Manifest für den aufrechten Gang

John Stuart Mill: Über die Freiheit (1859)

Nicht zu Unrecht haben viele Menschen ein Misstrauen gegen »große« Wörter. Sie werden häufig im Mund geführt, aber immer wieder mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt. Es ist eine der Aufgaben der Philosophie, hier Klarheit zu schaffen und den »großen« Wörtern einen vernünftigen Sinn zu geben. »Gerechtigkeit« ist ein solches Wort, das die Philosophen von Platon an bis in die Gegenwart beschäftigt hat. Spätestens seitdem die Französische Revolution die Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erhoben hat, gehört auch die »Freiheit« zu jenen Begriffen, die uns zwar überall entgegenleuchten, aber immer eine andere Farbe annehmen. Ist Freiheit etwas, das wir besitzen, oder etwas, das wir erwerben müssen? Und wovon sind wir frei, wenn wir frei sind?

Kein Philosoph hat dies bisher klarer, verständlicher und überzeugender beantwortet als John Stuart Mill in seinem Essay Über die Freiheit. Für Mill ist »Freiheit« weit mehr als ein Schlagwort oder ein abstraktes Prinzip. Sie ist die Luft, die der Mensch zum Atmen braucht, wenn er ein selbstbestimmtes Leben führen will. Sie ist der Raum, der ihm zusteht, um sein Leben in eigener Verantwortung zu gestalten und seine Haltung öffentlich zu vertreten, ohne dass die Gesellschaft ihn in ein Netz von Konventionen steckt und der Staat ihm einen Maulkorb anlegt. Über die Freiheit ist das philosophische Manifest für den aufrechten Gang, das Plädoyer für die Würde des Menschen, der nicht am Gängelband geführt werden oder wie ein Schaf hinter der Herde hertrotten will.

Freiheit bedeutet für Mill konkrete, individuelle Freiheit. In dem ständig neu auftretenden Spannungs- und Konfliktverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft stellt sich Mill ganz auf die Seite des Individuums. Diese Freiheit ist für ihn zwar nicht alles – aber ohne sie ist alles nichts.

Dass sein Leben und seine Überzeugungen miteinander harmonierten, gehört zu den bemerkenswerten Seiten des Philosophen John Stuart Mill. Ein Kunstexperte braucht selbst kein großer Maler zu sein. Ebenso muss ein Philosoph, der uns den Begriff der Freiheit erläutern kann, kein Vorkämpfer gegen Unterdrückung sein. Doch Mill war genau dies: ein mutiger, unerschrockener Mann, der auch die Außenseiterexistenz nicht scheute und keinem Konflikt mit der Gesellschaft auswich.

Dazu musste er allerdings einen weiten Weg zurücklegen. Seine gesamte Jugend verbrachte er in den Fesseln einer Erziehung, die sein Vater James Mill für ihn vorgesehen hatte. James Mill stammte aus kleinen und beengten Verhältnissen in der schottischen Provinz, hatte sich als Selfmademan und Freigeist zum Mittelpunkt der radikaldemokratischen Opposition in London, der sogenannten »radicals«, emporgearbeitet. Er gehörte schließlich zu den bekanntesten Intellektuellen der englischen Hauptstadt und bekleidete einen hohen Posten in der East India Company.

Vor allem aber war James Mill ein Anhänger des »Utilitarismus« (von lat. »utilitas« = »Nützlichkeit«), einer philosophischen Richtung, die von seinem Freund Jeremy Bentham Ende des 18. Jahrhunderts begründet worden war. Bentham propagierte nicht nur, dass Nützlichkeit Maßstab jedes moralischen Handelns sein müsse mit dem Ziel, das »größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl« zu befördern; er forderte auch eine Reform gesellschaftlicher Institutionen nach streng rationalen Prinzipien.

James Mill wollte seinen 1806 in London geborenen Sohn zu einem Modell utilitaristischer Erziehung machen. Ganz im Sinne der Maxime, »keine Zeit zu verlieren«, konzentrierte sie sich ausschließlich auf die Entwicklung rationaler Fähigkeiten, während seelische und emotionale Anlagen vernachlässigt wurden. John Stuart besuchte weder Schule noch Universität. Er lernte in häuslicher Abgeschiedenheit und war einem genauen Erziehungsplan unterworfen. Unter der strengen Aufsicht seines Vaters lernte er mit drei Jahren Griechisch, mit acht Jahren Latein und mit zehn Jahren die Differenzialrechnung. Dazu kam eine Unmenge schöngeistiger und historischer Lektüre. In Anspielung auf den Begründer des neuzeitlichen Rationalismus, René Descartes, für den der Mensch eine »denkende Maschine« war, schrieb John Stuart Mill später in seiner Autobiographie, er sei zu einer »reasoning machine« erzogen worden.

Zunächst erfüllte er die Erwartungen seines Vaters, trat wie dieser in die Dienste der East India Company und wurde Kopf einer Gruppe von jungen, radikalen Reformern im Geist des Utilitarismus. Spätestens seit John Locke Ende des 17. Jahrhunderts die absolute Macht des Staates in Frage gestellt und seit mit der »Glorreichen Revolution« von 1689 eine eingeschränkte, konstitutionelle Monarchie eingeführt worden war, gab es in keinem anderen Land Europas eine so ausgeprägte öffentliche Diskussionskultur wie in England.

Für die jungen »radicals« gingen diese Errungenschaften aber nicht weit genug. In zahlreichen brillanten Artikeln schrieb Mill schon als geistig frühreifer Teenager gegen den Reformstau in Kirche und Staat an. In der Sicht der Öffentlichkeit galt er als verlässliches Sprachrohr seines Vaters.

Die vom Vater gelegten Fundamente prägten Mills Leben noch lange. Er blieb sein Leben lang Utilitarist und verbrachte insgesamt fünfunddreißig Jahre in Diensten der East India Company. Ab den 1830er Jahren füllte er allerdings die utilitaristische Position mit neuen, von den Ansichten seines Vaters abweichenden Inhalten und begann ein eigenständiges und umfangreiches philosophisches Werk zu publizieren. Zwar hielt er wie Bentham an dem gesellschaftlichen »Glück« als dem Ziel politischen und moralischen Handelns fest, doch sah er dieses Glück nicht mehr als eine Anhäufung von »pleasure«, von »Lust«, sondern als ein durch geistige und kulturelle Erfahrungen qualifiziertes Glück.

Eine erste große persönliche Krise erlebte er mit zwanzig Jahren, als er sich eingestehen musste, dass das vernünftige Streben nach gesellschaftlicher Nützlichkeit alleine ihn nicht glücklich machte. Er löste sich von einem einseitigen Rationalismus und erkannte die Bedeutung einer ganzheitlichen Entwicklung der Persönlichkeit, wie sie der englische Dichter und Theoretiker Samuel Taylor Coleridge und die deutsche Literatur der Goethezeit propagierten. Der junge Kopfarbeiter entdeckte die Welt der Poesie und Gefühle.

Mill war 24 Jahre alt, als er mit dieser Welt auch leibhaftig in Berührung kam. Er traf Harriet Taylor, die Frau eines wohlhabenden Londoner Kaufmanns, die zur Liebe seines Lebens wurde. Obwohl ihr Verhältnis lange Zeit eher den Charakter einer »Seelenfreundschaft« und engen geistigen Verbindung hatte, löste es im viktorianischen England einen Skandal aus und führte dazu, dass sich beide in die gesellschaftliche Isolation zurückzogen. Erst 1851, nach dem Tode ihres Mannes, konnte Mill Harriet heiraten.

Harriet Taylor war eine kreative und geistig sehr produktive Frau, die ein Jahrhundert später im intellektuellen Leben eines westlichen Landes sicher eine große Rolle gespielt hätte. Im viktorianischen Zeitalter, in dem Autorinnen häufig noch männliche Pseudonyme annahmen, um in der Öffentlichkeit anerkannt zu werden, blieb ihr dies verwehrt. Obwohl sie sich immer wieder mit Artikeln zu Wort meldete, ist der größte Teil ihrer geistigen Hinterlassenschaft nur indirekt sichtbar – in dem Einfluss nämlich, den sie auf Mills Werk ausübte.

Harriet war es, die Mill dazu brachte, sich stärker mit der sozialen Lage der Arbeiterschaft in der frühindustriellen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Von einem reinen Liberalismus, der alles dem freien Markt überlassen wollte, rückte Mill unter dem Einfluss Harriets nun ab. Anknüpfend an die Schriften des französischen Frühsozialisten Claude Henri de Saint-Simon, trat er nun stärker für soziale Reformen und eine gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums ein. Er versuchte die Forderung nach individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit miteinander zu verbinden. In seinen 1848 fast gleichzeitig mit dem Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels erschienenen Prinzipien der politischen Ökonomie widmete er der »Zukunft der arbeitenden Klassen« ein eigenes Kapitel.

Harriet bestärkte auch Mills Interesse an der gesellschaftlichen Lage der Frau. Die Erfahrung der sozialen Ächtung und des gesellschaftlichen Konformitätsdrucks, denen Harriet und Mill ausgesetzt waren, machten ihn für die unterschiedlichen moralischen Maßstäbe, die an Männer und Frauen angelegt wurden, sensibel. Kein anderer Philosoph des 19. Jahrhunderts hat in seiner Forderung nach Freiheit so nachdrücklich die Rechte die Frau eingefordert wie Mill.

Die Erfahrung, dass die eigene Lebenserfüllung mit den gesellschaftlichen Konventionen in Konflikt geriet, führte aber auch dazu, dass Mill gegenüber dem Anspruch der Gesellschaft, auf das Leben des Einzelnen Einfluss zu nehmen, nun eine äußerst kritische Haltung einnahm. Bereits Anfang der 1830er Jahre hatte er das Werk Auguste Comtes, des Begründers des Positivismus (von lat. »positum« = das »erfahrungsmäßig Gegebene«), kennen gelernt. Wie dieser glaubte er, dass jede Gesellschaftstheorie sich auf die Ergebnisse der Naturwissenschaften stützen muss. Die gesellschaftspolitischen Vorstellungen Comtes, die auf eine totale Kontrolle und Reglementierung der Gesellschaft hinausliefen, lehnte er jedoch ab.

Hierin bestärkt wurde er durch einen anderen Franzosen, Alexis de Tocqueville, einen Vordenker des Liberalismus. Tocqueville war ein scharfsinniger Beobachter zeitgenössischer gesellschaftlicher Entwicklungen. Er sah die Freiheit des Individuums auch dort gefährdet, wo man es am wenigsten vermutete: in den gerade entstehenden modernen Demokratien und Massengesellschaften. In Über die Demokratie in Amerika, dessen zwei Bände 1835 bis 1840 erschienen, zog er optimistische, aber auch skeptische Schlussfolgerungen aus seinen Reiseerfahrungen in den jungen Vereinigten Staaten. Zu den skeptischen Folgerungen gehörte die These, dass die entstehende Massendemokratie eine neue Form der öffentlichen sozialen Macht ausbilde, die auf eine »Tyrannei der Mehrheit« hinauslaufe. Der Druck der öffentlichen Meinung sei in den modernen Demokratien die größte Gefahr für die Freiheit des Einzelnen. Auch fürchtete Tocqueville eine Machtkonzentration in Händen des Staates. Er war ein Kritiker der Zentralisierung. Mill las Tocquevilles Buch unmittelbar nach dessen Erscheinen und würdigte es ausführlich in einer Rezension.

Die Verteidigung des Ideals der allseitig entwickelten Persönlichkeit, das er in den Schriften Goethes und Coleridges kennen gelernt hatte, fand er in der Schrift des Deutschen Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, wieder. Das 1851 im Original und 1854 in englischer Übersetzung erschienene Buch zog aus dem Goethe’schen Ideal politische Konsequenzen: »Der wahre Zweck des Menschen«, so schreibt Humboldt, »ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässlichste Bedingung.« Das Stichwort »Freiheit« war gefallen.

Den entscheidenden Anteil daran, dass aus diesen philosophischen Anstößen die Freiheitsschrift entstand, hatte aber Harriet Taylor. In den frühen 1850er Jahren, als beide an Tuberkulose erkrankt waren und glaubten, nicht mehr viel Zeit zu haben, verfielen Harriet und Mill gemeinsam auf die Idee, ihre wichtigsten philosophischen Gedanken in einem Essayband zu versammeln. Einer von elf geplanten Essays sollte das Thema »Freiheit« behandeln. Harriet Taylor hatte bereits in einem unveröffentlichten Essay mit dem Titel »Toleration« das Recht des Individuums herausgestellt, auch eine Außenseiterexistenz gegen die Vorurteile der Gesellschaft durchzusetzen.

Daran anknüpfend entwickelte Mill seine Gedanken über die Freiheitsansprüche, die das Individuum gegenüber der Gesellschaft hat. Nach eigenem Zeugnis ging er mit Harriet jede einzelne Zeile des Manuskripts mehrmals durch. Das Buch, das Mill als die am sorgfältigsten konzipierte seiner Schriften bezeichnete, sei, so schrieb er, »ebenso ihr geistiges Eigentum wie das meine«.

Die Ausarbeitung des Essays kostete allerdings mehrere Jahre. Eine erheblich kürzere Frühfassung war schon 1854 fertig gestellt. Auf einer Italienreise habe er dann, so Mill, im Januar 1855 auf den Stufen des Kapitols in Rom den Plan gefasst, das Freiheitsthema zu einem Buch auszuarbeiten. Aber erst nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst der East India Company konnte er die Schrift vollenden. Im Winter 1858 / 59 legte er letzte Hand an das Manuskript. On Liberty, wie die Schrift im englischen Original heißt, ist mehr als ein philosophischer Essay: Sie ist ein Denkmal für Harriet Taylor, die noch vor der Publikation des Buches verstorben war und der es gewidmet ist.

Mill macht gleich zu Beginn seiner Schrift klar, dass es ihm nicht um jene Art Freiheit geht, die die Philosophen als »Willensfreiheit« bezeichnen und die in der Fähigkeit besteht, die naturgesetzliche Kette von Ursachen und Wirkungen durch eigene Handlungsentscheidungen zu durchbrechen. Diese Freiheit ist ein angestammtes Thema der Metaphysik. Mill geht es vielmehr um die bürgerliche und soziale Freiheit, also jene Freiheit, die Thema der politischen Philosophie und Gesellschaftstheorie ist. Sie bezeichnet den Handlungsspielraum, den der Einzelne gegenüber der Gesellschaft hat. Über die Freiheit ist Mills Stellungnahme zum ewigen Kampf zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Freiheit und Autorität.

Gleich im Einleitungskapitel seiner Freiheitsschrift greift Mill Tocquevilles These von der »Tyrannei der Mehrheit« auf, die sich mit seinen eigenen Erfahrungen in der viktorianischen Gesellschaft deckte. Die Verfechter der Freiheit hätten sich in der Vergangenheit, so Mill, im Namen des Volkes gegen die Unterdrückung der Mehrheit durch eine ungerechtfertigte Minderheitenherrschaft gewandt. Nun aber, da im Zuge der Aufklärung Herrschaft sich durch den Willen der Mehrheit legitimiere, sei eine neue Gefahr entstanden: die Gefahr nämlich, dass im Namen der Mehrheit unterdrückt werde. Mill spielt hier auf die Lehre von der Volkssouveränität an, die Jean-Jacques Rousseau in seinem Gesellschaftsvertrag entwickelt hatte. Danach repräsentiert der Staat, der durch einen solchen Gesellschaftsvertrag entstanden ist, den »Gemeinwillen«, der niemals ungerecht sein kann, weil er als solcher schon den Willen des Volkes repräsentiert. Demgegenüber weist Mill darauf hin, dass »das Volk, welches die Macht ausübt, nicht immer dasselbe Volk ist, über welches es sie ausübt«. Auch eine Volksregierung kann Unterdrückung und Zwang einsetzen. Und auch hier gibt es Minderheiten und Andersdenkende, gegen die sich dann eine neue »Tyrannei der Mehrheit« richtet.

Diese neue Tyrannei bedient sich nicht nur staatlicher Zwangsmittel, sondern auch des sozialen Drucks. In ihm sieht Mill eine noch größere Bedrohung. Denn er ist es, der in das Privatleben der Individuen eingreift, Möglichkeiten des Einzelnen, sein Leben zu gestalten, verhindert und ihn zwingt, nach dem Modell der Mehrheit zu leben. Wie Tocqueville sieht er in den modernen Massengesellschaften die Gefahr, dass die gesellschaftlichen Überwachungs- und Kontrollmöglichkeiten zu Ungunsten des Individuums vergrößert werden.

Eine freie Gesellschaft ist für Mill deshalb nicht nur durch den Einfluss der Mehrheit, sondern auch durch den Schutz derjenigen gekennzeichnet, die von der Mehrheit abweichen. Im Mittelpunkt dieses Schutzes steht die Freiheit des Individuums. Nur durch ihre Verwirklichung ist die »Tyrannei der Mehrheit« wirklich zu verhindern. Mill formuliert deshalb ein Freiheitsprinzip, das um das Individuum die größtmögliche Schutzmauer zieht. Es lautet: »Dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen das Mitglied einer zivilisierten Gesellschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten.« Der Handlungsspielraum, den der Einzelne gegenüber der Gesellschaft besitzt, kann nur durch den Handlungsspielraum der anderen begrenzt werden. »Die einzige Unabhängigkeit«, so Mill, »die diesen Namen verdient, ist die Möglichkeit, unser eigenes Wohl auf unsere eigene Weise zu erreichen, solange wir nicht versuchen, andere ihres Gutes zu berauben ...« Mit anderen Worten: Was keinem anderen schadet, ist erlaubt.

Mill verwehrt der Gesellschaft auch ein Recht, das sie in autoritären und halb-autoritären politischen Systemen gerne zur Begründung ihrer »Schutzmaßnahmen« anführt: nämlich zum Wohl des Einzelnen gegen dessen Willen zu handeln. Es ist ein besonders infamer Druck, der damit gerechtfertigt wird, dass er den »eigentlichen« Interessen des Individuums dient und zu seinem »Besten« ausgeübt wird. In der Tradition der Aufklärung hält Mill demgegenüber an der Mündigkeit des Bürgers fest. Der Einzelne weiß selbst am besten, was für ihn gut ist.

Kann aber diese sehr weit gefasste individuelle Freiheit dem Gemeinwohl dienen? Mill bejaht diese Frage. Je freier die Bürger, so seine Überzeugung, desto mehr wird die Gesellschaft letztlich profitieren. Er unterscheidet dabei zwischen drei Arten von Freiheit: der Meinungs- und Redefreiheit, der Freiheit, seine eigene Lebensform zu wählen, und der Versammlungsfreiheit, die der Bürger in Anspruch nimmt, um seinen politischen Einfluss geltend zu machen. Es sind die ersten beiden Arten von Freiheit, die im Mittelpunkt seiner Schrift stehen.

Die Meinungsfreiheit oder »Gedanken- und Diskussionsfreiheit« (»liberty of thought and discussion«), wie er sie nennt, umfasst bei Mill nicht nur die »innere Freiheit«, eigene Überzeugungen zu bilden und diese in einem beschränkten Kreis ungehindert zu äußern. Noch wichtiger für ihn sind die öffentlichen Äußerungsformen dieser Freiheit, z. B. in publizistischen oder wissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Ein wesentlicher Nutzen der Meinungsfreiheit liegt nach Mill darin, dass eine ausgeprägte öffentliche Streitkultur der Wahrheitsfindung und damit der Lösung von Problemen dient.

Mill stützt diese These mit drei Argumenten: Nehmen wir erstens an, eine gegensätzliche Meinung sei falsch. Dann sollte sie geäußert werden dürfen, weil sie uns zwingt, bessere Argumente für unsere eigene Meinung zu finden und damit unseren Wahrheitsanspruch öffentlich besser zu untermauern. Nehmen wir zweitens an, eine gegensätzliche Meinung sei wahr. Dann verdient sie erst recht Gehör, weil sie uns vom Irrtum abbringt. Nehmen wir drittens an, verschiedene gegensätzliche Meinungen seien teilweise wahr und teilweise falsch. Dann wird das Finden der Wahrheit durch die öffentliche Austragung von Argumenten in jedem Fall befördert.

Dahinter steht Mills Überzeugung, dass wir der Wahrheit nie endgültig habhaft werden, sondern lediglich hoffen können, bestimmte Überzeugungen als falsch nachzuweisen. Er vertritt also einen »Fallibilismus«, wonach nicht der Beweis der Wahrheit, sondern der Nachweis der Falschheit, also die Irrtumsermittlung die Grundlage unseres Wissensfortschritts ist. In unserer Suche nach Wahrheit kommen wir deshalb nur weiter, wenn wir eine unbeschränkte öffentliche Diskussion zulassen, die alle Überzeugungen auf den Prüfstand stellt. Meinungsfreiheit ist für Mill die Grundlage einer nie abgeschlossenen Wahrheitsfindung und damit auch die Grundlage dafür, dass sich eine Gesellschaft die am weitesten fortgeschrittenen Erkenntnisse zunutze machen kann. Die Erfahrung mit totalitären Gesellschaften, in denen Erkenntnisse und Forschungsergebnisse aus ideologischen Gründen unterdrückt und dringende Reformen deshalb verschleppt werden, bestätigen Mill.

Die Freiheit, sein eigenes Leben zu führen und seine Individualität ungehindert zu entfalten, auch wenn dies in den Augen der Gesellschaft als »ungebührlich« oder »exzentrisch« gilt: Dieses Anliegen Harriet Taylors übernimmt Mill in prononcierter Form. Hatte Immanuel Kant noch im Sinne der Aufklärung gefordert: »Wage es, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«, so geht es Mill nicht nur um theoretische Mündigkeit, sondern um die lebenspraktische Selbstverwirklichung. Überall dort, wo die Interessen anderer – sei es die von Individuen oder die der Gesellschaft – nicht berührt sind, soll der Einzelne freie Entfaltungsmöglichkeit haben.

Mills Begriff der »Persönlichkeit« ist nicht nur von Goethe, sondern auch von den Schriften seines englischen Zeitgenossen Thomas Carlyle beeinflusst, der den Wert großer Persönlichkeiten und die Bedeutung von Individuen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten herausstellte. Auch für Mill ist das Individuum – und nicht der Staat oder die Gesellschaft – der Ort der Kreativität. Deshalb muss es auch im übergeordneten Interesse der Gesellschaft liegen, ausgeprägte Individualitäten zu ermöglichen und zu fördern. Freie Gesellschaften fördern aktive und selbstbewusste Bürger, Despotien dagegen lassen Passivität und Duckmäuserei entstehen. Ein warnendes und abschreckendes Beispiel ist für Mill die auf Konformität beruhende chinesische Gesellschaft.

Die Gesellschaft muss also einen Raum schaffen, in dem die verschiedensten Individuen ihre Kreativität entfalten können. Sie muss, in anderen Worten, pluralistisch sein, also das Nebeneinander verschiedener Lebensformen ermöglichen. Statt für Einheitlichkeit, Harmonie oder Konformität der Lebensformen plädiert Mill für möglichst große Vielfalt. Der Routine setzt er die Spontaneität, der Kopie die Originalität, der Stagnation das Experiment entgegen. Möglichst viele »experiments of living«, also Erprobungen von Lebensentwürfen, sind nach Mill die Voraussetzung dafür, dass sich eine Gesellschaft nach vorne bewegt. Diejenigen, die anders leben, sind keine Störenfriede, sondern das Ferment einer lebendigen Gesellschaft. Jede gesellschaftliche Zensur privater Lebensentwürfe lehnt er ab. Über seinen Körper und Geist, so Mill, hat das Individuum Souveränität.

Dies gilt, so Mill, auch für Frauen, die außerhalb der Ehe keine materielle Absicherung und innerhalb der Ehe keine Rechte hatten und vom Mann wie ein Eigentum behandelt werden konnten. Mill hielt diese Zustände für skandalös und forderte die vollständige Gleichstellung von Mann und Frau – eine Position, die er in seiner späteren Schrift Die Hörigkeit der Frau (1869) noch ausarbeitete und mit der er zu einem Vorreiter der Frauenemanzipation werden sollte.

Auch gegen die Annahme von »Pflichten gegen sich selbst«, wie sie Kant 1797 in seiner Metaphysik der Sitten begründet hatte, äußert Mill Bedenken. Solange der Einzelne nicht den Interessen der Gesellschaft zuwiderhandelt und nicht den Lebensspielraum anderer verletzt, muss er in Ruhe gelassen werden. Wenn also ein Alleinstehender, der finanziell abgesichert ist, seine Körperpflege vernachlässigt und zu trinken anfängt, so hat er noch keine Pflichten verletzt und der Gesellschaft noch keine Rechtfertigung gegeben, einzugreifen. Legt jedoch ein Familienvater ein solches Verhalten an den Tag und vernachlässigt er dadurch die Erziehung seiner Kinder oder nimmt öffentliche Sozialleistungen in Anspruch, so liegt eine Pflichtverletzung vor, auf die die Gesellschaft mit sozialen oder rechtlichen Maßnahmen reagieren kann.

Mill war sich natürlich selbst im Klaren darüber, dass hier der Teufel im Detail steckt und dass es nicht immer einfach ist, sich darauf zu verständigen, ob die Gesellschaft »betroffen« ist oder nicht. Deshalb diskutiert er am Ende seines Essays zahlreiche Anwendungen seiner Theorie. Auch macht er einige Einschränkungen bezüglich derjenigen, die das Recht auf individuelle Selbstverwirklichung in Anspruch nehmen dürfen. Es gilt, so formuliert er, nur für Menschen mit »völlig ausgereiften Fähigkeiten«. Damit sind Minderjährige, aber auch Menschen mit einem sehr geringen Bildungsniveau ausgeschlossen. Bildung und zivilisatorische Errungenschaften sind für Mill Bedingungen dafür, dass Freiheit ihre Wirkung als Dünger des gesellschaftlichen Fortschritts entfalten kann. Auch der revolutionäre Theoretiker der Freiheit konnte nicht ganz über den Schatten des viktorianischen Bildungsbürgers springen. Doch blieb er immer der Überzeugung treu, dass »der Wert eines Staates auf lange Sicht der Wert der Individuen ist, die ihn bilden«. Und dieser Wert wird in der Münze der Freiheit gezahlt.

 

Über die Freiheit erschien im Frühjahr 1859 beim Londoner Verleger John W. Parker. Mill betrachtete die Schrift als das theoretische Vermächtnis Harriet Taylors, aber auch als dasjenige seiner Werke, das die größte Wirkung versprach. Nach dem Erscheinen beendete er seine Isolation und seinen Rückzug ins Private. Er engagierte sich in der Politik, saß für kurze Zeit als Abgeordneter im Unterhaus und machte sich als Reformer und besonders als Fürsprecher von Frauenrechten einen Namen.

Wie er erwartet hatte, wurde Über die Freiheit seine am meisten beachtete Schrift. Sie wühlte die englische Öffentlichkeit auf, zog gehässige Polemiken nach sich, übte aber auch auf eine ganze Generation junger Intellektueller einen prägenden Einfluss aus. Sie wurde zur Programmschrift und zur Gründungsurkunde des modernen Liberalismus und machte Mill in der angelsächsischen Welt zum einflussreichsten Philosophen des 19. Jahrhunderts.

Als Verteidiger individueller Freiheit wurde Mill im 20. Jahrhundert zum Vordenker der Kritiker des modernen Totalitarismus. Dass der Mensch nicht zum Werkzeug des Staates degradiert werden darf und die menschliche Würde untrennbar mit Freiheit verbunden ist, haben im Anschluss an Mill Liberale wie Friedrich A. Hayek und Karl R. Popper betont. Poppers kritischer Rationalismus tritt dabei nicht nur für eine »offene Gesellschaft« ein, in der die Ansprüche des Individuums geachtet sind, sondern Popper glaubt wie Mill an die Rolle der freien Diskussion und der Irrtumsverringerung für die Wahrheitssuche. Aber auch ein Popper-Kritiker wie Paul Feyerabend, der anstelle einer einheitlichen Methode einen Pluralismus von Weltdeutungen und Lebensformen fordert, konnte sich in der Tradition Mills sehen.

Über die Freiheit verteidigt das Kostbarste an der Demokratie: das Recht, anders sein zu dürfen. Gerade der Umgang mit den in jeder Generation neu entstehenden »alternativen« Lebensformen bestätigt die Auffassung Mills, dass eine Gesellschaft genau so frei ist wie ihre Minderheiten und Außenseiter.

 

Ausgabe:

John Stuart Mill: Über die Freiheit. Aus dem Englischen übersetzt von Bruno Lemke. Mit Anhang und Nachwort herausgegeben von Manfred Schlenke. Stuttgart: Reclam 1974 (mit bibliografischem Anhang 1988).