DRITTER HÖLLENKREIS

DIE UNERSÄTTLICHEN

»Von Hagelkörnern, Schnee und schmutzigem Wasser ein Mischmasch; gießt es durch die Finsternis; die aufgeweichte Erde stinkt davon. (…) Mit laufnen Augen, schmierigem Schnauzbart, geblähtem Wanst und krallig scharfen Pfoten zerkratzt, zerreißt und schindet er die Seelen, die auch wie Hunde unterm Regen heulen, bald die, bald jene Seite schirmen wollen, sich emsig im verfluchten Elend wälzend.«


DANTE, Die Göttliche Komödie,
»Hölle«, Sechster Gesang

20. DEZEMBER

Zufahrt zur 158th Street
Manhattanville, Manhattan, New York
22:06 Uhr
(9 Stunden und 57 Minuten vor dem prophezeiten Ende der Tage)


Der Regen wurde zu Hagel, während Patrick und Virgil unter dem Brückenbogen – dem massiven Fundament des Riverside Drive – Schutz suchten. In der Unterführung befand sich eine Werkstatt, die zum Wartungssystem der New Yorker Verkehrsbehörde gehörte.

Als sie das Gelände betraten, fanden sie sich in einer Art riesigen Höhle wieder, deren Dach vom Highway über ihnen gebildet wurde. Stahlträger zogen sich an den Rändern der fünf Stockwerke hohen Decke entlang. Vor ihnen verschwand ein Kiesweg in der Dunkelheit. Heulend blies der Wind durch den Tunnel, und Shep zitterte unkontrollierbar am ganzen Leib. Sein vom Regen durchnässter Pullover bot keinerlei Schutz mehr vor der Winterkälte.

Ein kleines Büro mit einer Fensterfront lag dunkel und leer zu ihrer Linken. Virgil drückte die Klinke nieder. Die Tür war unverschlossen. Er ging hinein und kam einen Augenblick später mit einer schwarzen Skijacke wieder heraus. »Zieh das an.«

»Zu k-k-klein. Kann ich ni-ni-nicht über die P-P-Prothese ziehen.«

Virgil hielt den linken Ärmel der Jacke straff vor ihn. »Nimm die Klinge deiner Prothese. Schneide den Ärmel ab, sodass du durch das Loch schlüpfen kannst.«

Mit einer nach unten geführten Bewegung durchtrennte Patrick das Material auf der Höhe des Ellbogens. Daunenfedern wirbelten durch die Luft.

Virgil hielt das geänderte Kleidungsstück, während Patrick seine deformierte Stahlprothese durch den halbierten linken Ärmel schob. Shep schaffte es, die Skijacke über die Schultern zu ziehen, und der alte Mann half ihm mit dem Reißverschluss. »Besser?«

»Viel besser. Virgil, hörst du das?«

Der Wind hatte sich ein wenig gelegt, sodass die beiden eine Frau hören konnten, die um Hilfe rief. Ihr verzweifeltes Flehen hallte in der Dunkelheit wider.

»Komm mit!« Patrick schob das Kästchen mit dem Impfstoff in seine Skijacke und rannte in die Tiefen des Tunnels. Virgil folgte ihm in einigen Schritten Entfernung.

Der Tunnel war mehrere Hundert Meter lang und endete in einer Sackgasse, in der sich die Decke zur Rückwand hin absenkte. Vor der Wand führte eine Treppe, die von einer schwachen Notbeleuchtung erhellt wurde, in die Tiefe. Drei Rottweiler waren mit ihren Leinen am Eisengeländer der Treppe festgebunden, wodurch niemand diesen Ausgang benutzen konnte. Die Leinen der Tiere hatten sich ineinander verheddert, sodass die Körper der aggressiven schwarzbraunen Wachhunde eng aneinandergedrückt wurden. Die von schaumigem Speichel triefenden Fangzähne konnten die Frau nicht erreichen.

Sie war Ende fünfzig, weiß und ziemlich mollig. Jemand hatte sie bis auf die Unterwäsche ausgezogen. Sie stand bis zu den Hüften in einer Schlammgrube, die durch ein geborstenes Abwasserrohr geschaffen worden war, das seinen Inhalt um den Bereich der Treppe herum ergoss.

Kaum hatte die Frau Patrick und Virgil gesehen, begann sie, ihrem Ärger Luft zu machen. »Das wird auch langsam Zeit. Ich rufe hier ja erst seit zwanzig Minuten um Hilfe. Zuerst haben sie mir meinen Schmuck weggenommen. Dann haben sie mir meine Atemmaske gestohlen, die mich fünftausend Dollar gekostet hat. Und dann haben mich die kleinen Bastarde bis auf BH und Höschen ausgezogen, um mich hier sterben zu lassen.«

Die knurrenden Hunde bellten Patrick an, als er sich der Frau näherte …

… ihre Körper verschmelzen vor seinem geistigen Auge zu einem einzigen dreiköpfigen Tier. Zerberus! Der mythische Hund aus dem Hades richtet sich auf seinen Hinterbeinen auf, und seine drei Mäuler schnappen nach Patrick, während der Speichel von ihren schaumbedeckten Kiefern spritzt.

Shep trat einen Schritt zurück, und alles um ihn herum begann sich zu drehen …

… die Zementwand vor ihm wird zu einem langen Korridor aus Betonblöcken, in dem sich auf beiden Seiten Tore aus Stahlgittern befinden. Am Ende des Ganges kauern sich die Gefangenen auf dem Boden zusammen. Die Soldaten lachen. Sie halten die drei Wachhunde kaum noch zurück. Die Rottweiler zerren an ihren Halsbändern und knurren die verängstigten, nackten irakischen Gefangenen an.

Der Geheimdienstoffizier wendet sich Shep zu. »Wir nennen das ›die Häftlinge vorbereiten‹. Unsere Verhörspezialisten wissen es zu schätzen. Sie sagen, das macht die Gefangenen gesprächiger.«

»Was haben sie getan?«

»Wen interessiert das? Unser Job ist es, ihnen eine Scheißangst vor Guantánamo einzujagen. Der da – schleppen Sie seinen fetten Arsch hierher.«

Shep packt den Iraker beim Ellbogen und zerrt den verängstigten Mann aus der Gruppe heraus.

Der Geheimdienstoffizier drückt dem Gefangenen den Lauf seiner Pistole ins Ohr.

»Smitty, sagen Sie ihm, er soll sich an den Fußknöcheln halten. Sagen Sie ihm, wenn er loslässt, blase ich ihm das Hirn weg. Shepherd, wenn ich Sie dazu auffordere, möchte ich, dass Sie den Rücken dieses arabischen Hundes mit einem Gummischlauch bearbeiten.«

»Sir … ich denke nicht, dass ich das kann.«

»Sie denken? Wer hat Sie aufgefordert zu denken? Ich gebe Ihnen einen Befehl, Sergeant.«

»Aber …«

»Shepherd, diese Befehle kommen direkt aus dem Büro des Verteidigungsministers. Wir erledigen hier unseren Job, um zu Hause ein zweites 9/11 zu verhindern. Ist das so schwer zu begreifen? Und jetzt nehmen Sie diesen verdammten Schlauch. Los, Smitty, sagen Sie dem Gefangenen, was Sache ist!«

Der Mitarbeiter der Titan Corporation, eines privaten Sicherheitsdienstes, gibt den Befehl auf Farsi an seinen Gefangenen weiter. Vor Angst zitternd beugt sich der stämmige Iraker nach vorn und umfasst seine Knöchel.

»Machen Sie schon, Shepherd, lassen Sie seinen Terroristenarsch den Gummischlauch spüren!«

Patrick zögert. Dann schlägt er dem einundvierzig Jahre alten Taxifahrer und Vater von fünf Kindern mit dem Schlauch auf den haarigen Rücken.

»Was sind Sie denn für einer? Mögen Sie etwa Moslems? Schlagen Sie ihn, Sergeant! Und zwar richtig! Schlagen Sie ihn wie einen Maulesel.« Der Geheimdienstoffizier blinzelt dem Mitarbeiter des privaten Sicherheitsdienstes zu, nimmt seine Zigarette aus dem Mund und drückt sie im linken Ohr des Gefangenen aus.

Der Iraker schreit vor Schmerz auf. Voller Angst, seine Knöchel loszulassen und erschossen zu werden, fällt der Gefangene nach vorn, schlägt mit dem Kopf gegen den harten Kachelboden und verliert das Bewusstsein.

Der Geheimdienstoffizier und der Mann vom Sicherheitsdienst brechen in hysterisches Gelächter aus.

Shep tritt einen Schritt von dem Verletzten weg, während die Hunde bellen und nach den Gefangenen schnappen …

… und plötzlich gab einer der Rottweiler würgende Geräusche von sich. Gleich darauf folgte der zweite und schließlich der letzte. Alle drei Tiere würgten an etwas, das in ihrer Kehle steckte.

»Patrick, ist alles in Ordnung? Patrick …«

Shep schüttelte die Erinnerung an Abu Ghuraib ab, bis er wieder sah, dass er auf dem Wartungsgelände in der Unterführung stand. Virgil war direkt neben ihm. An der rechten Hand des alten Mannes klebte Schlamm.

Die drei Hunde gaben noch immer ein Würgen von sich. Ihre Mäuler waren voller Unrat.

Die kräftig gebaute Frau hatte sich schon in Bewegung gesetzt. Sie schob sich an den Hunden vorbei und verschwand die Betontreppe hinab, während sie eine Spur aus Abwasser und Schlamm hinter sich her zog.

Virgil musterte Shepherd, der bleich und mitgenommen wirkte. »Noch eine Halluzination?«

»Eine schlimme Erinnerung.«

»Erzähl mir davon.«

Patrick starrte die Hunde an. Die Szene vor seinem geistigen Auge war noch immer sehr lebendig. »Mein zweiter Einsatz. Ich war nach Abu Ghuraib befohlen worden, als Systemadministrator – aber das war nur ein wohlklingender Titel, den sie dem Soldaten gaben, der sich um die Computer kümmerte. Die Neuankömmlinge wurden der Nachtschicht zugeteilt. Da sind eine Menge Dinge passiert.«

»Mit Dinge meinst du Folter?«

Shep nickte.

»Ich wurde gezwungen, dabei mitzumachen. Als ich mich beschwerte, sagte man mir, ich solle die Klappe halten und meinen Job erledigen. Die Situation wurde immer schlimmer, als die Verhörspezialisten aus Guantánamo ankamen – Geheimdienstleute. Kranke Schweine. Sie arbeiteten mit Schlafentzug und ließen rund um die Uhr Kinderlieder laufen. Es machte die Gefangenen wahnsinnig. Manchmal fesselten sie einen Häftling in einer völlig verrenkten Körperhaltung und ließen ihn stundenlang so verharren. Das Waterboarding habe ich selbst nie mitbekommen, aber ich habe davon gehört. Ein paarmal gingen die Verhörspezialisten zu weit, sodass der Gefangene dabei ertrank. Wenn das geschehen war, steckten sie die sterblichen Überreste dieses Menschen in einen Leichensack und befahlen uns, ihn nachts irgendwo verschwinden zu lassen.«

»Aber das ist es nicht, was dich in deinen Träumen heimsucht.«

Sheps Blick wurde trüb. Er schüttelte den Kopf. »Da gab es diesen irakischen Flaggoffizier, Hamid Zabar. Um ihn zum Reden zu bringen, holten diese Typen seinen sechzehnjährigen Sohn. Sie folterten den Jungen, während der Offizier gezwungen wurde, zuzusehen … während ich gezwungen wurde, zuzusehen.«

Nur unter Mühen gelang es Patrick, sich wieder zu fassen. »Ich war dort sechs Monate lang stationiert. Ein paar von uns schafften es, einige Details bis nach Hause durchsickern zu lassen. Etwas später gab es eine Untersuchung. Ich war damals zurück in New York und wollte mich für eine Zeugenaussage zur Verfügung stellen, aber sie weigerten sich, eine mögliche Aussage von mir einzubeziehen. Die ganze Untersuchung war eine einzige Farce. Sie sollte die Medien und die amerikanische Öffentlichkeit ruhigstellen und die ganze Schuld ein paar schwarzen Schafen zuschieben, von denen keiner zu den verantwortlichen Offizieren gehörte, obwohl unser Oberbefehlshaber den Einsatz von Folter autorisiert hatte. Um Rumsfeld, der zu den übelsten Exzessen ermutigt hatte, ging es überhaupt nicht. Auch nicht um seinen Gefolgsmann und Stellvertreter Paul Wolfowitz, der von den Einzelheiten persönlich Kenntnis hatte, und ebenso wenig um Generalmajor Geoffrey Miller, den Rumsfeld nach Abu Ghuraib geschickt hatte, um das Gefängnis in ein zweites Guantánamo zu verwandeln. Kein einziger dieser Schuldigen wurde jemals angeklagt oder bestraft – nur Idioten wie ich, Menschen, die das Ganze öffentlich gemacht hatten. Weil wir aussagen wollten, wurden wir um eine Gehaltsstufe herabgesetzt und auf eine geheime Liste der Personen gesetzt, die für einen ständigen Wiedereinsatz vorgesehen waren. Acht Monate später war ich wieder im Irak.«

»Und die Häftlinge?«

»Das war das Schlimmste. Die meisten von ihnen waren unschuldig und an terroristischen Aktionen vollkommen unbeteiligt. Sie waren bei Razzien in Gefangenschaft geraten, die Mitglieder privater Sicherheitsdienste durchführten, oder sie waren wegen der ausgesetzten Belohnung von ihren eigenen Nachbarn verleumdet worden. Bei vielen von ihnen kümmerte man sich überhaupt nicht darum, woher sie kamen, und registrierte sie nicht einmal. Und trotzdem wurden sie endlos lange festgehalten – einfach so.«

»Und du hast nichts unternommen, um dem allem ein Ende zu machen?«

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich es gemeldet habe. Was hätte ich denn sonst noch tun sollen?«

»Hey, ihr beiden! Ihr seid spät dran.«

Sie drehten sich um und sahen einen Mann, der von Kopf bis Fuß in eine schwarze Tarnuniform gekleidet und dessen Gesicht hinter einem Atemgerät kaum zu erkennen war. Er deutete mit seinem Sturmgewehr auf die Betontreppe. »Los geht’s, ihr Arschlöcher. Der Lastkahn wird in wenigen Minuten hier sein.«

Er packte die Hunde bei den Leinen und zog sie beiseite, sodass Patrick und Virgil über die Treppe hinab in die dunklen Tiefen steigen konnten.



Pier A
Battery Park City, Manhattan, New York
22:11 Uhr


Die im Jahr 1875 errichtete Pier A war knapp 87 Meter lang und fast 14 Meter breit; sie bestand aus solidem Mauerwerk, das am Battery Park Place am südwestlichen Ende des Finanzdistrikts weit in den Hudson hineinreichte. Auf der Pier stand ein altes, dreistöckiges Gebäude, dessen grün und weiß gestrichene Bogenfenster zusammen mit einem der Seeseite zugewandten viktorianischen Glockenturm besonders auffällig waren.

Stunden zuvor hatte ein chaotisches Gewimmel die Anlegestellen der Fähren an der Pier erfüllt. Mehrere Zehntausend Menschen – vor allem Touristen – hatten sich in dem am Fluss gelegenen Park versammelt und sich verzweifelt bemüht, eine Transportmöglichkeit zu finden, um die Insel zu verlassen. Kajaks wurden für fünftausend Dollar in bar verkauft, Paddelboote wurden gegen die Zündschlüssel von Jaguaren und Mercedessen eingetauscht. Bei Sonnenuntergang hatte jedes schwimmfähige Boot seinen Besitzer gewechselt und war, mit Passagieren überladen, auf den Hudson hinausgefahren, woraufhin …

… innerhalb von wenigen Minuten jedes einzelne von der Küstenwache gestoppt und versenkt worden war, sodass die Passagiere im lähmend kalten Wasser ans Ufer zurückschwimmen mussten.

Nur wenige überlebten. Wer Glück hatte, ertrank.


Das Tor im Maschendrahtzaun, hinter dem Pier A lag, schwang mit jedem Windstoß auf und zu. Arktische Böen aus dem Hafen zerrten an den Aufbauten der Docks. Im Haus brannten einige Lichter – jemand hatte ein halbes Dutzend nackte Glühbirnen mit einem tragbaren Generator verbunden.

Im Licht ruhte ein Bayliner 2850 Contessa Sedan Bridge Cuddy Cruiser Baujahr 1982 in seiner Halterung. Das Boot war neun Meter lang, sein Fiberglasrumpf blau und cremefarben. Es war so groß, dass acht Passagiere bequem darauf Platz fanden, die Kombüse war mit einem Ofen ausgestattet, der elektrisch oder mit Gas betrieben werden konnte. Im Bug befanden sich eine Spüle, eine Dusche und der Wohnbereich, im Heck Kojen für drei Personen.

Das Schiff hing an einer Winde über einer Luke im Boden des Docks; durch diese konnte es im nordwestlichen Teil des Piers zu Wasser gelassen werden.

Heath Shelby hatte das Boot für sechstausend Dollar von einem der Betreiber des Piers erworben. Der Motor schien in Ordnung zu sein, doch der Rumpf hatte nach einem Zusammenstoß Jahre zuvor noch immer ein Leck. Die Reparaturarbeiten waren nie vollständig zu Ende gebracht worden, wodurch das Schiff nicht seetauglich war. Aus diesem Grund war beim Verkauf vereinbart worden, dass das Boot innerhalb von Pier A bleiben durfte, bis der neue Besitzer die notwendigen Reparaturen abgeschlossen hatte.

Heath Shelby lag auf dem staubbedeckten Holzboden, wobei ihm sein Weihnachtsmannkostüm als Decke diente. Er hatte Fieber, und ihm war heiß. Alle paar Minuten hustete er blutige Schleimklumpen von der Größe eines Vierteldollars aus. Direkt unter seiner linken Achselhöhle wölbte sich eine kiwigroße Beule nach außen.

Heath war alleine und verängstigt, doch ganz besonders fürchtete er sich davor, seine Frau und seinen Sohn der Seuche auszusetzen. Deshalb hatte er sich hier zu seinem Boot zurückgezogen und betete darum, die Nacht zu überleben.

Wieder klingelte sein Handy. Mit fiebrigem Blick fixierte er die Nummer des Anrufers, um sicher zu sein, dass es sich nicht um seine Frau handelte. »Sprechen Sie.«

»Heath, bist du das?«

»Paolo?«

»Ich habe gerade mit meiner Schwester gesprochen. Sie ist vor lauter Sorge schon ganz krank.«

Halb im Delirium setzte Heath sich auf. »Jennie ist krank?«

»Nein. Ich habe gesagt, sie ist ganz krank vor Sorge. Sie hat behauptet, dass du nicht ans Telefon gehst.«

»Ich hatte einen schweren Tag bei der Arbeit.«

»Bei der Arbeit? Heath, die Pest hat ganz Manhattan verseucht. Wir müssen unsere Familien von der Insel schaffen.«

Heath legte sich wieder hin. Er kämpfte gegen den Drang an, sich zu übergeben. »Wie denn?«

»Das Boot, an dem du für Collin gearbeitet hast. Es kann uns über den Fluss bringen. Hast du das Leck repariert? «

»Ja. Nein. Ich weiß nicht. Paolo, ich bin im Bootshaus … und ich bin krank. Es geht mir wirklich schlecht. Ich will nicht, dass irgendjemand diesem Ding ausgesetzt wird. Es reißt mich innerlich in Stücke.«

»Was kann ich tun?«

»Nichts. Bleib einfach nur weg. Sag meiner Frau und meinem Sohn, dass sie dasselbe tun sollen.«

»Heath, die Pest breitet sich in alle Richtungen aus. Morgen früh wird niemand mehr sicher sein. Bisher hat sich deine Familie noch nicht angesteckt. Sie alle können noch gerettet werden. Sorg dafür, dass das Boot es bis über den Hudson schafft. Francesca und ich werden Jennie und Collin so schnell wie möglich in Battery Park treffen. Ich werde dafür sorgen, dass wir sie in Sicherheit bringen können. Wenn wir es bis nach Jersey schaffen, werden wir eine Möglichkeit finden, dir zu helfen.«

»Für mich ist es zu spät. Nimm das Boot. Ich bringe die Reparaturen zu Ende und verschwinde. Tu mir nur einen Gefallen, Paolo. Sag Jennie, dass ich sie liebe. Sag Collin, dass sein Daddy sehr stolz auf ihn ist.«

»Das … werde ich. Hallo? Heath, bist du noch dran?«

Heath Shelby ließ das Handy fallen, kroch zum nächsten Mülleimer und übergab sich.



Governor’s Island, New York
22:14 Uhr


Hoch über dem nordwestlichen Ufer von Governor’s Island befand sich die runde Sandsteinfestung Castle William. Sie war 1807 zum Schutz New Yorks errichtet worden und besaß einen Durchmesser von über sechzig Metern. Ihre Mauern waren zwölf Meter hoch und fast zweieinhalb Meter dick.

Leigh Nelson folgte Captain Zwawa durch den großen Garten in der Mitte der Festung. Die beiden betraten den Turm, stiegen die Wendeltreppe hinauf und traten auf eine Terrasse hinaus, von der aus man einen Überblick über den Hafen von New York hatte. Battery Park und die Skyline von Manhattan lagen nicht mehr als einen Kilometer jenseits des Wassers.

»Captain, bitte. Ich muss meinen Mann anrufen. Er muss wissen, dass mit mir alles in Ordnung ist.«

Jay Zwawa ignorierte sie. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem großartigen Ausblick auf den Finanzdistrikt, der von zahllosen Lichtern erhellt wurde. »Geschichte ist so eine Art Hobby von mir. Wussten Sie, dass sich genau hier der schlimmste Gewaltausbruch in New York vor den Ereignissen vom 11. September ereignet hat? Es war im Juli 1863, während des Bürgerkriegs. Anhänger der Konföderierten schürten Unruhen, bei denen zweitausend New Yorker starben und achttausend verwundet wurden. Governor’s Island wurde angegriffen, aber die Bürgerwehr konnte die Aufständischen abwehren.«

»Captain, was ist mit meinem Anruf?«

»Wenn wir den Impfstoff bekommen.«

»Aber ich kooperiere doch. Sie haben mich aufgefordert zu kooperieren, und genau das mache ich. Was passiert, wenn es Ihren Männern nicht gelingt, Shep zu finden? «

»Dann wird Ihr Anruf keine Rolle mehr spielen.«

Ein Adjutant trat zu ihnen auf die Terrasse. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche, Sir. Alle Handy-Signale werden jetzt gesperrt. Alles ist bereit für einen totalen Blackout der Insel.«

»Tun Sie es.«

»Ja, Sir.« Der Adjutant verschwand die Treppe hinab.

Leigh Nelson sah entsetzt aus. »Sie schalten den Strom ab?«

»Unser Ziel besteht darin, dafür zu sorgen, dass drei Millionen Menschen den Ort nicht verlassen. Indem wir den Strom abstellen, verdunkeln wir die Stadt, wodurch unsere Wärmesensoren einen besseren Blick von oben haben. Außerdem wollen wir die Bevölkerung dazu bringen, in den Gebäuden zu bleiben.«

»So sorgen Sie nur für noch mehr Panik.«

»Doktor, die Panik haben wir vor fünf Stunden hinter uns gelassen.«

Vor ihren Augen verschwand die Südspitze Manhattans in der Nacht. Die Welle der Dunkelheit erreichte Battery Park und den Finanzdistrikt … Chinatown und die Lower East Side … Tribeca, Little Italy und SoHo. Sie rollte weiter nach Norden und verschlang Midtown und den Central Park, die Upper East und die Upper West Side, bis ganz Manhattan von einer samtenen Schwärze bedeckt war, die nur noch von den Scheinwerfern Tausender Fahrzeuge durchbrochen wurde.

Wie Schreie aus einer fernen Achterbahn verschmolzen die Geräusche, die sich aus dieser Leere erhoben, zu einem einzigen Laut, der über Land und Wasser strich …

… die Klage von Millionen verdammter Seelen, die in der Dunkelheit um Hilfe riefen.



Unter der Überführung der 158th Street
Manhattanville, Manhattan, New York
22:31 Uhr


Patrick und Virgil stiegen durch die Dunkelheit hinab in die Tiefe, der eine gegen die Pest geimpft und gleichzeitig geschwächt von der Leere in seinem Herzen, der andere geschwächt vom Alter und gleichzeitig geimpft mit einer Selbstlosigkeit, wie sie ein festes, anderen dienendes Ziel verleiht. Die beiden Männer hielten sich an den Händen, um auf der Betontreppe nicht zu stürzen, die einzig von der Taschenlampe des Mannes mit der Waffe erhellt wurde. Jeder Schritt ins Dunkle brachte sie dem feuchten Erdreich und der Krankheit näher, der Gestank des Abwassers, der aus der Tiefe emporstieg, machte jeden ihrer Atemzüge mühsam, und das Kratzen von Rattenkrallen auf Beton jagte ihnen Schauer über den Rücken.

Aus drei Ebenen wurden sechs, aus acht ein Dutzend, bis die Treppe schließlich an der Öffnung eines fast zweieinhalb Meter hohen Betontunnels endete, dessen Boden gut dreißig Zentimeter hoch mit halb gefrorenem Schlamm und Abwasser bedeckt war. Fußabdrücke verrieten, dass Hunderte Menschen vor ihnen hier durchgekommen waren.

Mit bellender Stimme forderte der Bewaffnete sie auf weiterzugehen. Bis zu den Waden im Schmutz, schoben sie sich voran, während der Mann sie immer weiter in die Dunkelheit trieb.

Patrick schaffte es kaum noch, seine Wut zu beherrschen. Der ehemalige Marine spielte mit dem Gedanken, blitzschnell herumzuwirbeln und mit der behelfsmäßigen Klinge seiner beschädigten Prothese dem Bewaffneten die Kehle aufzuschlitzen.

Als könne er Gedanken lesen, sorgte Virgil unauffällig dafür, dass Shep vorausging, und trennte ihn so von seinem möglichen Angriffsziel.

Der Tunnel zog sich noch weitere hundert Meter in Richtung Osten, bevor die Männer am Ufer des Hudson ins Freie traten. Es hatte zu hageln aufgehört, und weil die Lichter der Großstadt erloschen waren, konnte man am Nachthimmel die Sterne erkennen.

Patrick sah zur Küstenlinie, wo sich eine große Menschenmenge in mehreren Gruppen zusammendrängte. Als er näher kam, konnte er deutlich zwei verschiedene Parteien unterscheiden. Die Mitglieder der Elite trugen teure Skijacken, und ihre Gesichter verschwanden hinter ABC-Schutzmasken und Hightech-Atemgeräten; sogar die wenigen Kinder in dieser Gruppe trugen Masken und Atemgeräte, die genau an ihre Größe angepasst waren. Ihre Bediensteten – mehrheitlich Ausländer – trugen Kleider aus zweiter Hand und atmeten durch Schals oder einfache Stoffmasken, wie sie von Anstreichern benutzt werden, während sie Kinderrucksäcke und überfüllte Koffer im Auge behielten. Einige führten Hunde an der Leine.

Ein Dutzend Bewaffnete, die allesamt Masken trugen, trieben die Menge auf eine kleine Pier. Alle Blicke waren auf den Fluss gerichtet, wo ein gewaltiger Prahm, der Müll transportierte, langsam nach Süden glitt.

Der Lastkahn legte an, und Patrick erkannte das Logo der Betreiberfirma. Das Schiff gehörte der Lucchese-Familie, einem Verbrechersyndikat, das von Brooklyn aus operierte. Eine Notbesatzung vertäute den flachen Dreitausendtonner. Eine Afroamerikanerin Anfang vierzig kletterte aus dem Steuerhaus. Sie trug einen langen, schwarzen Ledermantel, passende Stiefel und eine dunkle Hose mit Tarnmuster. Eine Gasmaske bedeckte ihr Gesicht, und eine .44er Magnum steckte im Holster an ihrer schlanken Hüfte.

Sie trat auf Greg »Wonderboy« Mastroianni zu, einen Capo der Lucchese-Familie. »Ich bin Charon. Der Mitarbeiter des Senators hat arrangiert, dass wir die hohen Tiere auf Governor’s Island absetzen können. Wir müssen los. Wir haben nur zwanzig Minuten, bevor das Boot der Küstenwache zurückkommt.«

»Lasst sie an Bord … nachdem jeder die Transportgebühr bezahlt hat.«

»Ihr habt den Mann gehört. Bargeld, Juwelen, Gold – keiner kommt an Bord, ohne zu zahlen.«

Ein gut gekleideter Mann Mitte vierzig schob sich vor ein älteres Paar und öffnete einen Attachékoffer. »Hier sind 26 Millionen Dollar in Inhaberschuldverschreibungen. Das sollte mehr als genug sein, um für elf von uns und unsere beiden Au-pair-Mädchen zu bezahlen.«

Mithilfe einer Taschenlampe musterte Charon die Obligationen. »Ölgesellschaften, was? Soll mir recht sein. Okay, alter Mann, du bist der Nächste. Wie viele willst du an Bord bringen?«

Der gebrechliche Mann mit silbernem Haar und einer gefütterten Pilotenmütze war Ende siebzig. Gestützt von zwei großen Leibwächtern lehnte sich seine Frau auf eine Gehhilfe. »Wir sind etwa achtzig oder neunzig. Die eine Hälfte des Geldes wurde bereits überwiesen, die andere bekommen Sie, wenn wir sicher ankommen. Meiner Frau wurde gerade ein künstliches Hüftgelenk eingesetzt. Sorgen Sie dafür, dass sie irgendwo auf dem Schiff einen bequemen Platz erhält.«

»Sieht das in Ihren Augen wie die Queen Mary aus? Ihre Frau kann sich wie alle anderen zwischen die Abfälle setzen.«

Die Stimme des gebrechlichen Mannes klang rau und giftig. »Wie können Sie es wagen! Haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon, wer ich bin?«

Virgil zog Shep beiseite. »Wir müssen hier verschwinden. Sofort.«

»Was ist mit den Kindern? Ich habe noch immer zehn Fläschchen mit Impfstoff. Wenn ich zwei für meine Familie aufhebe, bleiben noch …«

»Versteck das Kästchen und sag kein Wort. Unsere Wege werden sich mit denen anderer Seelen kreuzen, die es mehr wert sind, gerettet zu werden.«

»Was ist, wenn ich ihnen ein paar Fläschchen gebe, die sie zu den Gesundheitsbehörden in New Jersey bringen können? Dr. Nelson hat gesagt …«

»Mach die Augen auf, Patrick. Das hier ist die Klasse der Unersättlichen. Sie haben nicht die Absicht, irgendjemanden zu retten außer sich selbst. Reich und mächtig, wie sie sind, haben sie ihr ganzes Leben in dem seligen Glauben zugebracht, dass die Welt nur da ist, um von ihnen allein beherrscht zu werden. Ihre Verdorbenheit ist wie ein Schleier, der ihnen das Licht verhüllt, ihre Gier fesselt sie an Satan. Hinter diesen Masken verbergen sich die Gesichter von Menschen, die die Pensionsfonds hart arbeitender Familien geplündert haben, obwohl sie bereits mehrere zehn Millionen Dollar an Boni einstreichen konnten. Sogar jetzt versuchen sie noch, sich mit ihrem zusammengeraubten Vermögen eine Überfahrt in die Freiheit zu verschaffen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass ihre Flucht aus Manhattan die Pest möglicherweise über die ganze Welt verbreiten könnte. Sieh sie dir genau an, mein Sohn. Sieh sie dir an und erkenne, was diese von Unersättlichkeit zerfressenen Gestalten wirklich sind.«

Patrick starrte den silberhaarigen alten Mann an, der lächerlicherweise seine Schutzmaske abgesetzt hatte, um sich mit der Schwarzen zu streiten. »Jetzt hören Sie mir mal zu. Meine Vorfahren haben dieses Land bereits regiert, als Ihre Vorfahren noch immer nackt durch den Dschungel gerannt sind. Und was dich angeht, mein sizilianischer Freund: Wer hat wohl diese kleine Exkursion, die uns aus Manhattan führen wird, arrangiert? Was meinst du? Dein Boss arbeitet für mich, genauso wie der Senator! Ohne mich würdet ihr Arschlöcher keine dreißig Meter von dieser Pier wegkommen. «

Der Mafia-Capo richtete seine Taschenlampe auf den Ausweis des alten Mannes. Dann entfaltete er ein Blatt Papier und überprüfte den Namen. »Ah, verdammt, lasst ihn durch.«

»Sorg dafür, dass ein paar von deinen Gangstern meiner Frau helfen, und dann schaff uns endlich nach Governor’s Island. Mein Privatjet wartet schon in La Guardia. Ich muss in acht Stunden in London sein.«

Plötzlich hielt der silberhaarige Mann inne, als spüre er eine fremde Präsenz. Er drehte sich langsam um und sah Patrick an …

… und seine Nachtaugen funkeln wie die einer Katze. Seine spitzen Ohren gleichen denen einer Fledermaus. Dünne Lippen ziehen sich zurück und legen faulende, gelbe Zähne frei, die sehr scharf aussehen. Die schmalen Finger enden in Klauen. Obwohl der alte Mann noch immer gebrechlich wirkt, strömt er zugleich eine große innere Kraft aus. Ein lebender Leichnam, der eher einem Reptil als einem Menschen gleicht. Eine Kreatur der Nacht.

Seine Bediensteten weichen nicht von seiner Seite. Schwärme von Wespen und Hornissen hüllen ihre Körper ein. Ihre Gesichter sind angeschwollen und blutig von den Stichen der Insekten, eine aufgenähte Einhundert-Dollar-Note versiegelt ihre Münder.

Der silberhaarige Nosferatu wendet sich mit heiserer Stimme an Shep. Seine Worte klingen wie das Zischen einer Schlange. »Wassss? Willsssst du etwassss?«

Das Gesicht von Charon, der Schwarzen, schwebt über der rechten Schulter des Vampirs. Sie lächelt Shep verführerisch an. Ihr Ledermantel ist zu einem gewaltigen schwarzen Flügelpaar geworden. Die Bewaffneten, die sie umgeben, haben sich in Neandertaler verwandelt. Ihre vorstehenden Augen unter der Gasmaske sehen aus wie die Augen von Gelbsüchtigen.

Virgil zog Shep zurück in die Menge, weg von den hungrigen, vor Bösartigkeit brennenden Blicken und außer Hörweite des Geflüsters, das ihn in der Dunkelheit verfluchte.

Es gelang ihnen, die Gegend ohne weitere Zwischenfälle zu verlassen. Dann folgten sie der verlassenen Küstenlinie, die weiß von Schnee und Hagelkörnern war.

Patrick reckte das Gesicht in den Wind, und die eiskalte Luft half ihm, die höllischen Visionen aus seinem Kopf zu vertreiben. »Der Impfstoff … Die Halluzinationen wirken so real.«

»Was hast du gesehen?«

»Dämonen und Verdammte. Fleischklumpen ohne Seele.«

»Was ich sehe, sind Kreaturen, die keine Liebe zu Gott und keinen Respekt vor anderen Menschen empfinden. Vielleicht gelingt es ihnen, den Fluss zu überqueren, doch das Gepäck, das sie mit sich führen, heißt Chaos und Dunkelheit. Sie werden ohne Reue sterben und für ihre Sünden in jener Währung bezahlen, in der das Leid gemessen wird, das sie über ihre Mitmenschen gebracht haben.«

Virgil und Patrick kauerten sich am Flussufer zusammen und beobachteten, wie die letzte Gruppe der Wartenden an Bord des Lastkahns ging, wobei die Reichen mitten in einem halben Hektar Müll ihre Koffer als Stühle benutzten. Wenige Augenblicke später setzten sich die beiden Schiffsschrauben in Bewegung. Das flache Transportschiff entfernte sich Meter für Meter von der Pier und nahm Kurs in Richtung Süden nach Governor ’s Island.

Plötzlich kam es Patrick Shepherd so vor, als laste ein gewaltiges Gewicht auf ihm, als hätte sich die irdische Schwerkraft verdoppelt und sein Blut sich in flüssiges Blei verwandelt. In einer Art von traumartigem Zustand wandte er sich nach links, seine Bewegungen waren langsam und surreal, seine Därme krampften sich vor Entsetzen zusammen.

Der Todesengel stand unweit der am Ufer anbrandenden Wellen des Hudson, seine schwarzen Flügel sahen aus wie ein schwerer, in Fetzen herabhängender Mantel. Das Wesen strömte einen uralten Moschusgeruch aus, der in Patricks Lunge drang. Wegen der Kapuze waren von seinem Profil nur die lange, dünne Nase und das spitze Kinn sichtbar. Das karge Fleisch zog sich straff über die Knochen. Die knotige Hand umklammerte den hölzernen Griff der Sense und hob die Klinge hoch in die Luft. Das Metall schimmerte in einem bizarren Spargelgrün.

Der Sensenmann sah zu, wie der Lastkahn an ihm vorüberfuhr … und grinste.



Hudson/John F. Kennedy International Airport
22:47 Uhr


Die Reaper schwebte eintausend Meter über dem Hudson. Hungrig durchdrangen ihre Nachtaugen die Dunkelheit auf der Suche nach Menschen, die versuchten, aus Manhattan zu entkommen.

Die MQ-9 Reaper war eine gut zwei Tonnen schwere unbemannte Drohne von knapp elf Metern Länge und über zwanzig Metern Spannweite, die von ihrer Bedienungsmannschaft zur Fernaufklärung, Überwachung und Gebietserkundung eingesetzt wurde. Die Reaper, mit dem Humor der Militärs benannt nach dem grimmen Schnitter Tod, dem Sensenmann, war größer und schlagkräftiger als die MQ-1 Predator; sie wurde als Jäger und Zerstörer verwendet, ihr verstärkter Rahmen war zu diesem Zweck mit Hellfire-114-Luft-Boden-Raketen, lasergesteuerten GBU-12-Paveway-II-Bomben und GBU-38-JDAM-Bomben ausgerüstet.

Mehrere Reaper waren an Bord einer C-130 Hercules auf dem JFK International Airport eingetroffen. Begleitet wurden sie von einem Dutzend Technikern, vier Bedienungsteams zu je zwei Mann, einer mobilen Einheit mit zwei neu entwickelten Bodenstationen sowie Major Rosemarie Leipply, die früher selbst eine Drohne gesteuert hatte und inzwischen als befehlshabende Offizierin die Einheit leitete.

Um eine Drohne wie die Reaper zu bedienen, brauchte man zwei Personen: einen Piloten, der die Maschine mithilfe von Aufnahmen flog, die in Echtzeit über Infrarotsensoren geliefert wurden, und einen Soldaten, der die Kameras, Sensoren und Laserwaffen der Drohne steuerte. Die Mitglieder von Major Leipplys Ausbildungsteam waren weder Angehörige von Kommandoeinheiten noch Piloten, sondern ein völlig neuer Typ von Soldaten: Sie waren als Mitglieder der Generation X äußerst geübte Videospieler, deren Reflexe und Hand-Augen-Koordination sie zu besonders aussichtsreichen Kandidaten machten, wenn es um die Bedienung ferngesteuerter Drohnen ging. Paradoxerweise war ihr Mangel an Flugerfahrung ein Vorteil.

Leipplys Musterschüler war Kyle Hanley, dessen militärische Laufbahn als typisch für die Mitglieder ihres Teams gelten konnte. Schlechte Schulnoten. Probleme im Umgang mit Aggression. Schwängerte seine Freundin mit siebzehn. Stahl ein Auto. Meldete sich bei der Army als Alternative zu einer Haftstrafe. Hielt zwei Wochen durch, bevor er sich unerlaubt von der Truppe entfernte. Wurde schließlich in ein Militärgefängnis eingeliefert, wo er bei einem Videospiel namens World of Warcraft überragende Reflexe zeigte, wodurch Major Rosemarie Leipply auf ihn aufmerksam wurde.

Kyle war der Reaper-1 zugeteilt worden, deren Sensoren er bediente. Vor ihm befand sich eine Reihe von Monitoren, von denen einige Nachtsichtaufnahmen und andere Daten von Wärmebildkameras lieferten; letztere konnten Menschen (die bekanntlich Warmblüter sind) von den eiskalten Fluten des Hudson unterscheiden. Über ein Headset gab Kyle Anweisungen an seinen Piloten Brent Foehl weiter, einen hundertdreißig Kilo schweren Riesen, der ein Trikot der Brian Dawkins Philadelphia Eagles trug. »Schon wieder zwei Jet-Skis. Zoom mit Kamera eins. Auf jedem zwei Personen. Auf einhundert Meter sinken.«

»Roger. Sinken auf einhundert Meter. Nähern uns Kurs eins-acht-null … So müsstest du ihnen den Weg abschneiden können.«

»Bordkanonen schussbereit.«

»Ziele trennen sich.«

»Ich sehe sie. Wir nehmen sie in nord-südlicher Schussrichtung. «

»Roger. Zielentfernung fünfzig Meter. Reduziere Geschwindigkeit auf vierzig Knoten. Besorg’s ihnen, Baby. Lass sie spüren, wie’s Blei hagelt.«

Auf dem schwarzen Bildschirm schnitt der weiße Geschosshagel eine tödliche Breitseite durch den ersten Jet-Ski und tötete auf der Stelle die achtundvierzigjährige Cindy Grace und ihren Ehemann Sam aus South Carolina, bevor er ihre Schwiegereltern traf. Einen Augenblick lang zeigten die Wärmebildkameras Kyle nur noch einen weißen Monitor, als der Benzintank des zweiten Jet-Skis explodierte.

»Vier weitere Bälle eingelocht.« Kyle beugte sich vor und klatschte die Hand seines Piloten ab.

»Das reicht!« Major Leipplys Magen krampfte sich zusammen. Ihre noch nicht verdaute letzte Essensration drohte, eine ganz falsche Richtung einzuschlagen. »Diese Ziele sind keine Monster in einem Videospiel oder feindliche Kämpfer, sondern Menschen. Amerikaner!«

»Wir müssen ein Spiel daraus machen, Major«, erwiderte Brent Foehl. »Glauben Sie etwa, wir könnten so etwas tun, wenn wir ernsthaft darüber nachdenken würden? «

»Wir werden versuchen, die Sache nicht auch noch zu feiern«, versprach Kyle und senkte den Kopf.

»Das wäre hilfreich, danke.« Sie warf einen Blick auf die Digitaluhr, die über ihrer Arbeitsstation hing. »Beenden Sie Ihre Schicht. Ich sehe mal nach Ihrer Ablösung.«

Kyle wartete, bis Major Leipply gegangen war. »Diese Typen sollen also keine Monster in einem Videospiel sein … Scheiß drauf, Major Heuchlerin. Komisch, dass es für sie nie ein Problem war, als wir Leute in Pakistan erledigt haben.«

»Amen, Bruder. Eddy-Baby, wie viel steht’s?«

Ed White, der die Sensoren der Reaper-2 steuerte, beugte sich aus seiner Arbeitsstation. »Ihr Arschlöcher habt noch sechs Minuten. Wir liegen noch immer vierzehn Abschüsse vor euch.«

»Ihr solltet eure Siegprämie nicht zu früh auf den Kopf hauen, mein hitzköpfiger Freund.« Brent zog die Reaper-1 steil nach oben, bevor er dem Hudson wieder in Richtung Süden folgte. »Kurs zwei sieben null. Wir wollen doch mal sehen, ob es bei den Trümmern der George Washington noch was zu holen gibt.«

Kyle beugte sich vor und flüsterte seinem Piloten zu: »Mann, der Hudson wurde bis dreiundzwanzig-null-null zur Flugverbotszone erklärt.«

»Das behauptest du. Mir hat man gesagt, dass jeder, der aus Manhattan entkommt, den Rest der Welt mit der Pest infizieren könnte. Während der nächsten halben Stunde wird niemand in die Nähe des Harlem River kommen. Und ich werde diese Wette ganz sicher nicht verlieren. Es ist mir egal, ob es sich um ein Ruderboot, einen Mann mit einem Tauchgerät oder einen Haufen Huren in einem Schlauchboot handelt. Was mich angeht, gilt: Wer sich auf den Weg macht, wird bluten.«

»Wie wahr.«

Brent änderte den Kurs der Reaper in Richtung Südwesten und folgte in einer Höhe von dreihundert Metern dem Ostufer des Hudson. Kyle musterte die vier Bildschirme über seiner Steuerkonsole. Als die Drohne die George Washington Bridge überflog, erschien eine langgezogene Kielspur auf seinem Synthetic-Aperture-Radar, das mittels Mikrowellen, die Dunkelheit und dichte Wolkendecken durchdrangen, zweidimensionale Bilder erstellte.

»Ich hab da was, Partner. Eine gewaltige Bugwelle und zwei Kielspuren. Kurs ändern auf zwei-drei-drei. Das Ziel befindet sich 3,7 Kilometer südlich der Brücke und bewegt sich mit zwölf Knoten in Richtung Süden. Viel zu groß für einen Fischkutter. Bring uns auf einhundertfünfzig Meter runter, damit ich ein paar Wärmebilder bekomme.«

Brent gab die neuen Koordinaten ein, verringerte die Geschwindigkeit der Reaper und setzte zu einem langgezogenen Sinkflug an. »Vergiss es. Das ist nur ein Frachtkahn, der Müll transportiert.«

»Ein Frachtkahn … Müll … und voller Menschen! Hey, Mann, sieh dir mal die Wärmebilder an. Wir haben eine Goldgrube erwischt!«

Ed White stand von seiner Arbeitsstation auf und sah zu den beiden hinüber. »Mädels, ihr seid vollkommen durchgeknallt. Bis dreiundzwanzig-null-null ist der Hudson eine Flugverbotszone.«

»Kümmere dich nicht um ihn, Kyle. Wie viele Personen hast du?«

Kyle warf einen Blick auf die Daten, die neben den Wärmebildaufnahmen über den Monitor liefen. »Zweihundertachtundzwanzig Personen … siebzehn Hunde und ein paar Hundert Ratten.«

»An die Waffen, Partner. Es wird Zeit, das Ungeziefer zu rösten.«

Mit rasendem Puls gab Kyle die Befehle in seine Steuerkonsole ein. »Eine Hellfire aktiviert und abschussbereit. Ich warte schon die ganze Nacht darauf, eins von diesen Babys loszulassen.«

»Noch zwanzig Sekunden. Mein Gott, tut das gut … Mach schon, Baby … Was für ein süßer Schmerz! Und los geht’s, mein Liebling. Vier … drei … zwei …«

Kyle grinste. »Es wird Zeit, das Licht in die Nacht zu tragen.«



Hudson, Manhattan, New York
22:54 Uhr


Es gab kein verräterisches Turbinengeräusch und keinerlei Vorwarnung – nur einen blendend weißen, phosphoreszierenden Ausbruch an Energie, der die Nacht zum Tag machte, gefolgt von einer donnernden Explosion, deren Hitzewelle sich in alle Richtungen über den Fluss hinweg ausbreitete.

Patrick fiel auf die Knie und bedeckte seinen Kopf. Purpurne Flecken trübten seinen Blick, und seine Trommelfelle klingelten, als die gewaltige Hitze ihn einhüllte und …

… ein Regen glühender Splitter um ihn herum niederging. Glühend heißer Müll fiel zischend in die aufgewühlten Fluten des Hudson; verkohlte Fetzen menschlichen Fleisches fielen zur Erde und brachten den Schnee um ihn herum zum Schmelzen wie verbrannte Marshmallows, die aus einem unkontrollierten Lagerfeuer herausgeschleudert werden. Erst als der Trümmerhagel aufgehört hatte, wagte er es, den Kopf zu heben und einen Blick auf die sinkende Feuerinsel zu werfen.

Im Schimmer der langsam schwächer werdenden Flammen konnte er einen weiteren Beobachter erkennen, der zu seiner Linken stand. Der Sensenmann legte seinen von der Kapuze bedeckten Kopf in den Nacken, und seine knochigen Arme breiteten den flügelartigen Mantel weiter aus, als atme das übernatürliche Wesen die Seelen der verbrannten Schiffspassagiere ein.

Langsam drehte sich der düstere Schnitter zu ihm um. Die zuvor leeren Augenhöhlen des Todes waren nun mit Hunderten flackernder Augen erfüllt. Von der geschwungenen, olivgrünen Klinge seiner Sense tropfte frisches Blut.

Es war, als stecke Sheps Kehle in einem Schraubstock. Seine Muskeln waren vollkommen erstarrt.

Ein fauliger Windstoß kühlte die durchnässte Erde. Ein purpurner Blitz schoss durch den wirbelnden Himmel.

Die Dunkelheit streckte ihre Arme nach Patrick Shepherd aus und zog ihn in die Hölle.

e9783641067113_i0016.jpg
e9783641067113_i0017.jpg
e9783641067113_i0018.jpg
e9783641067113_i0019.jpg
e9783641067113_i0020.jpg
e9783641067113_i0021.jpg