Beeinflusst die Beschäftigung mit Philosophie unser Leben mehr als, sagen wir, unser Interesse für Computertechnik oder vegetarisches Kochen? Wenn wir uns den Großteil der Berufsphilosophen ansehen, müssen wir diese Frage verneinen. Die meisten von ihnen lehren an Schulen und Universitäten, widmen sich ihrem Gegenstand mit der gleichen Distanz und Routine wie Meeresbiologen oder Anlageberater, unterhalten sich nach Feierabend mit Freunden über Fußball oder mähen ihren Rasen. Ihr Alltag und ihre Haltung zum Leben unterscheiden sich in der Regel nicht von denen anderer Menschen, die nichts mit Philosophie zu tun haben.
Das Beispiel des spätrömischen Philosophen Anicius Manlius Torquatus Severinus Boethius zeigt uns aber, in welch enge, geradezu existenzielle Beziehung die Philosophie zum Leben eines Menschen treten kann. Boethius schrieb sein berühmtestes Buch, Philosophiae Consolationis, zu Deutsch: Trost der Philosophie, zu einem Zeitpunkt, als er im Gefängnis saß und wusste, dass ihm der Tod bevorstand. In dieser Situation, in der es keine Zeit mehr zu verlieren gab und sich das Wichtige vom Unwichtigen schied, wandte er sich der Philosophie zu und machte sie zur Begleiterin, Beraterin und Gesprächspartnerin.
Dabei lässt er viele der Motive anklingen, die die antike Philosophie über tausend Jahre hinweg bestimmt hatten. Vor allem aber besinnt er sich auf ihre ursprüngliche Aufgabe: den Menschen weise zu machen und ihm Lebensorientierung zu geben. Trost der Philosophie ist nicht die theoretische Übung eines Gelehrten, der eine erzwungene Untätigkeit damit überbrückt, sich die Tradition zu vergegenwärtigen. Es ist vielmehr philosophische Praxis im ursprünglichen Sinn: der Versuch, im Angesicht des Todes die Inhalte des Denkens unmittelbar mit der Aufgabe der Lebensbewältigung zu verknüpfen.
Dies geschah, wenige Jahre bevor die berühmteste Institution der antiken Philosophie, die von Platon begründete Akademie, 529 in Athen geschlossen wurde. Die Philosophiehistoriker setzen mit diesem Datum das Ende der Antike und den Beginn der mittelalterlichen Philosophie an. Trost der Philosophie wird damit zum Schwanengesang antiker Weisheit, ein Nachruf auf eine große Denktradition und zugleich ein philosophisches Testament für die Nachwelt. Für seinen Autor enthielt es vor allem die Botschaft, dass die Philosophie es ist, die in den unberechenbaren Wechseln des Lebens bleibt und Halt gibt.
Der aus einem alten römischen Adelsgeschlecht stammende Boethius hatte solche Wechsel in seinem eigenen Leben schmerzlich erfahren. Er, den Fähigkeiten, Glück und Gunst bis in die höchsten Staatsämter trugen, beschloss sein Leben als ein zum Tode verurteilter Staatsfeind. Wie viele seiner Zeitgenossen wurde auch er in den Strudel einer turbulenten historischen Epoche hineingerissen.
Bereits Ende des 4. Jahrhunderts hatte sich das Römische Reich in einen West- und einen Ostteil gespalten. Die Geburt des Boethius um 480 fiel bereits in die Zerfallszeit Westroms. Dessen letzter Kaiser, Romulus Augustus, war im Jahr 476 von dem germanischen Heerführer Odowaker abgesetzt worden, als dieser Italien eroberte. Zur Zeit von Boethius war Rom eine Stadt, deren Glanzzeit schon Geschichte war und die inzwischen ihre Hauptstadtfunktion im Osten zugunsten von Konstantinopel und im Westen zugunsten von Ravenna verloren hatte. 493 schließlich eroberten die Ostgoten, vom nördlichen Balkan kommend, Italien und setzten sich für einige Jahrzehnte als neue Herrscher fest. Unter der Herrschaft des Ostgotenkönigs Theoderich vollzog sich der Aufstieg und Fall des Boethius.
Boethius wuchs im christlichen Glauben auf, der seit 391 im Römischen Reich Staatsreligion war. Doch die Geisteswelt der griechischen und römischen Literatur prägte seine Bildung sehr viel mehr. Schon von Jugend an beschäftigte er sich mit Philosophie. Einer langen Tradition des römischen Adels folgend, ging er zum Studium nach Athen, der alten Hauptstadt der klassischen griechischen Philosophie. Zwar hatte die Stadt ihren Status als politisches Zentrum verloren, war aber eines der wichtigsten kulturellen Zentren geblieben.
Boethius lernte hier während seines Studiums die vier einflussreichsten Philosophenschulen der Antike kennen, die alle von Athen ihren Ausgang genommen hatten: die Akademie Platons, die von Aristoteles begründete peripatetische (von griech. »peripatos«= »Wandelgang«) Schule, die Stoiker und die nach ihrem Gründer Epikur benannte epikureische Schule. Die Lehren aller vier Schulen waren durch römische Philosophen wie Cicero und Seneca an breite Bildungsschichten vermittelt worden, hatten dabei einen ausgesprochen lebenspraktischen Zug angenommen und ihre Gegensätze abgeschliffen. Allen gemeinsam war z. B. die Forderung nach einem vernunftgemäßen Leben, das die Leidenschaften unter Kontrolle hält und zwischen notwendigen und nichtnotwendigen Bedürfnissen zu unterscheiden vermag. Platoniker, Peripatetiker und Stoiker teilten zudem die Überzeugung, dass dem Kosmos eine vernunftgemäße Ordnung zugrunde liegt, in die sich der Mensch durch ein entsprechendes Leben einzufügen habe.
Das ausgesprochene Interesse des Boethius für Naturforschung verrät den Einfluss der Tradition des Aristoteles. Doch am meisten zugehörig fühlte er sich der platonischen Schule, die zu seiner Zeit vom sogenannten »Neuplatonismus« geprägt wurde. Diese auf den Philosophen Plotin (204 – 269) zurückgehende Richtung hatte ausgesprochen mystische und religiöse Züge. Wie Platon selbst ging Plotin von einer niederen materiellen und einer höherstehenden geistigen Welt aus, die für ihn in dem »Einen« gipfelte, in dem sich alle Wirklichkeit konzentriert. Je geistiger die Dinge sind, umso mehr sind sie vom Einen durchdrungen und umso wirklicher sind sie; je materieller sie sind, umso unwirklicher sind sie. Die Erkenntnis des Einen folgt einem Stufenweg, der bei den sinnlich wahrnehmbaren Dingen beginnt und bis zu einer visionären geistigen Schau fortschreitet, die nicht mehr mithilfe der Sprache beschrieben werden kann.
Das Eine hat jedoch nicht nur eine metaphysische und erkenntnistheoretische Bedeutung. Es ist gleichzeitig geistiges Prinzip der Welt und Inbegriff des moralisch Guten. Daraus entstand das für den Neuplatonismus charakteristische Verständnis des Bösen: Das Böse wird zu einem Mangel an Wirklichkeit, zu einer Entfernung von dem Einen. Es hat keinen eigenen Wirklichkeitsgehalt.
Es fiel Boethius nicht schwer, sein Christentum mit neuplatonischen Auffassungen zu verbinden. Auch der christliche Gott wurde als Inbegriff des Guten und höchste Form der Wirklichkeit verstanden. Die Abwertung der materiellen gegenüber der geistigen Welt war inzwischen schon, über den frühchristlichen Augustinus, vom Christentum übernommen worden.
Für Boethius war die Philosophie zunächst Gegenstand des Studiums und der Forschung. In einer zunehmend von germanischen Eindringlingen dominierten Welt nahm er sich vor, möglichst viel von der antiken philosophischen Tradition an die Nachwelt zu vermitteln. So wollte er das gesamte Werk des Platon und des Aristoteles ins Lateinische übersetzen. Wie viel davon er verwirklicht hat, ist uns nicht bekannt. Immerhin wissen wir, dass er die meisten logischen Schriften des Aristoteles und die zugehörigen Kommentare des Plotin-Schülers Porphyrios übersetzt hat. Auch Kommentare zu Cicero und einige christliche Traktate sind uns erhalten.
Beeindruckend ist diese philosophische Vermittlungs- und Bildungsarbeit vor allem deshalb, weil Boethius sie neben seinen politischen Ämtern betrieb. Wie die meisten Römer sah er seine Bestimmung nicht in der Lebensform des Gelehrten, sondern in der des für das Gemeinwesen engagierten Bürgers. Durch gute Beziehungen zum Ostgotenherrscher Theoderich und durch die Einheirat in eine einflussreiche römische Familie schuf er dafür die gesellschaftliche Grundlage. Bereits im Alter von 30 Jahren wurde er Konsul. Als zwölf Jahre später auch seine beiden Söhne die Konsulwürde erhielten, war Boethius auf dem Zenit seiner gesellschaftlichen Karriere angelangt. Auch in der Gunst des Ostgotenherrschers stand er nun ganz oben und stieg bis zum ersten Minister des Reichs auf.
Doch in einem sehr instabilen, von Herrschergunst und zahlreichen Intrigen bestimmten politischen Klima konnte sich Boethius nicht lange behaupten. Theoderich sah mit Misstrauen auf die römische Aristokratie. Er brauchte sie als Mitstreiter in seiner gegen Ostrom gerichteten Politik, aber er fürchtete, dass die oströmischen und weströmischen Eliten sich hinter seinem Rücken gegen ihn verbünden würden. Dazu kamen religiöse Differenzen, die sich an der damals heftig diskutierten Frage entzündeten, ob Christus nur als Mensch, nur als Gott oder als beides zugleich zu verstehen sei. Die Ostgoten bekannten sich zum sogenannten »Arianismus«, in dem Christus lediglich als Mensch und nicht als Gott angesehen wurde. Die weströmischen Christen wiederum glaubten an die Doppelnatur Gott-Mensch. Im oströmischen Reich wiederum herrschten die »Monophysiten« vor, die Christus nur als Gott ansahen. Diese Fragen, die heute kaum noch die Menschen bewegen, waren damals nicht nur von religiöser, sondern auch von hoher politischer Brisanz. Mit dem Deutungsanspruch über das Christentum war der Herrschaftsanspruch in der Tradition des alten Römischen Reiches verbunden.
Offenbar begann Theoderich den Verdacht zu hegen, Boethius paktiere mit Ostrom. Als dann Mitglieder des römischen Adels gegen Boethius intrigierten und ihn durch gefälschte Briefe belasteten, sah Theoderich die Gelegenheit gekommen, ihn fallen zu lassen. Der offizielle Vorwurf lautete nicht nur auf Hochverrat, sondern auch auf Spiritismus, ein besonders schwer wiegender Vorwurf, weil damit ein Vergehen gegen die Staatsreligion des Christentums gemeint war.
Nach allem, was wir wissen, waren sämtliche Beschuldigungen gegen Boethius falsch. Es war auch schwerlich ein Trost, dass er sich mit dieser Anklage in guter philosophischer Gesellschaft befand: Auch Sokrates war mehrere hundert Jahre zuvor beschuldigt worden, den falschen Göttern gedient zu haben. Wie dieser wurde Boethius Opfer eines politischen Prozesses: Im Jahr 524 verurteilte ihn der römische Senat zum Tode. Seine Versuche, sich zu rechtfertigen, waren erfolglos. Man verbrachte ihn zunächst in Haft, vermutlich nach Pavia, wo er in einer Art Hausarrest lebte.
In dem Jahr, das ihm nun noch bis zu seiner Hinrichtung blieb, wandte Boethius sich wiederum der Philosophie zu. Zwar hatte er sich sein Leben lang mit ihr beschäftigt, doch nun war sein Blick auf sie ein anderer geworden: Sie war kein Lehrgegenstand mehr, sondern ein Lebensgegenstand geworden. Für den Christen Boethius wurde nicht der Glaube, sondern die Tradition des antiken Denkens zum Mittel, mit dem Schicksal, das ihn getroffen hatte, fertig zu werden und sich mit der Gesamtheit seines Lebens zu versöhnen.
Trost der Philosophie ist das Ergebnis dieser existenziellen Begegnung des Boethius mit der Philosophie. Es ist ein Buch, das sich nicht nur durch seine Inhalte, sondern auch durch seine Form an die Traditionen der antiken Philosophie anlehnt. Über weite Passagen ist es als Dialog abgefasst, eine literarische Form, die viele Jahrhunderte vorher in den Schriften Platons zur Meisterschaft entwickelt worden war. Aber es enthält auch kommentierend und erläuternd eingestreute Verse und nimmt dadurch die Tradition des Lehrgedichts auf, die in der römischen Literatur in dem Epikureer Lukrez ihren bekanntesten Vertreter hatte.
Der im Buch geschilderte Dialog findet im Rahmen einer Traumvision statt. Sein Schicksal beklagend, sieht sich der auf seinem Lager ruhende Autor von den Musen, den Göttinnen der schönen Künste, umstanden. Sie werden allerdings von einer weiblichen Gestalt vertrieben, die, so Boethius, obwohl bejahrt, »von frischer Farbe und unerschöpfter Jugendkraft« ist, sodass »sie in keiner Weise unserem Zeitalter anzugehören« scheint. Es ist die Philosophie selbst, die nun als Person auftritt und im Verlauf des Buches dem Autor als Lehrmeisterin und Gesprächspartnerin gegenübertritt.
Es ist also, so wird deutlich, nicht die Dichtung, sondern die Philosophie, die uns in Zeiten höchster Not helfen kann. Mit dem literarischen Kunstgriff, die Philosophie als Person auftreten zu lassen, macht Boethius das philosophische Gespräch, das er mit sich selbst führt, für den Leser erleb- und sichtbarer. Dem schicksalsgeschlagenen, orientierungslosen Menschen tritt mit der Philosophie die Seite der Vernunft gegenüber, die die Mittel besitzt, den Geist des Menschen wieder aufzurichten.
Schon Sokrates und Platon hatten die Philosophie mit einem Arzt verglichen. So wie dieser die Gesundheit des Körpers, kann sie die Gesundheit der Seele wiederherstellen. Im Buch geht sie dabei, wie auch der Arzt, in Etappen vor. Sie wendet sich zunächst den Symptomen zu und versucht, durch milde Arzneien den unmittelbaren Schmerz zu stillen. Boethius soll zunächst lernen, sein eigenes Schicksal in einem neuen Licht zu betrachten. Er muss seine Haltung gegenüber der Welt und seine Bewertung von Ereignissen und Dingen verändern. Dass nicht die Geschehnisse das menschliche Leiden verursachen, sondern die Art, wie der Mensch sich zu ihnen stellt, war eine bekannte Doktrin der Stoiker und anderer spätantiker Philosophenschulen.
Dies ist aber nur der erste Schritt. Ab dem 3. Kapitel greift die Philosophie zu dem, was sie die »schärferen Heilmittel« nennt. Nun geht es nicht mehr nur darum, die Schmerzen zu lindern. Die Behandlung richtet sich nicht mehr auf die Symptome, sondern auf die Wurzel der Krankheit. Der Mensch soll sich über das wahre Glück klar werden und die Richtung seines Lebens ändern.
Für Boethius wie für die gesamte Antike waren das Gute und das Wahre aufs Engste miteinander verbunden. Die uns heute geläufige Trennung zwischen Fragen der theoretischen Philosophie und Fragen der praktischen Philosophie gab es für ihn nicht. Deshalb kann er das Glück nur erlangen, wenn er die Gesetze des Kosmos durchschaut und zu deren letzten Prinzipien vorstößt. Entsprechend werden in den Kapiteln 3 bis 5 nicht nur Themen der Ethik, des vernunftgeleiteten, richtigen Lebens, sondern auch komplexe Themen der Metaphysik angesprochen. Erst dann, so die Botschaft des Buches, wenn der Mensch die letzten Prinzipien der Wirklichkeit erkannt hat, ist er auch in der Lage, sein Leben in eine Übereinstimmung mit der Weltordnung zu bringen.
Mit der zunehmenden Abstraktheit seiner Themen folgt Boethius einer wichtigen Lehre der platonischen und insbesondere neuplatonischen Philosophie: dass nämlich der Erkenntnisweg des Menschen sich in Stufen vollzieht, von den unmittelbaren Wahrnehmungen der Welt bis zu dem höchsten göttlichen Prinzip, von dem alles seinen Ausgang nimmt. Wie Sokrates und Platon, so glaubt auch Boethius, dass das Wissen über die höchsten Dinge schon im Menschen schlummert und durch die Kunst der philosophischen Argumentation geweckt werden kann. Für dieses Bewusstwerden des Wissens benutzt er ein Bild, das Platon in seinem Hauptwerk Der Staat in seinem berühmten Höhlengleichnis verwendet hatte. Der Mensch müsse, so Boethius im 4. Buch, seine »an Finsternis gewöhnten Augen zum Lichte einleuchtender Wahrheit erheben«. Die Erlangung philosophischer Erkenntnis gleicht dem Austritt aus dem Schattenreich ins Licht der Sonne.
Obwohl die Tradition der platonischen Philosophie die Argumente des Boethius am stärksten beeinflusst hat, bleibt er doch, wie viele römische Philosophen, ein Eklektiker, d. h. jemand, der die Einflüsse verschiedener philosophischer Schulen miteinander vermischt. Dazu gehören neben denen der aristotelischen Philosophie auch solche der Lebensphilosophie der Stoiker und Epikureer, selbst wenn Boethius im 1. Buch abfällig vom »stoischen und epikureischen Pöbel« spricht. Spuren der spätantiken Philosophenschulen finden sich besonders in den ersten beiden Kapiteln, in denen die »Philosophie« ihn auffordert, sich von weltlichem Glück und Erfolg nicht beeindrucken zu lassen. Fortuna, die Macht, die unser Leben beeinflusst und die im Lateinischen sowohl Glück als auch Schicksal bedeuten kann, ist wankelmütig, die Vernunft hingegen konstant.
Die »Philosophie« erinnert den klagenden Boethius entsprechend daran, dass er, aufgrund seiner langjährigen philosophischen Studien, eigentlich alle Mittel an der Hand hätte, um seine Lebenssituation zu meistern. Ein Blick auf Philosophenschicksale wie das des Sokrates, der von den Athenern zum Tode verurteilt wurde, und das von Seneca, der von Nero zum Selbstmord gezwungen wurde, hätte ihm den wahren Charakter der Fortuna vor Augen führen können. Schon in Trost der Philosophie finden wir den uns heute noch bekannten Vergleich der Fortuna mit einem Rad, das sich dreht und den Menschen nach oben heben, aber auch nach unten stürzen kann. Über das Schicksal und damit über das weltliche Glück hat der Mensch keine Macht: Ein gutes Schicksal ist kein Verdienst und ein schlechtes keine Schuld.
Mit der Überzeugung, dass jeder Mensch nach Glück strebt, greift Trost der Philosophie auf die Ethik des Aristoteles zurück. Auch für diesen war das wahre Glück an die Vernunftnatur des Menschen gebunden. Wer es erreichen will, muss sich also über seine wahre Natur im Klaren sein. In der mangelnden Erkenntnis der eigenen Natur, in der mangelnden Selbsterkenntnis also, liegt auch nach Meinung der philosophischen Lehrerin der Grund für den beklagenswerten Zustand ihres Schützlings. Entfremdung von der eigenen Natur, also die Abkehr von der Vernunftbestimmtheit, führt zum Streben nach falschen Werten und Gütern. Die Therapie liegt entsprechend in der Selbsterkenntnis und einer Neuausrichtung der eigenen Werte.
Als ein vernunftbegabtes Wesen kann Glück für den Menschen nur in einem Gut liegen, in dem die Vernunft ihre Anlagen verwirklicht und Erfüllung findet. Es muss ein geistiges Gut sein, der geistigen Natur der Vernunft entsprechend; es muss ein dauerhaftes Glück sein, das nicht den Wechselfällen des Lebens unterworfen ist; und es muss vollkommen sein in dem Sinne, dass es nicht Begehrlichkeiten nach noch mehr oder nach etwas anderem weckt. Dies alles ist bei unseren üblichen Glücksgütern wie Macht, Reichtum und Ruhm nicht der Fall. Sie wecken vielmehr unsere Gier und führen letztlich zum Katzenjammer. Nicht sie sind es, die uns einen Zustand des dauerhaften und wunschlosen Glücks verschaffen. Es ist eher umgekehrt: Gerade das, was wir normalerweise Unglück nennen, hilft uns, zur Selbstbesinnung und zur Selbsterkenntnis zu kommen, und ebnet uns dadurch den Weg zum wahren und dauerhaften Glück.
Diese wahre Glückseligkeit, die keine Stimulation braucht und auch keine Nachwehen hat, die sich selbst genügt, vollkommen, einfach und ungeteilt ist, liegt in nichts anderem als dem, wonach alles in Wahrheit strebt. Boethius nennt es »Gott«. Es ist, in neuplatonischer Tradition, das »Gute« und das »Eine«, das höchste Gut, die höchste Glückseligkeit und gleichzeitig die höchste Form der Wirklichkeit.
Boethius ruft diesen Gott an als »Schöpfer des Himmels und der Erden« und weckt damit Vorstellungen, die wir mit dem christlichen Gott verknüpfen. Doch sein Gott erschafft die Welt nicht aus dem Nichts. Wie fast alle Philosophen der Antike glaubt auch Boethius, dass der Kosmos ewig ist und dass aus »nichts« nichts entstehen kann. Sein Gott ist, wie es im Buch heißt, »selbst nimmer bewegt, bewegend das Weltall« und das »All vom Urbild her« leitend. Er ist kein persönlicher Gott, sondern – in Anlehnung an den »unbewegten Beweger« in der Metaphysik des Aristoteles, an die Idee des Guten in der Philosophie Platons und an das »Eine« Plotins – ein kosmologisches Prinzip, das die Welt schafft, indem er als Urbild und Zielpunkt aller Wirklichkeit den gesamten Kosmos in Bewegung hält und ihm eine Art »Wirklichkeitsenergie« verleiht. Der Mensch ist durch seine Vernunft fähig, sich auf dieses göttliche Wirken auszurichten und sich mit ihm in Einklang zu setzen. Darin besteht die Verwirklichung seines Glücks. Es ist, so könnte man sagen, ein Glück, das in der Kontemplation der ewigen kosmischen Gesetzmäßigkeit liegt. Wie Plotin und die Neuplatoniker glaubte auch Boethius, dass durch eine solche Teilhabe am göttlichen Wirken auch der Mensch göttlich wird.
Mit der Identifizierung von »Glück« und »Gott« wird die Verbindung zwischen Ethik und Metaphysik offensichtlich. Deshalb sind auch im anschließenden Verlauf des Zwiegesprächs zwischen Boethius und der Philosophie ethische und metaphysische Fragen eng miteinander verschränkt. Sie alle umkreisen das Problem, wie dieser vollkommene Gott mit unserer Erfahrung der Welt in Übereinstimmung zu bringen ist, ein Problem, das die monotheistischen Religionen wie Judentum, Christentum und Islam bis heute beschäftigt. Dazu gehört das sogenannte »Theodizee«-Problem (von griech. »theos« = Gott und griech. »dike« = Recht), das Problem also, wie sich die Idee eines allmächtigen und guten Gottes mit der Realität des Bösen in der Welt vereinbaren lässt. Eigentlich müsste ein solcher Gott das Böse verhindern. Wenn er kann, aber nicht will, ist er kein guter Gott. Wenn er will, aber nicht kann, ist er nicht allmächtig.
Hier bietet das Buch eine typisch neuplatonische Lösung an: Das Böse hat nämlich, im strengen Sinne des Wortes, gar keine eigene Wirklichkeit. Wirklich im eigentlichen Sinne ist nur das, was von Gott durchdrungen ist. Für Boethius gibt es also zwei verschiedene Arten des Seins: die eigentliche Art, die in Übereinstimmung mit der Weltvernunft steht; und eine negative Art, die in der Entfernung von Gott als der wahren Wirklichkeit besteht. Das Böse, das wie alles nach der göttlichen Wirklichkeit strebt, hat sich im Weg geirrt und ist vom Pfad der Weltvernunft abgewichen. Es existiert im »eigentlichen« Sinne nicht, weil, wie Boethius im 4. Buch schreibt, dasjenige aufhört zu sein, »was vom Guten abfällt«. Das Böse ist nichts anderes als eine negative Art des Seins, ein »Nicht-Sein«. So kommt das Buch zu der zunächst befremdlichen, aber in der Argumentation konsequenten Auffassung, dass »alles, was ist, offenbar auch gut ist«.
Ist in der Welt also alles vorausbestimmt und geregelt? Sitzt der Mensch in einem Netz, das von Gott schon längst festgezurrt ist? Damit ist man beim Problem der göttlichen Vorsehung und des Determinismus, also der Auffassung, dass alles, was geschieht, der Gesetzmäßigkeit von Ursache und Wirkung unterliegt und es daher auch keine Willensfreiheit des Menschen gibt, die diese festgefügte Kette von Ursache und Wirkung durchbrechen könnte. Wie können wir dann aber, so der Einwand des Boethius, für unsere Handlungen moralisch verantwortlich sein? Und warum, so ein weiterer Einwand, geht es in einer Welt, in der Gott alles zum Besten bestellt hat, vielen Schurken so gut und vielen moralisch guten Menschen so schlecht?
Die Antwort der »Philosophie« besteht darin, wiederum zwei verschiedene Arten von Wirklichkeit voneinander zu unterscheiden:, die Wirklichkeit Gottes und die Wirklichkeit des Menschen. Mit anderen Worten: Gott spielt in einer anderen Liga. Er lebt nicht in der Zeit, sondern in der Ewigkeit. Für ihn gibt es streng genommen gar keine »Vorsehung«, denn die Trennung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist bei ihm aufgehoben. Er »sieht« nichts »voraus«, weil es für ihn kein Voraus gibt, sondern nur eine Gegenwart, in der alles gleichzeitig ist. Göttliches Wissen kann keine »Ursache« von Geschehnissen sein, weil Gott außerhalb der zeitlichen Abfolge von Ursache und Wirkung steht. Deshalb schließt die göttliche Vorsehung die Willensfreiheit des Menschen nicht aus. Nur für uns Menschen, für die sich die Wirklichkeit als zeitlicher Ablauf darstellt und deshalb immer nur bruchstückhaft erfahrbar ist, sieht es so aus, als sei das göttliche Wissen mit der Determination der Ereignisse verbunden. Unser Begriff des Vorauswissens denkt notwendigerweise immer die zeitliche Dimension – und damit den Bezug zur Zukunft – mit.
Diese Version der sogenannten »Zwei-Welten-Theorie«, dass menschliche Erkenntnis in den Anschauungsformen von Zeit und Raum befangen und uns die Welt jenseits davon, die Welt des »Dings an sich«, verborgen bleibt, hat sich noch bis zu Kants Kritik der reinen Vernunft im 18. Jahrhundert erhalten.
Dass die menschliche Vernunft nicht die Zusammenhänge durchschaut, die für das göttliche Auge offenbar sind, gilt nach Boethius auch für das Verständnis der Tatsache, dass es schlechten Menschen scheinbar gut und guten scheinbar schlecht geht. Wir verstehen nicht, weil wir nicht, wie Gott, alles sehen. Im Gegensatz zu Gott bleibt der menschlichen Vernunft verborgen, welchen moralischen Stellenwert die Handlungen der Menschen innerhalb des großen Ganzen wirklich haben. Dem Menschen bleibt gewissermaßen nur der Seufzer: Wer weiß, wozu es gut ist! Er muss, so Boethius am Ende des Buches, der Gerechtigkeit Gottes vertrauen und gleichzeitig anerkennen, dass ihm die göttliche Perspektive unerreichbar ist: »Es bleibt, alle Dinge von oben überblickend, ein vorauswissender Gott, und die immer gegenwärtige Ewigkeit seines Schauens trifft mit der zukünftigen Beschaffenheit unseres Handelns zusammen, den Guten Belohnungen, den Bösen Strafen austeilend.«
Boethius starb 525. Das Todesurteil wurde vollstreckt, indem man ihn im Gefängnis erdrosselte. Wir wissen nicht, wie weit ihm sein Gespräch mit der Philosophie geholfen hat, sich mit seinem Leben zu versöhnen und auf den Tod vorzubereiten. Trost der Philosophie jedenfalls hat, wie kaum ein anderes philosophisches Werk der Antike, in das frühe Mittelalter wie ein strahlendes Licht aus einer versunkenen Epoche gewirkt. Es markiert das Wegende einer Denkepoche, wurde aber auch zu einer Brücke zwischen römisch-hellenistischem und mittelalterlichem Denken. Für alle großen Philosophen des Mittelalters blieb Boethius Pflichtlektüre.
Die von Boethius aufgeworfenen Probleme, wie das der Vereinbarkeit gesetzlicher Vorherbestimmtheit mit der Freiheit des menschlichen Willens, haben die Diskussion aber noch viel länger bestimmt. Sie wurden vor allem von Denkern aufgegriffen, denen es, wie dem spätmittelalterlichen Kardinal Nikolaus von Kues oder dem Aufklärer Immanuel Kant, darum ging, die Grenzen und Widersprüche menschlicher Erkenntnis aufzuzeigen.
Doch seine Wirkung bis in die Gegenwart hinein verdankt Trost der Philosophie vor allem der Überzeugung, dass das Leben und nicht der Schreibtisch der Ernstfall der Philosophie ist.
Ausgabe:
Boethius: Trost der Philosophie. Übersetzt von Ernst Gegenschatz und Olof Gigon. Mit einem kleinen Nachwort von Kurt Flasch. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2005.