den Flammen mehrerer Hundert brennender Kerzen. Die Gläubigen mit ihren Kerzen, die ebenfalls symbolische Farben hatten, knieten vor dem Schrein, dann rieben sie sich mit den wächsernen Opfergaben ab, bevor sie diese anzündeten. Alle brachten Geschenke mit: Zigaretten und Alkohol, Süßigkeiten und Äpfel. Einer der Besitzer des Ladens steckte sich das angezündete Ende einer Zigarre in den Mund und blies aus dem anderen Ende Rauchwolken auf die Puppe, die den Schrein ausfüllten.
Mary trat näher heran und spürte, wie die Menge sie anstarrte; weil sie Amerikanerin war, nahm sie an. Dann hörte sie das Geflüster und schnappte ein paar wiederkehrende spanische Wörter auf.
Pelirrojo? Rojo heißt rot … Sie starren meine Haare an.
Sie wartete, bis eine Familie mit ihrem Gebet fertig war, dann kniete sie sich vor das Schaufenster und blickte zur Gliederpuppe der Schnitterin empor. Das lange wellige Haar der Puppe war scharlachrot, genau wie ihre eigenen Haare.
Sie nahm ein Bündel Hundert-Dollar-Noten aus ihrer Tasche und drehte sich dann zu einer kleinen korpulenten Mexikanerin um, deren dunkles Haar sich durch einen weißen »Stinktierschwanz« auszeichnete. »Ich habe ein Anliegen für die Heilige. Wie trage ich es am besten vor?«
»Kommen Sie mit mir, Señorita.« Enriqueta Romero führte Mary durch ihren Laden zu einem Vorratsraum hinter dem Haus. »Sie sind Amerikanerin, ja?«
»Ja.«
»Dann sind Sie einen langen Weg gereist, um hier an diesem Allerheiligsten zu sein. Die Dünne hat heute Abend die gleiche Haarfarbe wie Sie, das ist kein Zufall. Sie werden demnächst zu einer ganz besonderen Reise aufbrechen. Habe ich recht?«
»Der Mann in meinem Leben – ich muss wissen, ob er mich wirklich begehrt. Ich bin schon einmal verlassen worden …«
»… und Sie wollen nicht noch einmal verlassen werden. Diesbezüglich kann La Santisima Muerte helfen. Dafür müssen Sie eine Statue kaufen. Zu der Statue gehört eine siebenfach geknotete Schnur. Bestreichen Sie die Schnur mit dem Samen Ihres Geliebten, legen Sie sie dem dünnen Mädchen in der Einkerbung um den Hals, sprechen Sie dann in neun aufeinanderfolgenden Nächten das Ejakulationsgebet. Die Heilige wird die Absichten im Herzen Ihres Mannes deutlich machen.«
»Und wenn er mich anlügt?«
»Dann wird die Heilige auf ihn warten – in der Hölle.«
176 Johnson
Street
Brooklyn, New
York
20:12 Uhr
Erbaut im Jahr 1929, war das achtstöckige Sechstausend-Quadratmeter-Gebäude ursprünglich eine Spielzeugfabrik gewesen, deren Verkaufsschlager das erste elektrische Fußballspiel gewesen war. Heute besaßen die Toy Factory Lofts Dreieinhalb-Meter-Decken und zweieinhalb Meter hohe Fenster von Wand zu Wand.
Doug Nelson folgte seiner Frau und dem Hausverwalter widerwillig den Flur in der vierten Etage hinunter zur letzten Tür auf der rechten Seite. »Ziemlich ungewöhnlich, dass ein Vermieter ein Apartment so lange für einen Soldaten verfügbar hält.«
Joe Eddy Brown, den Bewohnern der Lofts als »Brown Man« bekannt, fummelte herum, um den richtigen Schlüssel zu finden. »Die meisten dieser Apartments sind Eigentumswohnungen. Mr. Shepherd hat seine 2001 gekauft. Und bar bezahlt.«
»Was ist mit seiner Exfrau? Kommt sie jemals vorbei? «
Brown hielt einen Moment inne, bevor er den Hauptschlüssel ins Schloss steckte, während er sich mit einer wettergegerbten Handfläche über seinen sauber rasierten Schädel fuhr. »Hab die Gnädigste ’ne Weile nicht gesehen hier in der Gegend. Verdammte Schande, sie sah gut aus. Ach, na ja, wissen Sie, ich sage immer, besser geliebt und verloren als überhaupt nie geliebt.«
»Eigentlich hat Tennyson das gesagt«, erwiderte Doug. »Und der Mann verbrachte den größten Teil seines Lebens mittellos und endete in einem Sanatorium.«
Leigh warf ihrem Mann einen strafenden Blick zu.
Das Loft war klein und bestand aus einem 55-Quadratmeter-Wohnbereich, einem Badezimmer und mehreren großen Wandschränken. Von einer modernen Küche hatte man einen Blick auf die Williamsburg Bridge. Das französische Bett stand in einer Ecke des Raumes, die Matratze lag auf dem Boden, Bettdecken und Laken waren ungemacht. Die Wände waren vollkommen schmucklos, es gab weder Fotografien noch Kunstwerke – als ob der Besitzer die Wohnung bewohnt, sie aber nie sein Zuhause genannt hatte.
»Ich weiß, was Sie denken: Es gibt nicht viel anzusehen. Mr. Shepherd – er verbrachte seine Tage größtenteils damit, durch die Straßen zu irren. Er kam immer spätabends nach Hause, öfter betrunken. Hab ihn mehr als einmal bewusstlos auf der Treppe vorm Haus gefunden. Wir dulden diese Art Verhalten in Brown Town nicht, aber da er ein Kriegsheld war, hab ich’s irgendwie durchgehen lassen. Wenn er vorhat, wieder einzuziehen …«
»Mr. Shepherd hat keine Erinnerung daran, dass diese Wohnung überhaupt existiert«, stellte Leigh klar. »Ich bin nur hier, weil ich die Adresse in seiner Militärakte gefunden habe.«
»Und ich bin nur hier, weil meine Frau mich an einem Samstagabend hierhergeschleift hat.« Doug erwiderte den wütenden Blick seiner Frau.
»Zehn Minuten, Doug. Hör auf, so egoistisch zu sein.«
»Ich soll egoistisch sein?« Er durchsuchte einen Zeitschriftenständer und schnappte sich eine alte Ausgabe von Sports Illustrated. »Sag mir Bescheid, wenn du startklar bist. Ich bin im Bad.«
»Entschuldigung, Mr. Brown. Wo ist dieser Wandschrank, den Sie am Telefon erwähnten?«
Leigh folgte dem Hausverwalter zu einer verspiegelten Wand. Brown tippte mit dem Finger dagegen, womit er den Magnetverschluss entriegelte. Er zog die Tür auf, und zum Vorschein kam ein begehbarer Lagerbereich.
Es gab ein paar Hemden auf Bügeln und eine Navy-Uniform. Der Rest von Patrick Shepherds Garderobe bestand aus Haufen schmutziger Wäsche. Ein Geruch von alkoholdurchtränktem Jeansstoff, mariniert mit noch nicht abgestandenem Körpergeruch, stieg von dem gebohnerten Fußboden auf.
Die gestapelten Pappkartons erschienen verlockender.
»Mr. Brown, ich brauche ein paar Minuten, um die Habseligkeiten meines Patienten durchzusehen.«
»Ziehen Sie einfach die Tür zu, wenn Sie gehen. Ich werd später zurückkommen und absperren.«
»Danke.« Sie wartete, bis er weg war, bevor sie die ersten paar Kartons durchstöberte. Baseball-Klamotten. Stollenschuhe und Trikots mit Grasflecken. Bündel nie getragener TShirts mit dem Aufdruck BOSTON STRANGLER auf der Brust. Sie sah noch drei Kartons durch und fand dann, begraben unter einem Haufen Jacken, die Truhe.
Sie ging auf ein Knie hinunter, ließ die Stahlverschlüsse aufschnappen und hob den Deckel an.
Abgestandene Luft, moschusartig und voller abgelegter Erinnerungen, entwich aus dem lange verschlossenen Behälter. Sie nahm ein pinkfarbenes Damen-Kapuzensweatshirt der Rutgers University heraus, dann zwei Ausstattungen für Kleinkinder, die kleinere eine Yankees-Montur, die größere ein Red-Sox-Shirt. Die drei College-Lehrbücher, die alle von europäischer Literatur handelten, waren voller Unterstreichungen und mit Randbemerkungen versehen, eindeutig in der Handschrift einer Frau. Sie suchte vergeblich nach einem Namen, dann sah sie die gerahmte Fotografie, eine Aufnahme, die vor einem Studentenwohnheim gemacht worden war.
Das Mädchen war knapp zwanzig, blond und schön wie ein Model, ihr langes Haar fiel wellig herab. Ihr Freund umarmte sie von hinten. Ein hübscher Bursche, und er zeigte ein großspuriges Lächeln. Leigh starrte auf das Bild von Patrick Shepherd in seiner Jugend. Sieh dich an. Du hattest die Welt im Sack, und du bist fortgegangen – nur damit du durch die Hölle robben konntest.
»Leigh? Das musst du dir ansehen.«
Sie ging mit dem Foto in der Hand zu ihrem Mann ins Bad.
Doug deutete auf den Arzneischrank. »Ich würde sagen, dein Junge hat ein paar ernsthafte Probleme.«
Die handschriftliche Notiz, mit den Jahren vergilbt, klebte auf dem Spiegel.
Shep,
die Stimme, die Dir sagt, Du sollst Dich umbringen, ist Satan. Selbstmord ist eine Todsünde. Deiner Familie zuliebe, reiß Dich am Riemen und akzeptiere Deine Strafe. Heute musst Du für sie leben.
Er ist kränker, als ich dachte … Sie öffnete den Arzneischrank, dessen schmale Regale voller abgelaufener rezeptpflichtiger Medikamente waren. »Amoxapin, Thorazin, Haldol. Trifluoperazin, Triavil, Moban. Hier sind genug Antidepressiva und Beruhigungsmittel, um das ganze Gebäude medikamentös zu behandeln.«
»Sieht so aus, als ob er selbstmordgefährdet war, lange bevor er seinen Arm verlor. Ich wette mit dir ums Abendessen, dass er eine geladene Waffe unter seinem Kopfkissen hat.« Doug verließ das Badezimmer, ging rüber zum Bett und warf die Gänsedaunen-Kissen beiseite. »Was ist das?«
Leigh ging zu ihm. »Hast du eine Waffe gefunden?«
»Nicht direkt.« Er hielt das ledergebundene Buch hoch.
Dantes Inferno.
Doug fuhr in westlicher Richtung auf der 34. Straße und lenkte den Range Rover auf eine der drei Fahrspuren, die durch den Lincoln-Tunnel nach New Jersey führen. »Willst du wissen, warum ich wütend bin? Weil du mehr Zeit mit deinem Soldatenkumpel verbringst als mit deiner eigenen Familie.«
»Das ist nicht wahr.«
»Wieso er, Leigh? Was ist so besonders an diesem Veteranen? Ist es, weil er Baseball gespielt hat?«
»Nein.«
»Was dann?«
»Ich weiß nicht.« Sie starrte aus dem Fenster und versuchte bewusst, nicht die Kohlenmonoxid-Dämpfe einzuatmen, als ihr Wagen durch den hell erleuchteten Tunnel raste. »Zuerst hatte ich bloß Angst, dass er wieder versuchen würde, sich umzubringen. Dann, als ich sah, wie sehr er seine Frau vermisste, hatte ich Angst, dass er zu früh versuchen würde, wieder mit ihr zusammenzukommen. «
»Wieder Thomas Stansbury? Leigh, das haben wir schon tausendmal durchgekaut. Er hatte einen Pavor nocturnus, Nachtangst. Es lag nicht in deiner Macht.«
»Er erwürgte seine Frau und brachte sich dann selbst um. Ich war diejenige, die ihn entließ.«
Die Nacht tauchte wieder auf, als sie in New Jersey aus dem Tunnel kamen. Doug blieb stumm und überlegte, was zu tun sei. »Lad ihn zu uns zum Essen ein.«
»Wen? Shep? Wozu?«
»Irgendwann wirst du ihn entlassen müssen, klar? Warum nicht seinen Übergang mit ein bisschen Normalität erleichtern? Es gibt ordentliche Hausmannskost, er kann mit den Kindern spielen. Vielleicht kannst du sogar deine Schwester einladen.«
»Meine Schwester?«
»Warum nicht? Ich will damit nicht sagen, dass du ein Blind Date daraus machen sollst. Ich glaube einfach, es wäre gut für ihn. Außerdem, du weißt, wie einsam Bridgett in letzter Zeit war.«
»Sie macht gerade eine schwere Scheidung durch.«
»Das sag ich ja.«
»Nein, es wäre zu sonderbar. Außerdem, Shep könnte gekränkt sein. Er ist immer noch bis über beide Ohren in seine Frau verliebt.«
»Dann nenn es einfach ein Abendessen und warte ab, was passiert.«
»Na schön. Das kann ich machen.«
»Jetzt beantworte mir meine ursprüngliche Frage: Wieso Shepherd?«
Die Brünette beugte sich herüber und lehnte den Kopf an die Schulter ihres Mannes. »Hast du jemals jemanden getroffen, der einfach so bedürftig wirkte, so verloren, aber zugleich einen Charakter hatte, zu dem du dich einfach hingezogen fühltest? Das klingt jetzt seltsam, aber in Sheps Nähe zu sein ist, als hinge ich mit einem alten Bekannten herum, der sich auf einer wichtigen Reise verirrt hat, und es wäre meine Aufgabe, ihm nach besten Kräften zu helfen, bevor er weiterzieht. Ergibt das irgendeinen Sinn?«
»Alter Bekannter oder neuer – Burschen wie Shepherd, die im Kampfeinsatz waren, haben einen Hang zur Selbstzerstörung. Ich weiß, du bist seine Ärztin, Leigh, aber manche Leute wollen einfach nicht gerettet werden.«