Hindernislauf im Erkenntnisparcours

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (1807)

Unter den Großen in der Geschichte des Fußballs gibt es die technisch hochbegabten Ballkünstler, die, wie man so schön sagt, ihre Gegner »schwindlig spielen« können. Sie schlagen Haken wie Hasen, jonglieren den Ball von einem Fuß zum andern, lassen ihn kreisen und verschwinden, täuschen Bewegungen an und gehen schließlich an ihrem Gegenspieler vorbei wie an einem Laternenpfahl. Manche Zuschauer schwören darauf, dass erst diese Magie der Ballbehandlung »Fußball« genannt zu werden verdient. Doch es gibt auch diejenigen, die diesem Balljonglieren misstrauen und den fehlenden »Drang zum Tor« sowie die mangelnde Effizienz solcher Spieler beklagen. Andere betrachten die Szene mit offenem Mund und fragen sich zuweilen: Wo ist eigentlich der Ball?

Auch unter den Großen der Philosophiegeschichte gibt es solche Ballkünstler. Vielleicht der bekannteste ist Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der mit seinen Schriften nicht nur die Zeitgenossen, sondern viele Generationen von Lesern schwindlig geschrieben hat. Hegels Art, mit einem ganzen Arsenal neuer und ungewöhnlicher Begriffe vor das Publikum zu treten, mit diesen auf eine unerschöpfliche und souveräne Art zu jonglieren und am Ende das »absolute Wissen« aus dem Hut zu zaubern, lässt den unvorbereiteten Leser völlig verblüfft zurück. Hegel hat auch unter Philosophen glühende Anhänger, die in seinen Schriften den Gipfel der europäischen Philosophie sehen. Andere begegnen seiner schwierigen Sprache mit großem Misstrauen, und der unbefangene Leser sieht sich immer wieder vor die Frage gestellt: Worüber redet Hegel hier eigentlich?

Von allen Werken Hegels hat die Phänomenologie des Geistes, sein erster und bis heute berühmtester Systementwurf, die Leser am meisten fasziniert. Hegel ist der letzte große Vertreter des philosophischen Idealismus. Er glaubt, dass eine geistige Substanz, die Vernunft nämlich, den Kern der Wirklichkeit ausmacht. Die Phänomenologie beschreibt den verschlungenen Weg, den die Vernunft zurücklegt, um in ihrer wahren Gestalt in Erscheinung zu treten. Als »Weltgeist« offenbart sie sich schrittweise in den Erkenntnisbemühungen und Kulturleistungen des Menschen. Hegels Phänomenologie des Geistes schildert den Weg der Selbstoffenbarung der Vernunft als einen Hindernislauf im Erkenntnisparcours, an dessen Ziel der »sich als Geist wissende Geist« oder, wie Hegel auch sagt, das »absolute Wissen« steht. Denn es ist der Mensch, der mit seinen Bemühungen um Welterkenntnis und Wissenschaft diesen Geist hervorbringt.

Einen mühsamen und hindernisreichen Weg musste auch Hegel selbst zurücklegen, bis er zu dem geworden war, als den ihn die geistige Welt am Ende seines Lebens wahrnahm: als den einflussreichsten Philosophen seiner Zeit. Hegel startete langsam und stolpernd in seine Karriere als Philosoph, doch er lief länger und ausdauernder und hatte am Ende alle seine Zeitgenossen überholt. Dass er einmal eine Geistesgröße werden und ein ganzes Zeitalter prägen würde, hätten ihm in jungen Jahren allerdings nur wenige vorausgesagt.

Der 1770 geborene Sohn eines Stuttgarter Beamten galt zwar während seiner Gymnasialzeit als Musterschüler, doch während seiner Studienzeit stand er in dem Ruf, ein geistig etwas langsamer und schwerfälliger Zeitgenosse zu sein. Der Student Hegel erhielt von seinen Kommilitonen den wenig schmeichelhaften Spitznamen »der Alte«, weil er eine etwas altkluge Behäbigkeit an den Tag legte. Außerdem kannte man ihn als regelmäßigen Kneipengänger, dessen Wein- und Tabakkonsum immer wieder die Universitätsautoritäten auf den Plan rief.

Und doch war es die Studienzeit im Tübinger Stift, in der das Fundament seines philosophischen Denkens gelegt wurde. Im Tübinger Stift ließen die protestantischen Württemberger Herzöge ihren Pfarrernachwuchs ausbilden, und auch Hegel schrieb sich hier zum Wintersemester 1788 / 89, versehen mit einem herzoglichen Stipendium, im Fach Theologie ein. Theologische Denkmuster prägten ihn von Beginn an: Die christliche Überzeugung, dass eine allumfassende, absolute Wahrheit, nämlich Gott, sich in der Welt den Menschen offenbart, floss als ein Grundgedanke in seine Philosophie ein.

Doch bereits der junge Hegel lehnte es ab, die theologischen Dogmen wörtlich zu nehmen, und bevorzugte, unter dem Einfluss der Aufklärung und der politischen Ereignisse der Zeit, eine rationale Deutung, die Gott mit der Vernunft identifizierte. Während im Nachbarland Frankreich das politische Erdbeben der Französischen Revolution tobte, las der Student Hegel die Schriften der französischen Aufklärer und teilte deren Kritik an den vernunftwidrigen politischen Verhältnissen seiner Zeit. Als im Frühjahr 1791 junge Anhänger der Französischen Revolution in Tübingen einen »Freiheitsbaum« errichteten, war auch Hegel dabei. Noch der alte Hegel trank an jedem 14. Juli ein Glas Wein zum Gedenken an die Erstürmung der Bastille.

Hegels philosophische Überzeugungen bildeten sich in engem Austausch mit einem Freundeskreis von »Stiftlern«, den man als Denkerwerkstatt junger Genies bezeichnen könnte. Hierzu gehörten der mit Hegel gleichaltrige Friedrich Hölderlin und der fünf Jahre jüngere Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Aus den Diskussionen dieser drei entwickelte sich die neue Philosophie des Deutschen Idealismus, die den Versuch unternahm, theologische Konzepte mit Hilfe des in der Aufklärung aufgewerteten Begriffs der Vernunft neu zu deuten. Die Vernunft als Wesen der Welt trat an die Stelle des christlichen Gottes. In der Tradition des neuzeitlichen Rationalismus glaubten die jungen Idealisten, dass diese Vernunft dem Denken des Menschen zugänglich sei. Die Vernunft löste Gott und das Denken löste den Glauben ab.

Ein wichtiger Ausgangspunkt dieser Philosophie war der Rationalismus Baruch de Spinozas, in dessen Mittelpunkt eine allumfassende göttliche Weltvernunft steht. In seiner Ethik (1677) vertritt Spinoza einen Pantheismus: Gott und Welt sind eins – eine einzige, ewige und unveränderliche Substanz. Sie offenbart sich in der Form mathematisch-naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten: Alles Geschehen folgt nach Spinoza dem Gesetz von Ursache und Wirkung.

1781 war jedoch Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft erschienen, ein Buch, das den traditionellen Rationalismus in Frage stellte und behauptete, dass die Naturgesetze nicht auf die Welt an sich, sondern lediglich auf eine von unserem eigenen Erkenntnisvermögen abhängige »Erscheinungswelt« anwendbar seien. Kant zog zwischen der gesicherten Erfahrungserkenntnis des menschlichen Verstandes und den ungesicherten Spekulationen einer »reinen« Vernunft eine rote Linie, die er nicht überschreiten wollte. Die Vernunft, so Kant, verwickelt sich immer wieder in unlösbare Widersprüche. Gesicherte Aussagen über das Wesen der Welt oder über Gott lässt sie nicht zu.

Hegel, Hölderlin und Schelling erkannten Kants rote Linie nicht mehr an und glaubten wie Spinoza an die Fähigkeit der Vernunft, das Wesen der Welt, die Welt »an sich« zu erkennen. Die von Kant so geschätzten Naturwissenschaften betrachteten sie nicht mehr als die wahren Wissenschaften. Wissenschaft hatte vielmehr ihren Ort in der Philosophie selbst, in dem Bemühen der Vernunft, die Wirklichkeit auf den Begriff zu bringen. Für Hegel wurden Philosophie und Wissenschaft Synonyme.

Diese Auffassung von Philosophie steht auch schon hinter Johann Gottlieb Fichtes 1794 erschienener Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Fichte zog aus Kants These, dass das, was wir Wirklichkeit nennen, von unseren subjektiven Erkenntnisvoraussetzungen abhängig ist, eine radikale Konsequenz: Für ihn ist die Wirklichkeit nichts anderes als die schöpferische Tat des »Ich«, eines Urprinzips, das am Grund des menschlichen Bewusstseins liegt. Fichtes »Ich« kennt keine Erfahrungsgrenze und gestaltet die Wirklichkeit – Fichte benutzt dafür den Begriff »setzen«- in völliger Freiheit. Außenwelt und Natur sind nichts anderes als Setzungen des »Ich«. Die Linie zwischen Erscheinung und Ding an sich gibt es damit nicht mehr.

Dass es für die erkenntnisaktive Vernunft keine Schranken gibt, glaubten auch die jungen Tübinger Philosophen. Doch Hölderlin, Schelling und Hegel sahen in dem »Ich« nicht das letzte Wirklichkeitsprinzip. Für sie stand noch etwas Objektiveres dahinter. Hölderlin nannte es in einem Aufsatz von 1794 / 95 das »absolute Sein«. Das »Absolute« wurde die Bezeichnung für die neue Weltvernunft. In einem Text von 1796, dem sogenannten »Ältesten Systemfragment des Deutschen Idealismus«, an dem möglicherweise alle drei, Hölderlin, Hegel und Schelling, mitgeschrieben haben, wird der Anspruch erhoben, eine »Mythologie der Vernunft« zu formulieren. Das neue philosophische Programm, dem auch Hegel folgte, war damit formuliert: Die Philosophie sollte über die wahre, vernünftige Gestalt der Welt in einer Theorie des Absoluten aufklären.

Schelling, der bereits 1798 eine Professur in Jena erhielt, trat noch vor Hegel mit einer solchen Theorie des Absoluten hervor. Das Absolute, das er auch das »Göttliche« oder »Geist« nannte, offenbarte sich für ihn in der Entwicklung der Natur und der Kultur gleichermaßen. Alle Wirklichkeit ist für ihn »werdender Geist« und dem Menschen durch eine Art Intuition, durch eine »intellektuelle Anschauung« zugänglich.

Hegel beobachtete die philosophischen Höhenflüge seines ehemaligen Kommilitonen zunächst aus den Niederungen einer subalternen Hauslehrerexistenz. Nach seinem Studienabschluss 1793 war er zunächst im schweizerischen Bern, dann, von 1797 bis 1800, in Frankfurt angestellt, wo auch Hölderlin, der inzwischen als Dichter hervorgetreten war, als Hauslehrer arbeitete. Erst 1801 trat Hegel auf Vermittlung Schellings seine erste Anstellung als Universitätsdozent in Jena an. Nun konnte er daran denken, seine eigene Philosophie systematisch auszuarbeiten.

Der Jenaer Hegel war weit entfernt von dem etablierten preußischen Staatsphilosophen, als den man ihn im Alter karikierte. Er war ein liberaler Intellektueller knapp über dreißig, der den Umbrüchen seiner Zeit offen gegenüberstand und den Ehrgeiz hatte, eine neue Vernunftphilosophie zu begründen. Goethe, der für die Kulturpolitik im Fürstentum Sachsen-Weimar zuständig war, förderte den jungen Gelehrten.

Auch Schelling und Hegel pflegten zunächst einen engen persönlichen Kontakt und gaben gemeinsam eine philosophische Zeitschrift, das Kritische Journal für Philosophie, heraus. Mit seiner 1801 erschienenen Schrift Die Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems hatte Hegel jedoch begonnen, sich philosophisch von Schelling zu lösen. Wenn ihm auch Schellings Theorie des Absoluten näher stand als Fichtes Prinzip des »Ich«, so wandte er sich doch gegen Schellings These, dieses Absolute sei sozusagen mit einem Schlag, durch eine »intellektuelle Anschauung« erkennbar.

Der »Geist«, wie Hegel das Absolute in Anlehnung an Schelling und an den »Geist der Gesetze« des französischen Aufklärungsphilosophen Montesquieu inzwischen nannte, war für ihn kein Licht, das am Himmel hängt, sondern eine Spur, die sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte in einer immer klareren Form abzeichnet. Sie trat für den Menschen nicht plötzlich – in einem Akt der Erleuchtung – hervor, sondern musste mit Mitteln der begrifflichen Analyse herausgearbeitet werden. Genau dies war für Hegel Aufgabe des Philosophen: die Formen zu beschreiben, in denen der Geist in »Erscheinung« (griech. »phainomenon«) tritt. Aus dem Programm einer »Mythologie der Vernunft« war das Programm einer »Phänomenologie des Geistes« geworden.

1805 wurde Hegel auf Veranlassung Goethes der Titel »außerplanmäßiger Professor« verliehen, der ihm aber keine sicheren Einkünfte verschaffte, sondern ihn weiterhin von Hörergebühren abhängig machte. Im selben Jahr erwähnt er den Plan zu einer Schrift, die zunächst nichts anderes als eine »Einleitung« in sein System sein sollte, die sich aber zu einem umfänglichen Manuskript auswuchs.

Hegel befand sich in mehrerer Hinsicht in einer schwierigen Lebenssituation. Mit der Frau seines Hauswirts hatte er ein Kind gezeugt, und er wusste, dass finanzielle Verpflichtungen auf ihn zukamen. Er suchte dringend eine feste Anstellung. Auch die politischen Verhältnisse waren höchst unsicher. Es herrschte Krieg, und Napoleon stand vor den Toren.

Über den Philosophen Friedrich Immanuel Niethammer, einen Freund und Gönner, den er in Jena kennen gelernt hatte und der inzwischen nach Bayern übergesiedelt war, fand Hegel in Bamberg schließlich einen Verleger für sein noch unveröffentlichtes Buch und konnte einen Vorschuss vereinbaren.

Das Manuskript wird unter abenteuerlichen Umständen vollendet: Die Franzosen marschieren, nach der Schlacht von Jena und Auerstädt, am 13. Oktober 1806 in Jena ein und beginnen auch Hegels Wohnung zu plündern. Hegel flüchtet sich mit einigen wenigen Unterlagen in die Wohnung von Bekannten. Er hat das Gefühl, den Atem der Geschichte im Nacken zu spüren. Als er, aus dem Fenster schauend, Napoleon im Sattel erblickt, nennt er ihn in einem Brief an Niethammer die »Weltseele zu Pferde«. In der Nacht zum 14. Oktober schreibt er die letzten Seiten seines Manuskripts, und der abschließende Teil geht am 20. Oktober nach Bamberg. Am 5. Februar 1807 wird Hegels unehelicher Sohn Ludwig geboren. Nicht nur die »Weltseele« veranlasst ihn, kurze Zeit später die Stadt zu verlassen.

Die Phänomenologie ist, wie alle Werke Hegels, harte Kost und für einen Anfänger ohne Hilfestellung nur mit viel Mühe lesbar. Mit Hegels verschachtelten Sätzen und seinen ungewöhnlichen Wortprägungen tun sich auch so manche Experten schwer.

Im Kern handelt es sich um eine Metaphysik, um eine Lehre vom Absoluten als dem letzten Grund der Wirklichkeit, in die allerdings auch erkenntnistheoretische und kulturphilosophische Erörterungen eingebunden sind. Charakteristisch für Hegel ist die geschichtsphilosophische Perspektive, unter der er alle Fragen betrachtet. Etwas begründen und erklären heißt für ihn, auf jenen »Grund« einer Sache zu verweisen, aus der sie sich entwickelt hat. Hegel erklärt »genetisch«, also indem er die Entwicklung einer Sache und ihren Platz in einem historischen Zusammenhang aufzeigt. Auch das Absolute, Hegels Weltvernunft, wird erklärt, indem ihre Entwicklung von einem »unmittelbaren« zu einem komplexen Stadium dargelegt wird.

In der »Vorrede« des Buches steht einer der berühmtesten Sätze Hegels, der den Zusammenhang zwischen der Erkenntnis des Absoluten und seiner Entwicklung zusammenfasst. Es komme darauf an, so Hegel, »das Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken«. Während das »Wahre« – also der Geist als umfassende Weltvernunft – bei Spinoza noch als eine fertige, immer gleichbleibende und ewige »Substanz« bestimmt wird, wird sie bei Hegel zu einem bewegenden, aktiven Prinzip, zu einem »Subjekt« im Sinne eines handelnden Akteurs. Als »lebendige Substanz« entwickelt sie sich von einem unfertigen, noch nicht vollständig begriffenen Zustand zum absoluten Wissen.

Diese Entwicklung – und damit die Geistesgeschichte – wird zwar als eine Fortschrittslinie gesehen, zugleich aber auch als eine Linie, die einen Kreis beschreibt. Der Weg des Weltgeistes ist, in Hegels Worten, »das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfang hat«. Das Absolute war immer schon da, es war in seiner Entwicklung schon angelegt, hatte sich aber noch nicht entfaltet. Erst im absoluten Wissen liegt diese Entfaltung vor uns: Der Geist, das Absolute, hat sich nun selbst begriffen. Nicht von ungefähr hat man diese kreisförmige Weiterentwicklung immer wieder mit der Figur einer Spirale verglichen.

Das absolute Wissen ist also nichts, was man handlich in einer Definition anbieten könnte. Was Hegel »Wahrheit« im Sinne des »absoluten Wissens« nennt, ist der gesamte Prozess der Selbstentfaltung des Geistes. Der Weltgeist schwebt jedoch nicht losgelöst über unseren Köpfen. Er ist vielmehr unser eigenes Erbe, das Substrat der Kulturgeschichte, der geistigen Anstrengung des Menschen, sich selbst und die Welt zu verstehen. »Objektive« Entwicklung des Geistes in der Welt und das »subjektive« Verständnis, das der Mensch von diesem Geist entwickelt, korrespondieren also miteinander. Weltvernunft und vernünftiges Begreifen der Welt entfalten sich im gleichen Prozess. Es ist Hegels Version vom Wirken Gottes, der sich den Menschen offenbart, indem er selbst Mensch geworden ist.

Auch die Phänomenologie, die diesen Prozess schildert, sieht sich als Teil dieses Prozesses. Wissenschaftliches Erkennen bedeutet für Hegel nicht, eine Sache von außen wie mit einer Zange zu erfassen, sondern »sich dem Leben des Gegenstandes zu übergeben«, d. h., die Bewegung der Wirklichkeit nachzuvollziehen. Auch hier greift Hegel auf religiöse Traditionen zurück, auf die Mystik der jüdischen Kabbala oder auf den deutschen Mystiker des frühen 17. Jahrhunderts, Jakob Böhme: Innen und außen, Mikrokosmos und Makrokosmos entsprechen sich und sind aufeinander bezogen.

Hegel beginnt den Erfahrungsweg des Geistes auf einer erkenntnistheoretischen Ebene, beim »Bewusstsein«. Es geht um die klassische Erkenntnisbeziehung zwischen Subjekt und Objekt, um die Art, wie sich der Mensch die Welt der Gegenstände aneignet. Dass das »Bewusstsein« am Anfang steht, zeigt, dass Hegel sich auf die von René Descartes begründete Tradition der neuzeitlichen Erkenntnistheorie bezieht, nach der sichere Erkenntnis durch eine Selbsterforschung der Vernunft des einzelnen Subjekts zu erreichen ist.

Die naivste, noch am wenigsten entwickelte Form des Geistes sieht Hegel in dem, was einem normalerweise als die sicherste und selbstverständlichste Form der Erkenntnis erscheint, die »sinnliche Gewissheit«. Wir sehen einen Baum, sagen: »Dies ist ein Baum«, und glauben, unsere Erkenntnis sei klar und eindeutig. Doch Hegel deckt in dieser scheinbar einfachen Gegenstandserkenntnis Bezüge und Unterscheidungen auf, die auf den ersten Blick verborgen waren. So wird in dieser Erkenntnis nicht der Baum »an sich«, unabhängig von mir, angesprochen, sondern mein Bewusstsein stellt eine Verbindung zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt her. Die scheinbare Einheit ist in eine Zweipoligkeit zerfallen. Auch das »Dies« ist nicht eindeutig – drehe ich mich um, verweist es nämlich auf etwas anderes. »Dies« ist ein sprachlicher Begriff, der, genau wie »Baum«, auf verschiedene Gegenstände angewendet werden kann. Mit der Sprache bringen wir also einen Aspekt ins Spiel, der mehr meint als den einen konkreten Gegenstand, der uns vor Augen steht.

Unsere einfache, scheinbar konkrete sinnliche Gewissheit entpuppt sich also als eine komplexe Erkenntnis, die uns zum Gebrauch sprachlicher Begriffe, oder, wie Hegel sich ausdrückt, zu einem »Allgemeinen« führt. Diese Erkenntnis des Allgemeinen nennt Hegel »Wahrnehmung«, womit wir uns schon auf der nächsten, höheren Stufe der Geistesentwicklung befinden. Auch sie erscheint zunächst als eine »einfache« Erkenntnis. Doch wieder tun sich scheinbare Widersprüche und zunächst übersehene Bezüge auf. Denn einerseits sehen wir den Begriff als eine Einheit, andererseits umfasst das Konzept »Baum« ganz verschiedene Merkmale der Größe, Farbe, Form usw. Auch hier zerfällt also bei näherem Hinsehen die Einheit in Gegensätze. Eine höhere Einheit muss gefunden werden, die das Wesen des Allgemeinbegriffs, die Synthese von Einheit und Vielheit umfasst. Dies geschieht auf der nächsten Stufe, in der Tätigkeit des Verstandes.

Mit dieser Art der Analyse befinden wir uns mitten in der »Phänomenologie des Geistes«, in einer Denkbewegung, die immer wieder die gleiche Grundstruktur aufweist und die Hegel als »dialektische Bewegung« bezeichnet. Eine scheinbare Einheit, die auch »Positivität«, »Unmittelbarkeit« oder »Ansichsein« genannt wird, zerfällt in Gegensätze. Dieser von Hegel häufig als »Negation« bezeichnete Vorgang ist nichts anderes als das Aufzeigen von Unterschieden oder übersehenen Bezügen, die in einem Begriff enthalten sind. Nun werden in einem dritten Schritt die Gegensätze in einem dreifachen Sinn wieder aufgehoben: Sie werden eliminiert, gleichzeitig bewahrt und auf eine höhere Einheitsstufe gehoben. Sie werden zu integrierten Aspekten, zu »Momenten« der neuen Einheit. Über das »Ansichsein« und das »Für-andere-Sein« gelangt man zum »Fürsichsein« bzw. »An-und-für-sich-Sein«. Als vielseitig verwendbare Formel »These – Antithese – Synthese« findet sich dieses Erklärungsmuster bis heute in der Hausapotheke jedes Hegelianers wieder.

Die Dialektik ist das Entwicklungsgesetz des Geistes. Ist eine Stufe des Wissens erklommen, so stellt sich diese sofort als ebenso vorläufig heraus wie die vorhergehende und muss auf der nächsthöheren Stufe überwunden werden. Hegel will uns in seiner Analyse vorführen, dass man nicht wie Kant vor scheinbar unlösbaren Widersprüchen kapitulieren darf, sondern im Gegenteil die Wirklichkeit und das Denken, das sie erfasst, als einen ständigen Prozess der Überwindung immer neuer Widersprüche begreifen muss.

Die Stationen dieses Weges haben Generationen von Experten einiges Kopfzerbrechen bereitet. So gelangt Hegel vom Verstand zum Selbstbewusstsein und damit zu einer Stufe, die in seinem Buch eine besondere Rolle spielt. Mit »Selbstbewusstsein« meint er nicht das Selbstwertgefühl im heutigen umgangssprachlichen Sinn, sondern jenes Bewusstsein, das das Bewusstsein von sich selbst hat. Anders ausgedrückt: Das Selbstbewusstsein ist das Stadium, in dem das Bewusstsein sich selbst durchschaut, in dem ihm die Bezüge und Vorgänge klar werden, die mit dem Erkenntnisprozess verbunden sind. Deshalb spricht Hegel auch davon, mit dem Selbstbewusstsein »im einheimischen Reich der Wahrheit angekommen zu sein«.

Das Selbstbewusstsein begreift sich in all diesen Bezügen als Einheit, eine Einheit, die gleichwohl wieder zerfällt. Der Gegensatz, der sich nun herausbildet, gehört zu den meistdiskutierten in Hegels Werk. Hegel bedient sich nämlich einer sehr metaphorischen Sprache und bezeichnet ihn als Gegensatz zwischen »Herr« und »Knecht«.

Die Interpreten rätseln: Handelt es sich um einen Gegensatz zwischen zwei verschiedenen Subjekten oder nur um einen Gegensatz zwischen zwei Formen des Selbstbewusstseins – zwischen einem Ich-Bewusstsein und einem auf die Gegenstände ausgerichteten Bewusstsein –, also um einen Gegensatz, der sich innerhalb des Bewusstseins abspielt? Die meisten haben sich der letzteren Deutung angeschlossen.

Zwischen diesen beiden Formen des Selbstbewusstseins findet nach Hegel ein Kampf um Leben und Tod statt, in dem es um Anerkennung und Selbstbehauptung geht. Zu einer Auflösung dieser Kampfsituation und damit des Gegensatzes kommt es, indem das Verhältnis ins Wanken gerät, indem sich die Rollen vertauschen. Der Herr ist in Wahrheit der Abhängige, denn er erfährt die Wirklichkeit nur über die Vermittlung seines Knechts. Der wiederum erlangt durch seine Arbeit ein neues Selbstbewusstsein und überwindet seine Todesfurcht.

Inspiriert wurde Hegel zu dieser Passage durch einen berühmten experimentellen Aufklärungsroman des 18. Jahrhunderts, Diderots Jacques der Fatalist und sein Meister. Der Diener Jacques sieht, dass sein Herr zwar den Titel »Herr« trägt, er selbst aber die »Sache« hat, d. h. die eigentlich tätige Kraft ist. So folgert er: »Jacques regiert seinen Herrn.« Hegel drückt dies so aus: Die Knechtschaft werde »in ihrer Vollbringung zum Gegenteil dessen werden, was sie unmittelbar ist; sie wird als in sich zurückgedrängtes Bewusstsein in sich gehen und zur wahren Selbstständigkeit sich umkehren«.

Viele, besonders Marxisten, halten den Abschnitt über Herr und Knecht für den interessantesten Teil der Phänomenologie. Denn zeigt sich hier nicht die Vorläufigkeit der Klassengesellschaft, die notwendig in einen Herrschaftswechsel münden muss? Marx selbst hat aus dieser Passage seinen eigenen Begriff von »Arbeit« gewonnen, nämlich als formende Kraft der menschlichen Selbstverwirklichung.

Es scheint jedoch, als habe Hegel trotz seiner Metaphorik hier eher an Denk- und Bewusstseinsprozesse gedacht. In Anspielung auf Fichtes Begriff des »Ich«, das seine Freiheit im Setzen der Wirklichkeit behauptet, bezeichnet er die neue Stufe des Selbstbewusstseins als »freies Denken«, das seine inneren Widersprüche überwunden hat.

An dieser Scharnierstelle des Buches wechselt Hegel von einer erkenntnistheoretischen auf eine kulturphilosophische Ebene. Mit der »Freiheit des Selbstbewusstseins« betritt er den Boden der Geistesgeschichte, der großen Entwürfe menschlichen Selbstverständnisses. Die Unterscheidung zwischen einem individuellen und einem kollektiven Begreifen der Welt überspringt Hegel souverän. Er sieht auf allen Ebenen – ob in der Erkenntnisbemühung des Subjekts oder in einem »Zeitgeist« – denselben Geist am Werk, der unbeirrt in Richtung absolutes Wissen marschiert.

Zunächst begnügt sich das freie Denken mit innerer Autonomie, die – wie in der antiken Philosophie der Stoa – der Welt gegenüber passiv bleibt. Doch sie entzweit sich wieder – wie in der Philosophie der Skepsis – im vergeblichen Versuch, die Welt zu deuten, und versöhnt sich schließlich auf einer neuen Stufe, auf der die Zerrissenheit des Bewusstseins anerkannt wird, indem man die Begrenztheit und Endlichkeit des Bewusstseins von der Sphäre der Unendlichkeit trennt. Hegel nennt diese Stufe das »unglückliche Bewusstsein«. Was wie ein Begriff aus der Existenzphilosophie klingt, ist in Wahrheit eine Anspielung auf das Christentum, das die antike Philosophie ablöst und in dem sich Diesseits und Jenseits »unversöhnt« gegenüberstehen.

Den Versuch einer solchen Versöhnung macht die Vernunft – womit Hegel nicht das Absolute als Weltvernunft, sondern den Rationalitätsanspruch der Neuzeit meint, wie er sich – z. B. als »beobachtende Vernunft« – in den empirischen Naturwissenschaften äußert.

Dass die Vernunft durch die Stufe des »Geistes« abgelöst wird, löst Fragen aus: Reden wir nicht schon die ganze Zeit über die »Phänomenologie des Geistes«? Wozu noch ein eigenes Kapitel mit dem Titel »Geist«? Doch Hegel hat sich dabei etwas gedacht. Der Geist hat sich nämlich auf dieser Stufe erst als das verstanden, was er nach Hegel in Wahrheit ist: als allumfassendes Vernunftgesetz der Wirklichkeit. Dem Geist wird hier erst klar, wer er eigentlich ist, und deshalb darf er sich hier erst »Geist« nennen.

Spätestens an dieser Stelle verlagert sich der Schwerpunkt der Phänomenologie auf Themen, die wir heute der praktischen Philosophie zurechnen, also die Themen Sittlichkeit, Moral, Religion, Politik, Staat und Recht. Von hier ab diskutiert Hegel immer wieder, nach dialektischem Muster, bestimmte Etappen der Geistesgeschichte – wie z. B. die Aufklärung oder die Moralphilosophie Kants – und demonstriert, dass in ihnen Teilwahrheiten zum Vorschein kommen, aber nie die volle Wahrheit ausgesprochen wird. So erscheint ihm Kants Moralphilosophie als zu »formalistisch«, weil sie Pflicht und Neigung, Mensch und Natur in einen »unaufgehobenen« Gegensatz bringt.

In dem »Religion« betitelten vorletzten Kapitel tritt der Geist zwar schon in voller Gestalt, aber noch in bildlich-mythologischer Verkleidung auf die Bühne. Im absoluten Wissen schließlich wird er dieser mythologischen Form entkleidet. Wie sieht der im absoluten Wissen begriffene Geist also in Wahrheit aus? Wenn der Leser erwartet, dass Hegel nun die Tür aufsperrt und das Absolute in voller philosophischer Pracht erscheint, so irrt er. Der Weg selbst ist das Ziel, belehrt uns Hegel. Im durchschrittenen Weg selbst hat sich uns das Absolute gezeigt, indem die Stationen dieses Weges »auf den Begriff gebracht« wurden. Deshalb wendet Hegel am Ende des Buches seinen und des Lesers Blick zurück auf »die begriffene Geschichte« als »die Erinnerung und Schädelstätte des absoluten Geistes«. Nicht zufällig bedient er sich hier wieder einer religiösen Symbolik: Wie Christus auf Golgatha das Leiden der Menschen auf sich nahm und diese dadurch erlöste, so hat die Phänomenologie die Geistesgeschichte dialektisch nachvollzogen und damit begriffen.

 

Hegels erstes großes Hauptwerk erschien im Frühjahr 1807 in Bamberg, als er dort bereits eine Redakteursstelle bei der ›Bamberger Zeitung‹ angetreten hatte. Mit ihr öffnete er die Tür zu seiner Karriere und ebnete den Weg für seine späteren großen Werke. Es war die Phänomenologie, die von der Nachwelt als Hegels Geniestreich angesehen wurde. Vor allem Hegels Art, Dinge historisch, d. h. von ihrer Entwicklung her, zu erklären, übte großen Einfluss aus und setzte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch bei Gegnern des Idealismus wie Auguste Comte in Frankreich oder Herbert Spencer in England durch.

Dass Hegels schwierige und ungewöhnliche Form der Analyse auch heftige Kritik hervorrief, verwundert nicht. »Immer wenn ich die Phänomenologie des Geistes aufschlug, dachte ich, ich öffnete das Fenster eines Irrenhauses«, lästerte sein etwas jüngerer Philosophenkollege Arthur Schopenhauer, der bei jeder Gelegenheit den »absoluten Gallimathias der Hegel’schen Dialektik« anprangerte, die auch Karl R. Popper, einhundert Jahre später, als Perversion der Logik empfand.

Doch selbst auf manche seiner Kritiker färbte Hegels Stil ab, so auf den dänischen Theologen Sören Kierkegaard, der mit seinen Stadien auf des Lebens Weg ein existenzphilosophisches Gegenbuch zur Phänomenologie schrieb, das an die Stelle der Entwicklung eines Absoluten die Entwicklung der konkreten Lebensanschauung des Einzelnen, also eine »Dialektik der Existenz«, setzte. Auch in der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts, so in Jean-Paul Sartres Das Sein und das Nichts, werden Begriffe aus Hegels Dialektik wie »Ansichsein« und »Fürsichsein« weiter verwendet.

Vor allem aber der Marxismus wurde einer der wichtigsten Transporteure Hegel’schen Gedankenguts. Sein Begründer Karl Marx, der große Analytiker des Kapitalismus, übernahm Hegels Idee eines Fortschritts im Sinne einer dialektischen Fortentwicklung der Weltvernunft, deutete sie aber materialistisch: Für ihn waren es die ökonomischen und gesellschaftlichen Kräfte, die die Menschheit nach vorne brachten.

Im 20. Jahrhundert bezogen sich vor allem unorthodoxe westliche Marxisten wie Georg Lukàcs, Ernst Bloch oder die Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer immer wieder auf die Phänomenologie. Für Bloch war es ein Werk, »das im philosophischen Schrifttum nicht seinesgleichen hat«.

Hegels Begriff der »Wahrheit«, der immer die »Totalität«, das Ganze der historischen und gesellschaftlichen Entwicklung, im Blick hat, wurde aber auch von nicht-marxistischen Philosophen wie Hans-Georg Gadamer, dem Neubegründer der philosophischen Hermeneutik, übernommen.

Obwohl kaum ein Philosoph heute noch daran glaubt, zu einem »absoluten Wissen« vordringen zu können, ist Hegels anhaltende Wirkung nicht zufällig: Seine Leser erleben ein Denken, das nie stillsteht und sich nie mit dem zufriedengibt, was sich scheinbar von selbst versteht. Die Wahrheit ist, wie Hegel formulierte, keine Münze, die man fertig einstreichen kann. Sie ist vielmehr, so könnte man ergänzen, ein Ziel, das die menschliche Vernunft auf Trab hält.

 

Ausgabe:

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1986.