Offenbarungseid des Fortschritts

Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (1944)

Zu den unverwüstlichen Mythen der Menschheit gehört die Geschichte vom verlorenen Paradies. In der jüdischen und christlichen Tradition wird sie im ersten Buch des Alten Testaments erzählt. Der strenge und machtbewusste alttestamentarische Gott vertreibt Adam und Eva aus dem Garten Eden, weil sie vom verbotenen Baum der Erkenntnis gegessen haben. Dieser Sündenfall markiert das Ende ihrer Unschuld. Die Menschen haben, so könnte man sagen, sich aus der Natürlichkeit des instinktgeleiteten Verhaltens gelöst und sind sich eines brisanten Werkzeugs bewusst geworden: der Vernunft. Natur und Vernunft treten auseinander. Zum alten Zustand gibt es nun kein Zurück mehr. Engel mit flammendem Schwert bewachen das Paradies, das den Menschen von nun an verwehrt ist.

Der Sündenfall hat bis heute auch die Philosophen beschäftigt, vor allem diejenigen, die sich die Frage stellten: Was ist seitdem aus der Menschheit geworden? Wie haben die Menschen ihre Vernunft genutzt? Die Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hat darauf eine niederschmetternde Antwort gegeben: Statt sich mit der Natur neu zu versöhnen, hat die Vernunft sich selbst verraten und ist zum Instrument der Unterdrückung des Menschen und der Vergewaltigung der Natur geworden. Der Mensch hat sich die Natur, im schlechten Sinn des Wortes, »untertan gemacht«. Vernunft, Aufklärung, Fortschritt: Das, was dem Glück der Menschheit dienen sollte, ist zum Instrument ihres Unglücks geworden. Die Dialektik der Aufklärung enthält den Offenbarungseid des Fortschritts. Dessen Bilanz fällt vernichtend aus: »Die vollends aufgeklärte Erde«, so heißt es am Beginn des Buches, »strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.«

Horkheimer und Adorno liefern die Theorie zu einer These, die ihr philosophischer Weggefährte Walter Benjamin kurze Zeit zuvor beim Betrachten des Bildes »Angelus Novus« von Paul Klee aufgestellt hatte. Klees »Neuer Engel« ist für Benjamin der »Engel der Geschichte«, der die Folgen des menschlichen Sündenfalls besichtigt. »Er hat«, so Benjamin, »das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«

Wie der »Angelus Novus« betrachten Horkheimer und Adorno das Trümmerfeld, das der Sturm des Fortschritts hinterlassen hat. In Anlehnung an die Kritik des Kapitalismus bei Karl Marx beschreiben sie den Menschen als ein ausgebeutetes und geknechtetes Wesen, das zu einer handelbaren Ware heruntergekommen ist. Deshalb sehen viele in der Dialektik der Aufklärung bis heute die brillanteste Form der marxistischen Gesellschaftskritik, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat.

Doch dieser Marxismus enthält einige reichlich unmarxistische Zutaten. Ganz im Sinne von Benjamin, aber im Gegensatz zur Fortschrittsgläubigkeit der marxistischen Gründerväter Marx, Engels und Lenin, vertritt das Buch eine pessimistische Geschichtsphilosophie, die von religiösen Untertönen begleitet wird. Nicht zufällig spielen Horkheimer und Adorno immer wieder auf das uralte Thema des Sündenfalls und des verlorenen Paradieses an. Der eigentliche Sündenfall, von dem die destruktive Kraft des Fortschritts ihren Ausgang nahm, fand für sie aber bereits vor dem Fehltritt Adams und Evas statt. Denn schon die Figur eines Gottes, der mit Hilfe seiner Engel Herrschaft ausübt und den Menschen ein bestimmtes Verhalten im Paradies verbietet, ist für sie Symptom einer auf Unterwerfung aufbauenden, gegen die Natur organisierten Zivilisation: »Der Engel mit dem feurigen Schwert«, so schreiben sie, »der die Menschen aus dem Paradies auf die Bahn des technischen Fortschritts trieb, ist selbst Sinnbild solchen Fortschritts.«

Dieser fehlgeleitete Fortschritt ist auch nicht durch die Forderung der Aufklärung, den Menschen mündig zu machen, in eine richtige Richtung gelenkt worden. Im Gegenteil: Aus dem aufklärerischen Programm, so die These des Buches, ist eine neue Art Knechtschaft entstanden. Die Aufklärung habe sich zum »totalen Betrug der Massen« gewandelt. Dabei sei sie nicht am Widerstand ihrer Gegner gescheitert, sondern an den Tendenzen, die in ihr selbst angelegt waren. Genau dies meinen die beiden Autoren mit »Dialektik«: eine Bewegung, die aus sich selbst heraus Kräfte und Entwicklungen hervorbringt, die ganz im Gegensatz zur ursprünglichen Richtung dieser Bewegung stehen. Der Mensch war angetreten, um sich von den Fesseln der Naturkräfte und mythischen Weltdeutungen zu befreien: In diesem Projekt, so Horkheimer und Adorno, war von vorneherein der Wurm drin. Der Mensch habe sich zum Herrscher der Dinge aufschwingen wollen und sei in der Folge selbst zu einem beherrschten Ding geworden.

Die Dialektik der Aufklärung ist deshalb mehr als Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik: Sie ist umfassende Zivilisationskritik. Aus diesem Grund setzen Horkheimer und Adorno ihre Akzente auch etwas anders als Marx. Wo dieser die ökonomische Ausbeutung des Menschen in den Mittelpunkt gestellt hatte, schenken sie den kulturellen Äußerungen der Gesellschaft besondere Aufmerksamkeit.

Mit der Welt der Kultur waren Horkheimer und Adorno ohnehin sehr viel intimer vertraut. Beide entstammten dem Milieu des wohlhabenden deutsch-jüdischen Bürgertums. Horkheimer, 1895 geboren, sollte ursprünglich die Baumwollfabrik seines Vaters in Stuttgart-Zuffenhausen übernehmen, der acht Jahre jüngere Adorno wuchs als Sohn eines Frankfurter Weinhändlers und einer bekannten, ehemals kaiserlichen Hof-Opernsängerin auf.

Beide erhielten ihre philosophische Ausbildung an der Frankfurter Universität. »Teddy« Adorno, wie ihn seine Freunde nannten, war allerdings eine Doppelbegabung. Lange Zeit hatte er seine Zukunft in der Musik gesehen. Er trat als ein glänzender Pianist und sehr begabter Komponist hervor. Mitte der 20er Jahre, nach seiner Promotion in Philosophie, studierte er in Wien noch Klavier und Komposition. Vor allem machte er sich sehr früh als Musikkritiker einen Namen. Seine Vorliebe galt der avantgardistischen Musik Arnold Schönbergs und Alban Bergs.

Adornos Denken und Schreiben wurde zeitlebens von den Erfahrungen und Anschauungen beeinflusst, die er in der Auseinandersetzung mit der modernen Musik erworben hatte. Seine Vorliebe für die »fortschrittliche« neue Musik, die sich von alten Formen gelöst hatte, führte ihn auch zum Marxismus als der, wie viele Intellektuelle es sahen, »fortschrittlichen« Philosophie der Moderne. Hin- und hergerissen zwischen Philosophie und Musik, entschied er sich Ende der 20er Jahre endgültig für die Philosophie als Hauptberuf. Nach seiner Habilitation 1931 lehrte er an der Frankfurter Universität, bis ihm die Nazis zwei Jahre später die Lehrbefugnis entzogen.

Zu dieser Zeit war Horkheimer bereits Leiter des berühmten Frankfurter Instituts für Sozialforschung, ein 1924 gegründetes und von einer privaten Stiftung finanziertes Forschungsinstitut, das aber an die Frankfurter Universität angebunden war. Die Mitarbeiter des Instituts waren weltanschaulich vom Marxismus geprägt. Sie strebten eine Theorie der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft an, die wissenschaftlich auf dem neuesten Stand war und aktuelle Ergebnisse verschiedener Teilwissenschaften wie Soziologie, Philosophie, Ökonomie oder Psychologie einbezog. Durch die interdisziplinäre Ausrichtung des Instituts sollte die Trennung der Teilwissenschaften, aber auch die einseitige Ausrichtung des Marxismus auf ökonomische Zusammenhänge überwunden werden. So spielte etwa die Psychoanalyse Sigmund Freuds, von orthodoxen Marxisten immer mit scheelem Blick betrachtet, in den Arbeiten des Instituts eine große Rolle. Ziel war die Ausarbeitung einer »Kritischen Theorie«, die sowohl Analyse als auch Kritik der Gesellschaft, sowohl theoretische Erklärung als auch Teil des politischen Kampfes gegen kapitalistische Ausbeutung sein sollte. Mit der Zeitschrift für Sozialforschung schuf sie sich ihr eigenes Forum und Publikationsorgan. Das Frankfurter Institut für Sozialforschung wurde zur Wiege der neomarxistischen Frankfurter Schule.

Horkheimer wurde bereits 1930, kurz nach seiner Berufung auf den Frankfurter Lehrstuhl für Sozialphilosophie, zum Direktor des Instituts gewählt. Während Adorno ein eher praxisferner Schöngeist war, blieb Horkheimer zeitlebens der dominante »Macher« des Instituts, ein einflussreicher Organisator, bei dem alle Fäden – auch die zwischen den Mitarbeitern – zusammenliefen. Walter Benjamin, Ernst Bloch und Herbert Marcuse – später allesamt illustre Namen – gehörten dem Institut an.

Das Institut für Sozialforschung wurde bereits 1933 von den neuen Machthabern geschlossen. Klugerweise hatte man schon vorher das Stiftungskapital im Ausland angelegt und konnte somit die Arbeit außerhalb Deutschlands fortsetzen. Das einzige Land, das dem Institut großzügige Arbeitsmöglichkeiten bot und ihm zugleich auch Räumlichkeiten zur Verfügung stellte, waren die Vereinigten Staaten, die Hochburg des von Horkheimer und Adorno so kritisierten Kapitalismus. 1934 bezog das Institut auf dem Gelände der Columbia University in New York City sein neues Domizil. Adorno siedelte erst 1938, nach einem Zwischenaufenthalt an der Universität Oxford, in die USA über und wurde noch im selben Jahr offiziell von Horkheimer in das Institut aufgenommen. Fortan arbeiteten beide eng zusammen.

Horkheimer und Adorno, zwei klassische europäische Bildungsbürger mit professoralem Auftreten und Selbstverständnis, taten sich mit ihrem Gastland schwer. Sie erhielten zwar Forschungsaufträge, doch in den Vereinigten Staaten waren diese sehr viel enger mit kommerziellen Interessen verbunden als in Europa. Und die Amerikaner verstanden unter soziologischer Forschung vor allem empirische Feldforschung und keine theoretischen Spekulationen – eine Auffassung, die Horkheimer und Adorno, die sich beide als Theoretiker der Gesellschaft verstanden, befremdete. Immerhin ging aus der empirischen soziologischen Arbeit während des Exils die Studie Autoritäre Persönlichkeit hervor, die später im Nachkriegsdeutschland noch eine große Wirkung entfalten sollte.

In einem Aufsatz von 1937, Traditionelle und Kritische Theorie, erläutert Horkheimer, was Gesellschaftstheorie seinem Verständnis nach sein sollte. Das entscheidende Merkmal der Kritischen Theorie sieht er darin, dass sie ihren Gegenstand, die Gesellschaft, nicht einfach beschreibt, sondern ihre Strukturen auch im Sinne einer Befreiung des Menschen von Ausbeutung deutet. Es sind Strukturen, die von Menschen gemacht sind und damit veränderbar bleiben. »Die kritische Anerkennung der das gesellschaftliche Leben beherrschenden Kategorien«, so schreibt Horkheimer, »enthält zugleich seine Verurteilung.« Die Kritische Theorie ist also mehr als eine statistische Erhebung von Daten: Sie ist Gesellschaftskritik. Anders als der traditionelle Marxismus sieht sie die Befreiung von Ausbeutung jedoch nicht mehr an die Aktivität einer bestimmten sozialen Schicht oder Klasse gebunden. Die Kritische Theorie glaubt also, im Gegensatz zu Karl Marx, nicht mehr an die historische Mission der Arbeiterklasse.

Auch zur amerikanischen Unterhaltungs- und Medienlandschaft hatten die beiden Alteuropäer keinerlei Zugang. Vor allem Adorno mit seinem strengen Verständnis von Kunst konnte sich überhaupt nicht mit dem Kino, der Musik des Jazz oder dem Varieté anfreunden. Er sah darin ein Verdummungsspektakel für die Massen. Schon 1936 hatte er in einem Aufsatz Über Jazz die Jazzmusik als musikalische Konfektionsware charakterisiert, deren scheinbare Spontaneität in Wahrheit stereotypen Mustern folgt. Durch diese Erfahrungen und Wahrnehmungen prägte sich der Begriff der »Kulturindustrie« aus, der in der Dialektik der Aufklärung eine so große Rolle spielen sollte.

1940 siedelte Horkheimer von New York nach Kalifornien um. Adorno folgte ihm kurze Zeit später. Die Gegenwart, auf die beide blickten, gab keinerlei Anlass zu Optimismus. Der Zweite Weltkrieg befand sich auf seinem Höhepunkt und legte eine Spur der Zerstörung durch Europa. Freiheit, Demokratie und politische Selbstbestimmung befanden sich überall in der Defensive: Die totalitären politischen Systeme des Faschismus und Stalinismus führten die Unterdrückung des Menschen einem neuen Höhepunkt zu.

Vor diesem Hintergrund entstand, von 1941 an, im kalifornischen Exil das Manuskript der Dialektik der Aufklärung, eines der ganz wenigen Werke der Philosophiegeschichte, bei dem zwei Denker gleichberechtigte Autorschaft beanspruchen können. Manche Teile diktierten beide Autoren gemeinsam Zeile für Zeile, andere wurden jeweils von Adorno oder Horkheimer alleine geschrieben. 1944 schließlich war das Manuskript abgeschlossen.

Der Untertitel »Philosophische Fragmente« verweist darauf, dass die Autoren nicht den Anspruch erheben, ein ausgearbeitetes philosophisches System vorzulegen. Der Begriff »Fragmente« trifft aber, streng genommen, nur auf den letzten Teil des Werks zu, in dem unter dem Titel »Aufzeichnungen und Entwürfe« kurze Prosastücke zu unterschiedlichen Aspekten von Kunst, Gesellschaft und Philosophie versammelt sind. Ansonsten handelt es sich um fünf größere Essays, die aus unterschiedlicher Perspektive die negative Entwicklung der menschlichen Zivilisation analysieren.

In die Dialektik der Aufklärung fließen die unterschiedlichsten theoretischen Ansätze ein. Zahlreiche Begriffe und die oft sehr verschachtelte Sprache entstammen der Tradition der Hegel’schen Philosophie, von der auch Marx geprägt war. Von Marx selbst wird vor allem die These übernommen, dass in der modernen kapitalistischen Gesellschaft alle Beziehungen, sowohl die zwischen den Menschen als auch die zwischen Menschen und Dingen, zu reinen Warenbeziehungen verkommen sind, die unter dem Gesetz des Tauschwerts stehen. Ergänzt wird die marxistische Analyse durch Erkenntnisse aus der Psychoanalyse Sigmund Freuds. So hatte Freud die Formen analysiert, in denen die menschliche Rationalität der Triebunterdrückung und Triebkontrolle dient. Horkheimer und Adorno übernahmen aber auch Thesen des Soziologen Max Weber, der die Entwicklung der westlichen Gesellschaften als zunehmende »Rationalisierung« beschrieben hatte, als einen Prozess der »Entzauberung der Welt«, bei der bildliche oder mythische Formen der Welterklärung durch abstraktere Erklärungsmuster abgelöst werden.

Horkheimer hatte zudem früh die Philosophie Arthur Schopenhauers kennen gelernt und war von dessen Pessimismus und dessen Skepsis gegenüber der Rolle der Vernunft beeinflusst worden. In einem parallel zur Dialektik der Aufklärung entstandenen, 1947 unter dem englischen Titel Eclipse of Reason erschienenen Werk, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, nimmt diese Skepsis bereits eine radikale Form an. »Im Augenblick ihrer Vollendung«, so schreibt Horkheimer dort, »ist Vernunft irrational und dumm geworden.« Diese Formulierung beinhaltet auch eine der wichtigsten Thesen der Dialektik der Aufklärung, nämlich die, dass der Gebrauch dieser »dummen« Vernunft die Menschen in einen »Verblendungszusammenhang« verstrickt hat. Die scheinbar aufgeklärte Menschheit ist in Wahrheit unaufgeklärt: Sie ist sich über ihre wahre gesellschaftliche Rolle nicht im Klaren.

Dem soll die Dialektik der Aufklärung als »Ideologiekritik« entgegentreten, d. h. als Versuch, Deutungen der Vernunft, die sich auch in philosophischen oder wissenschaftlichen Theorien niederschlagen, auf ihre wahre Funktion hin zu »enttarnen«. Es gibt eine Oberflächenbedeutung von Theorien, die sich aus ihren eigenen Formulierungen und Ansprüchen ergibt. Dem steht jedoch häufig ihre wahre »ideologische« Funktion entgegen, die sich aus ihrer objektiven gesellschaftlichen Rolle, aus ihrer Bedeutung für die Emanzipation des Menschen herleitet. So wird auch die scheinbar objektive Wissenschaft zur »Ideologie«, zu einem theoretischen Herrschaftsinstrument. Die wichtigste These des Buches, dass nämlich die sogenannte »aufklärerische Vernunft« in Wahrheit Entfremdung und Unterdrückung des Menschen befördert hat, ist deshalb eine ideologiekritische These. Die aufklärerische Vernunft ist für Horkheimer und Adorno in Wahrheit »instrumentelle Vernunft«, sie ist ein Werkzeug der Herrschaftssicherung.

Auch der Umgang mit der Sprache steht bei Horkheimer und Adorno unter ideologiekritischer Beobachtung. Wenn die Dialektik der Aufklärung den Leser vor einige sprachliche Probleme stellt, so ist dies nicht unbeabsichtigt. Denn Adorno und Horkheimer misstrauen einer glatten, klaren Sprache, die bei ihnen im Verdacht steht, »eingeschliffen« und »abgegriffen« zu sein und damit im Dienst der instrumentellen Vernunft zu stehen. Sie wird dadurch zu einem ideologischen Mittel der Verdunkelung. »Die falsche Klarheit«, so schreiben sie in ihrem Vorwort, »ist nur ein anderer Ausdruck für den Mythos.« Die schwierige, z. T. metaphorische Sprache signalisiert deshalb ein Stück Widerstand gegen die »Instrumentalisierung« der Sprache in Händen der Macht. Aus den gleichen Gründen genießt auch die Kunst, vor allem die schwierige avantgardistische Kunst, bei beiden eine so hohe Wertschätzung. Auch sie enthält, indem sie sich gegen einfache Deutungen und Vereinnahmungen sperrt, ein Widerstandspotenzial.

Der erste Essay des Buches, »Begriff der Aufklärung«, vollzieht die für das Buch charakteristische Umdeutung und Erweiterung des Begriffs »Aufklärung«. Die Aufklärung als Epoche und Programm meint normalerweise eine in Westeuropa im späten 17. und 18. Jahrhundert entstandene philosophische Bewegung, die die Emanzipation und Mündigkeit des Menschen, die Abkehr von der Dunkelheit des Aberglaubens und die Hinwendung zum Licht der Vernunft einfordert. Sie richtete sich sowohl gegen die weltliche Herrschaft des Absolutismus als auch gegen die geistige Herrschaft der Kirche. Philosophen wie Voltaire, Lessing oder Kant sahen in der Vernunft noch ganz unbefangen ein Medium der Befreiung.

Für Adorno und Horkheimer dagegen ist die Aufklärung des 18. Jahrhunderts lediglich Teil einer jahrhundertealten Entwicklung, in der sich der Mensch von der Naturabhängigkeit, von Magie, Zauber und unentrinnbarem Schicksal befreien wollte – und dabei das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hat. Er hat sich zwar von der Herrschaft der Natur gelöst, dabei aber die Natur und schließlich sich selbst zu einer verfügbaren Sache gemacht. Auch lässt sich der Unterschied zwischen rationaler Aufklärung und irrationalem Mythos nicht aufrechterhalten. Schon die frühen Mythen sind »Aufklärung« in dem Sinne, dass auch sie »Erklärungen« der Natur und der Welt liefern und diese damit zum Objekt gemacht haben. Andererseits bleibt die Aufklärung dadurch Mythologie, dass sie den Menschen in neue Formen des schicksalhaften Zwangs versetzt, indem sie die Vernunft zu einem neuen Herrschaftsinstrument macht. »Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen«, so heißt es in dem Buch, »so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte sich tiefer in Mythologie.«

Die gesamte neuzeitliche Naturwissenschaft, ja schon die Bemühungen der frühantiken Dichter und Denker sind für Horkheimer und Adorno Teil eines Prozesses, bei dem das Begreifen der Welt immer einhergeht mit einer zunehmend »nivellierenden Herrschaft des Abstrakten« und einem Verlust von Humanität. Alles wird auf Berechenbarkeit hin reduziert. Was Max Weber die »Entzauberung der Welt« nannte, wird hier durchweg negativ gedeutet und als »Verdinglichung« bezeichnet. Alles wird zum Ding unter der Herrschaft einer berechnenden Vernunft. Höhepunkt dieser Entwicklung ist die moderne kapitalistische Warengesellschaft, in der Rationalität nur noch die Funktion hat, möglichst effektive Mittel zum Zweck der Produktverwertung und Profiterwirtschaftung zu finden. Dem entspricht eine Wissenschaft, die nur noch auf Faktenwissen reduziert ist.

Die Vernunft als Zweckrationalität, d. h. als Kalkül, Mittel für vorgegebene Zwecke zu finden, wird am Ende zum Diener einer die gesamte Existenz des Mensch manipulierenden, »verwalteten Welt«. Das ideologiekritische Fazit der beiden Autoren lautet: Das Wesen der Vernunft, so wie sie sich in der Geschichte entwickelt hat, ist »Herrschaft«, und die sogenannte »Aufklärung« ist deshalb »totalitär«.

In den beiden Essays »Odysseus oder Mythos und Aufklärung« und »Juliette oder Aufklärung und Moral«, die als »Exkurse« zum ersten Essay bezeichnet werden, soll an Beispielen der Literatur und Philosophie die These der Autoren verdeutlicht werden, dass sowohl Aufklärung und Mythos als auch Vernunft und Natur sich immer gegenseitig durchdringen.

So hat Homers frühgriechisches Epos Odyssee zwar mythologische Begebenheiten zum Thema, aber der mythologische Stoff wird auf eine rationale Weise verarbeitet. Die Hauptfigur Odysseus nämlich wird zum Sinnbild des Menschen, der seine Identität in der Abwehr irrationaler Naturkräfte behauptet. Die Irrfahrten und Abenteuer sind in dieser Interpretation Verlockungen, mit denen Odysseus in den Bann der Naturmagie gezogen werden soll. Indem er ihnen widersteht, bildet er ein Selbstbewusstsein aus, er beginnt, sich als eigenständiges Subjekt zu verstehen, das der Natur gegenübersteht. Horkheimer und Adorno interpretieren Odysseus mit den begrifflichen Mitteln, die Hegel 130 Jahre zuvor in seiner Phänomenologie des Geistes herausgearbeitet hatte: als Beispiel dafür, wie der menschliche Geist im Verlauf der Kultur- und Geistesgeschichte sich selbst verstehen lernt.

Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts wiederum, die sich die Verwirklichung der Vernunft auf die Fahnen geschrieben hatte, hat mit de Sade einen Autor hervorgebracht, der die natürliche Triebhaftigkeit verherrlicht. Wie später bei Nietzsche sehen Horkheimer und Adorno darin eine Reaktion auf das abstrakte Moralgesetz, wie es in der Aufklärung vor allem von Kant aufgestellt wurde. Kants sogenannter »Kategorischer Imperativ« – »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde« – sagt dem Menschen nicht, was er konkret tun soll, sondern gibt ihm lediglich einen abstrakten Maßstab zur moralischen Beurteilung an die Hand. Die Welt der Sinnlichkeit und Natur hat sich in dieser Moralphilosophie ganz unter die Herrschaft des Zuchtmeisters Vernunft begeben. Bei de Sade nun, so die Interpretation Horkheimers und Adornos, befreit sich die Sinnlichkeit von der Knute der Vernunft und ergreift selbst die Peitsche. Nun wird der Spieß umgedreht: Moral ist nichts anderes mehr als Dienst an den natürlichen Trieben. Sie geht in der Natur auf.

Die Manipulationsinstrumente einer verplanten Welt zeigen sich in der modernen Welt besonders im Bereich der Medien und der Kunst. Wir sprechen heute ganz selbstverständlich von »Musik- oder Unterhaltungsindustrie« und befinden uns damit auf den Spuren der Dialektik der Aufklärung. Als Horkheimer und Adorno in ihrem vierten Essay »Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug« den Begriff »Kulturindustrie« verwendeten, war er noch neu und ungewöhnlich. Er bedeutet, dass Kunst und Kultur nur noch Reklamefunktion haben. Sie passen sich dem Massengeschmack an und degenerieren zur stets konsumierbaren Fertigware. Der künstlerische Anspruch wird dadurch eingeebnet. Besonders in den modernen Medien wie Film und Unterhaltungsmusik – die ohnehin nicht Horkheimers und Adornos Sympathie genossen – ist diese Entwicklung ausgeprägt. Das Ergebnis ist ein Massengeschmack auf niedrigem Niveau, eine »Verkümmerung der Vorstellungskraft und Spontaneität des Kulturkonsumenten«. Der Mensch wird zum passiven Empfänger von Reizen – für Horkheimer und Adorno ein Spiegelbild seiner politischen und gesellschaftlichen Machtlosigkeit.

Im letzten der großen Essays, »Elemente des Antisemitismus«, schneiden die Autoren ein Thema an, das in der Zeit des Faschismus besonders aktuell war. Wie Marx in seinem 1843 erschienenen Aufsatz Zur Judenfrage glauben sie, dass Antisemitismus ein gesellschaftliches Phänomen ist, das letztlich nur gelöst werden kann, wenn die Herrschafts- und Machtverhältnisse in der Gesellschaft aufgebrochen werden: »In der Befreiung des Gedankens von der Herrschaft, in der Abschaffung der Gewalt könnte sich erst die Idee verwirklichen, dass der Jude ein Mensch sei.«

In der Analyse der Ursachen des Antisemitismus verbinden Horkheimer und Adorno eine marxistische mit einer psychoanalytischen Deutung. Der Hass auf Juden ist umgeleiteter Selbsthass. Antisemitismus ist eine kollektive Projektion, bei der die Täter, selbst Opfer einer totalitären und verwalteten Welt, ihren in verdrängten Bedürfnissen und Wünschen wurzelnden Selbsthass nun gegen ein äußeres Objekt, eine andere gesellschaftliche Gruppe richten. Wie überall in der verwalteten Welt, so wird auch hier die Wahrnehmung der Wirklichkeit auf Stereotype reduziert. So entsteht das Zerrbild »des Juden«, der als Sündenbock herhalten muss. Befangen im gesellschaftlichen »Verblendungszusammenhang«, machen sich die Antisemiten zu Handlangern derjenigen, von denen sie selbst unterdrückt werden.

Die Dialektik der Aufklärung ist ein tiefschwarzes und melancholisches Buch. Hatten die Marxisten so wie ihr Gründervater Marx noch daran geglaubt, dass die Geschichte mit Notwendigkeit eine klassenlose Gesellschaft herbeiführen werde, so fehlt bei Horkheimer und Adorno dieser Glaube völlig. Dennoch gibt es einen Gegenbegriff zu dem Verblendungszusammenhang und der Entfremdung der verwalteten Welt. Er lautet »Wahrheit«. Wahrheit ist für Adorno und Horkheimer, anders als für viele logisch und analytisch orientierte Philosophen, nicht in erster Linie eine Eigenschaft von Sätzen und Theorien, sondern eine bestimmte Gestalt, die die Wirklichkeit annimmt. Es ist der Zustand, in dem wahre Aufklärung verwirklicht ist, Vernunft und Natur miteinander versöhnt sind.

Die leise Hoffnung auf Verwirklichung von Wahrheit, die in dem Buch zuweilen durchschimmert, hat eine gewisse Nähe zur »negativen Theologie«, die einen Gott annimmt, aber nichts über ihn aussagen will. Wie der alttestamentarische Gott Jahwe, der nicht beschrieben oder abgebildet werden kann, so bleibt auch der Zustand der Wahrheit im Buch eine nicht beschreibbare Möglichkeit, die sich nur »negativ«, also nur über das erschließen lässt, was sie nicht ist. Im »Unmaß« des »Widersinns« gesellschaftlicher Verhältnisse, so heißt es am Ende des Essays über Antisemitismus, »tritt ... die Wahrheit negativ zum Greifen nahe«.

Auch finden sich immer wieder Hinweise darauf, dass die Kunst ein mögliches, wenn nicht gar vorbildliches Medium der Wahrheit ist. Gerade Adorno stand als Musiker dieser Sichtweise nahe. Für ihn konnte in der Kunst etwas gelingen, das das begriffliche Denken der Philosophie nicht zustande brachte: eine Wiedervereinigung von Begriff und Bild, eine Gestaltung der Einheit von Mensch und Natur und damit eine Perspektive, die eine Überwindung der einseitigen Herrschaft der Vernunft und der Entfremdung des Menschen sichtbar macht.

 

Als die Dialektik der Aufklärung 1947 in Amsterdam erschien, wurde sie kaum beachtet. Auch die Anhänger des Marxismus waren eher vom Geist des Aufbruchs als vom Geist pessimistischer Kritik beseelt. Georg Lucács, ein neomarxistischer Rivale der Frankfurter Schule, spottete über Adorno, dieser hätte es sich im »Hotel Abgrund« bequem gemacht.

Als sich aber die gesellschaftskritische 68er Generation auf die Suche nach einer Kapitalismuskritik begab, die auf westliche Verhältnisse zugeschnitten war und sich von den versteinerten orthodox-marxistischen Theorien unterschied, feierte die Dialektik der Aufklärung eine publizistische Auferstehung. Die Kritik an der Zweckrationalität gesellschaftlicher Zusammenhänge und vor allem die Analyse der Kulturindustrie trafen jetzt bei kritischen Marxisten einen Nerv. Der Offenbarungseid des Fortschritts wurde nun ironischerweise zum Antrieb eines neuen, progressiven Denkens. Neben Herbert Marcuses Der eindimensionale Mensch entwickelte sich die Dialektik der Aufklärung zum philosophischen Kultbuch der 68er. Sie ist bis heute das Hauptwerk der Frankfurter Schule und eines der wichtigsten Werke des westlichen Neomarxismus geblieben.

Horkheimer und Adorno waren inzwischen nach Frankfurt zurückgekehrt und hatten das Institut für Sozialforschung neu begründet. Sie galten nun als die unbestrittenen Väter der Kritischen Theorie. Adornos Philosophie der neuen Musik (1949), von ihm selbst als »ausgeführter Exkurs« zur Dialektik der Aufklärung bezeichnet, etablierte darüber hinaus den Ruf ihres Verfassers als eines der wichtigsten Musikphilosophen seiner Zeit. Mit Jürgen Habermas, einem zeitweiligen Assistenten Adornos, brachte die Frankfurter Schule den einflussreichsten deutschen Philosophen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervor, der das Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie fortsetzte.

Die Dialektik der Aufklärung weist aber weit über den Rahmen des Marxismus hinaus und hat auch im 21. Jahrhundert nichts an Aktualität verloren. Die bei Horkheimer und Adorno geübte Kritik an der destruktiven Rolle der Vernunft wurde von Vertretern der Postmoderne wie Michel Foucault und Jacques Derrida, aber auch von einem ehemaligen Rationalisten wie Paul Feyerabend aufgenommen. Auch Anhänger der ökologischen Bewegungen und Globalisierungsgegner weisen darauf hin, welchen Preis wir dafür bezahlt haben, dass wir so viel wissen, so viel konstruieren können und so vieles beherrschen.

Wenn es eine der Aufgaben der Philosophie ist, die menschliche Lebenswelt und ihre Werte zu durchleuchten, so hat die Dialektik der Aufklärung ein Röntgenbild geliefert, auf dem die dunklen Schatten einer langen Menschheitsgeschichte erkennbar sind.

 

Ausgabe:

Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988.