Wären wir bessere Menschen, wenn uns Philosophen erzogen hätten oder wenn unsere Erziehung nach philosophischen Maßstäben erfolgt wäre? Leise Zweifel sind hier wohl angebracht. Offensichtlich aber ist, dass Philosophen sich immer wieder Gedanken um die richtige Erziehung gemacht haben und dass von der Philosophie wichtige und bleibende Impulse für die Pädagogik ausgegangen sind, lange bevor es eine »Pädagogik« im heutigen Sinne gab. So hat Platon, einer der großen Klassiker der griechischen Philosophie, in seinem Hauptwerk Politeia der Frage große Bedeutung zugemessen, wie denn die zukünftigen Herrscher seines Idealstaates erzogen werden sollten, und ein ausgeklügeltes Erziehungsprogramm aufgestellt, in dem die Abfolge von körperlicher Ertüchtigung und geistiger Bildung genau geregelt ist.
Derjenige Philosoph aber, der unbestritten den größten Einfluss auf unsere Vorstellungen von Erziehung gehabt hat, ist der aus dem schweizerischen Genf stammende Jean-Jacques Rousseau. Rousseau ging es nicht um die Erziehung von »Funktionsträgern«, um eine »Ausbildung« also, die uns in die Lage versetzen soll, bestimmte gesellschaftliche Aufgaben effektiv zu erfüllen. Er wollte den Menschen zum Menschen erziehen, zu dem, was seine Würde ausmacht und seinen Fähigkeiten entspricht. Rousseaus Erziehungslehre ist damit Teil einer Lehre vom Menschen und von seinem Verhältnis zu Kultur und Gesellschaft.
Dabei vollzieht Rousseau eine kulturgeschichtlich höchst einflussreiche Kehrtwendung: Nicht der zivilisierte Mensch ist Ziel seines Erziehungsprogramms, sondern der natürliche Mensch, der von allem künstlichen Ballast, den die Zivilisationsgeschichte angehäuft hat, frei ist. Von allen Menschen, denen wir begegnen, ist es das Kind, der junge, unverbildete Mensch, der diesem natürlichen Menschen am nächsten kommt. Daher erhält das Kind mit seinen ganz eigenen Verhaltensweisen und Bedürfnissen auf diesem Weg zur Natürlichkeit einen besonderen Stellenwert. Aus den natürlichen Anlagen des Kindes den wahren Menschen zu bilden: Dies war im 18. Jahrhundert, in dem Kinder noch als kleine Erwachsene gemalt wurden und ihr Kindsein möglichst schnell ablegen sollten, ein revolutionäres Experiment.
Das Buch, in dem Rousseau dieses Experiment vorführt, trägt selbst experimentelle Züge: Es ist eine Mischung aus Traktat, Roman und Fallstudie. Zugleich ist es dasjenige Werk, das Rousseau für sein wichtigstes hielt. Es trägt den Titel Emile, benannt nach der Hauptfigur, dem Zögling Emile, der Gegenstand des Erziehungsexperiments ist. Emile führt vor, was aus dem Menschen werden kann, wenn man ihn von den schädlichen Einflüssen der Gesellschaft fernhält. Der Leser erlebt den Naturmenschen im Laborversuch, von der Geburt bis zur Eheschließung. Emile veränderte unsere Auffassung vom Menschen grundlegend und wurde zur einflussreichsten Erziehungstheorie in der Geschichte der Philosophie.
Mit seinem Programm »Zurück zur Natur!« schlug Rousseau wie ein Meteorit in die geistige Landschaft einer Epoche ein, die wie keine zuvor glaubte, allen vorhergehenden Zeitaltern zivilisatorisch überlegen zu sein. Aber auch für die Pariser Aufklärungsintellektuellen, die »philosophes«, war der Schweizer Autodidakt ohne Vermögen und vornehme Familienherkunft, der ein Vagabundenleben geführt und in den verschiedensten Bereichen der Kunst dilettiert hatte, ein explosives Naturereignis und eine höchst ungewöhnliche Erscheinung.
In der Tat hat Rousseaus Lebensgeschichte, die er später in seinen Bekenntnissen literarisch verarbeitete, immer genauso viel Interesse erweckt wie sein unorthodoxes Werk. Der 1712 in Genf geborene Jean-Jacques hatte eine Kindheit und Jugend, die man heute als »sozial problematisch« bezeichnen und die die pädagogischen Bemühungen von Streetworkern auf den Plan rufen würde.
Zwar wächst er als Sohn eines Uhrmachers im Genfer Mittelstand auf und erhält von seinem Vater zunächst auch zahlreiche Leseanregungen. Doch die Familie bricht schnell auseinander. Die Mutter verstirbt früh, Rousseaus Bruder wird in eine Erziehungsanstalt gegeben, und auch sein Vater verlässt die Familie, als Rousseau gerade zehn Jahre alt ist. Er wird zu einem Pfarrer in Obhut gegeben und lernt das Handwerk des Gravierens. Die Erziehung im Pfarrhaus hat er in schlechter Erinnerung behalten: Er wird gezüchtigt und mit trockenem Schulwissen vollgestopft.
Doch auch Genf, die Stadt Calvins, hat mit ihrem streng protestantischen geistigen Klima viele seiner Anschauungen bis an sein Lebensende beeinflusst. Rousseau verabscheute Luxus, die Künstlichkeit gesellschaftlicher Umgangsformen und die großen Städte als Horte von Laster und Vergnügungen. Sogar der Kunst stand er ablehnend gegenüber, wenn sie sich als Form gesellschaftlicher Unterhaltung präsentierte. So hat er in späteren Jahren Voltaires Absicht bekämpft, in Genf ein öffentliches Theater zu errichten. Obwohl Rousseau sich in vielen Punkten von der reinen calvinistischen Lehre entfernte, hatten seine Ideale der Natürlichkeit und der Tugend puritanische Züge, die auf seine calvinistischen Wurzeln verweisen.
Mit sechzehn Jahren verlässt Rousseau Genf ohne abgeschlossene Ausbildung, ohne Arbeit und ohne Ziel. Vierzehn Jahre lang wechselt er in der Region Südfrankreich, Schweiz und Norditalien von einem Ort zum anderen, verdingt sich als Hauslehrer und Katasteramtsgehilfe, oder er zieht einfach als Landstreicher und Musikant über das Land. In Turin wird er von einem katholischen Priester verköstigt und lässt sich von diesem überreden, zum Katholizismus überzutreten. Besonders lange ist er im Gebiet des damals unabhängigen Herzogtums Savoyen unterwegs und unternimmt dort ausgiebige Wanderungen. Seine intensiven Naturerfahrungen prägen seine entstehende Weltanschauung nachhaltig. Das ländliche Leben zieht er zeitlebens dem Stadtleben vor.
Rousseau war ein sensibler, aber auch emotional sehr unausgeglichener Mensch. Er neigte sowohl zur Schwärmerei als auch zur Wehleidigkeit. Konflikte mit Menschen führten bei ihm sehr leicht zu endgültigen Zerwürfnissen. Auch eine gleichberechtigte, reife Beziehung zu einer Frau zu entwickeln fiel ihm schwer. In die sozialen Konventionen der höheren Gesellschaft konnte er sich nie einfinden. Er blieb ein schwieriger Sonderling.
Doch an Bildung fehlte es dem Provinzler Rousseau keineswegs. Er eignete sich beträchtliche Kenntnisse auf dem Gebiet der Musik an, die ihn nicht nur befähigten, jahrelang als Musiklehrer zu arbeiten, sondern auch der Academie Française ein musiktheoretisches Werk vorzulegen. Vor allem aber auf dem Gebiet der Literatur und Philosophie war er äußerst bewandert. So kannte er nicht nur die Erziehungsvorstellungen Platons, sondern auch die 1693 erschienenen Gedanken über die Erziehung des englischen Aufklärungsphilosophen John Locke, die seinen eigenen Anschauungen sehr entgegenkamen und sie auch beeinflussten. Locke wies hier bereits auf die besonderen Bedürfnisse des Kindes hin und verstand Lernen als eine Form der natürlichen Entwicklung, die sich am Vorbild eines Erziehers orientiert. Allerdings strebte Locke, anders als Rousseau, eine standesorientierte Erziehung, eine Erziehung zum Gentleman, an und gab der Entwicklung geistiger Kräfte Vorrang vor den körperlichen.
1742 ließ sich Rousseau in Paris nieder, wo er zunächst weiterhin in untergeordneten Stellungen sein Geld verdiente. Ein Jahr lang ging er sogar als Botschaftssekretär nach Venedig. Doch es gelang ihm, Anschluss an die Pariser Intellektuellenszene zu finden. Die dauerhafteste dieser Verbindungen war die Freundschaft mit dem beinahe gleichaltrigen Denis Diderot, der ihn auch einlud, an seiner – später berühmten – Enzyklopädie mitzuarbeiten. Diderot, Philosoph, Literat und Freigeist, kam wie Rousseau aus kleinen Verhältnissen, war arm und verfolgte wie dieser hochfliegende literarische Pläne.
Die Geburt des Philosophen Jean-Jacques Rousseau fällt in den Herbst des Jahres 1749, als er zu Fuß von Paris nach Vincennes geht, um seinen Freund Diderot zu besuchen, der dort eine von der Zensur verhängte Gefängnisstrafe absitzt. Er entdeckt eine Ausschreibung der Akademie von Dijon: »Ob die Erneuerung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen habe, die Sitten zu bessern«. Der bis dahin völlig unbekannte Rousseau sendet einen Beitrag ein und erhält den Preis der Akademie. Mit seiner Preisschrift, dem 1750 erschienenen ersten Discours, der Rede über die Wissenschaft und Künste, schlägt er den Grundton seiner Philosophie an. Zur Überraschung der Jury singt Rousseau nicht das Lied des wissenschaftlichen und künstlerischen Fortschritts, sondern behauptet, dass Wissenschaft und Kunst, die angeblichen Stützen der Zivilisation, nur Unglück und Verderbnis über die Menschen gebracht hätten. »Allmächtiger Gott«, schreibt Rousseau, »erlöse uns von den Kenntnissen und den unheilvollen Künsten unserer Väter und gib uns die Unwissenheit, die Unschuld und die Armut zurück.«
Von da an sieht er es als seine vornehmliche philosophische Aufgabe an, die angeblichen Errungenschaften der Zivilisation anzuprangern und die Tugend als die »erhabene Wissenschaft der schlichten Seelen« zu predigen. Es ist eine Tugend, in der Einfachheit gegen Künstlichkeit und Luxus, in der Arbeit gegen Muße und in der die intuitiven Fähigkeiten des »Herzens« gegen die rationalen Fähigkeiten des Verstandes ausgespielt werden, wie dies auch schon hundert Jahre zuvor in den Gedanken Blaise Pascals geschieht. Auch die Ungleichheit unter den Menschen ist für Rousseau die Konsequenz aus einer Menschheitsgeschichte, die er als Verfallsgeschichte begreift. In dem 1755 erschienenen zweiten Discours, der Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, macht er die Einführung des Privateigentums für die Entstehung der Klassen- und Standesgegensätze unter den Menschen verantwortlich.
Nach vielen Jahren Großstadtleben zieht sich Rousseau 1756 nach Montmorency nördlich von Paris zurück. Dort erlebt er seine produktivste Phase als Schriftsteller. Er klagt ständig über seine schlechte Gesundheit, doch er arbeitet ununterbrochen. Die Kinder, die er mit seiner Partnerin Thérèse Levasseur zeugt, gibt er in ein Findelheim.
In seiner Auflehnung gegen gesellschaftliche Vorurteile und Konventionen ist Rousseau zwar ein Aufklärer, aber ein Aufklärer ganz besonderer Art: Nicht der Verstand, sondern die Unverfälschtheit des Gefühls wird zum Kompass seiner Gesellschaftskritik. Literarisch demonstriert er dies an seinem höchst erfolgreichen Briefroman Die neue Héloïse. Die Dreiecksgeschichte zwischen dem Hauslehrer Saint-Preux, dem adligen Fräulein Julie und ihrem Gatten, dem Baron Wolgast, wertet die Rolle der Subjektivität auf und setzt einen Kult der Empfindsamkeit in Gang.
Als das Buch 1761 erscheint, ist auch schon das Manuskript des Emile vollendet, zusammen mit seinem zweiten großen Hauptwerk, dem Gesellschaftsvertrag. Nach Rousseaus eigenen Worten stellen beide Bücher ein Ganzes dar. Im Gesellschaftsvertrag geht es um die Einrichtung gesellschaftlicher und politischer Institutionen, im Emile um die Formung des Menschen als Individuum. Beide Werke beginnen mit einem rhetorischen Paukenschlag, in dem der Verlust des goldenen Zeitalters der Ursprünglichkeit und Natürlichkeit beklagt wird: »Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten«, heißt es am Anfang des ersten Kapitels des Gesellschaftsvertrags. Der erste Satz des Emile lautet: »Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.«
In Emile soll nicht der Mensch, sondern »die Natur selber« die Erziehung des Kindes leiten. Dieser Bezug zur Natur macht sich schon in der Bildlichkeit der Sprache bemerkbar. Rousseau vergleicht den Menschen mit einer Pflanze, die in Gefahr ist zu verdorren und die nur unter geeigneten Bedingungen und mit richtiger Pflege wieder »veredelt« werden kann. Zu diesem Zweck stellt er die für den Menschen geeignetsten Versuchsbedingungen her. Er zieht seinen fiktiven Zögling Emile, bildlich gesprochen, in einem Gewächshaus groß, in dem dieser ungestört gedeihen kann. Er entwirft also eine pädagogische Modellsituation.
Emile ist ein männliches Kind von adligem Stand, ein Kind also, das frei von sozialen und materiellen Zwängen aufwachsen kann. Er hat keine Geschwister. Er wird auch von Spielgefährten und, da er auf dem Land lebt, vom Sündenbabel der Stadt ferngehalten. Seine Entwicklung wird nicht von den Eltern, sondern von einem Erzieher begleitet. Dieser ist jung genug, um dem Zögling auch als Gefährte zu gelten und keine Hierarchie zwischen beiden entstehen zu lassen. Der Erzieher ist nur für Emile da und steht ihm den ganzen Tag zur Verfügung. Er lebt das Leben seines Zöglings mit.
Rousseaus Erziehungskonzeption ist für seine Zeit revolutionär. Denn der Erzieher soll keine Autorität, sondern eine Hebamme der Natur sein. Er greift nicht von außen in das Leben Emiles ein. Rousseaus Erziehungsidee ist die einer »negativen Erziehung«, einer Erziehung ohne festgelegte Regeln und Vorschriften. Sie wird von dem Grundsatz geleitet, den wir heute »learning by doing« nennen würden. Es ist eine erfahrungsorientierte Erziehung, in der Selbsttätigkeit und Selbsterfahrung im Mittelpunkt stehen. Das Kind soll das, was es weiß, durch eigene Entdeckung erwerben und dabei auch unmittelbar den Nützlichkeits- und Praxisbezug erfahren. Auch Rousseau will eine Erziehung nach den Maßstäben der Vernunft, doch seine »Vernunft« ist eine eng an die Natur angebundene Vernunft, eine Vernunft, die den Menschen das lernen lässt, was er braucht, und nicht das, was die Konvention vorschreibt.
Rousseau spricht aus eigener leidvoller Erfahrung, wenn er eine Erziehung ablehnt, in der Regeln und tradiertes Wissen lediglich aufgepfropft werden. Überhaupt wendet er sich gegen reines Bücherwissen und gegen den Vorrang intellektueller Bildung. Der Herausbildung körperlicher Fähigkeiten misst er eine mindestens ebenso große Bedeutung wie der geistigen Erziehung bei. Der kindliche Entfaltungsdrang soll weder in körperlicher noch in geistiger Hinsicht gehemmt werden.
Diese Forderung Rousseaus wird nur auf der Grundlage seines Menschenbildes verständlich. In diesem Punkt entfernt er sich von dem pessimistischen Menschenbild der Calvinisten. Er ist davon überzeugt, dass die menschliche Natur ursprünglich gut ist, und glaubt nicht, wie viele seiner Zeitgenossen, dass in den Kindern etwas Böses steckt, das es auszurotten gilt. Das Böse kommt für ihn erst durch den Einfluss der Menschen und der Gesellschaft hinzu, durch Abschwächung und Unterdrückung der natürlichen Kräfte. »Alle Bosheit entspringt der Schwäche«, so Rousseau, »das Kind ist nur böse, weil es schwach ist. Macht es stark, und es wird gut sein.«
Die von Rousseau immer wieder betonte Nützlichkeit und der von ihm geforderte Praxisbezug wiederum tragen deutlich den Stempel des bürgerlichen Selbstverständnisses, das sich von aristokratischen Werten absetzte. Im Bürgertum, das im 18. Jahrhundert immer mehr gesellschaftliche Bastionen besetzte und in der Französischen Revolution schließlich auch die politische Macht eroberte, galt Leistung mehr als Stand und Repräsentation. Vor allem die »Arbeit« im Sinne einer produktiven und wertschöpfenden Tätigkeit des Menschen wurde aufgewertet. Arbeit, Mäßigkeit in der Lebensführung, körperliche Bewegung: Dies sind typisch bürgerliche Tugenden, und es sind auch die Rousseau’schen Tugenden. Die Erziehung zum Menschen, die im Emile vorgeführt wird, schöpft in vielfacher Weise aus bürgerlichen Wertvorstellungen.
Konsequenterweise sind die ersten Lernschritte, die Emile machen soll, nicht solche des abstrakten Denkens, sondern solche des sinnlichen Erfassens. Das erste Begreifen der Welt geschieht durch eine, wie Rousseau es nennt, »sinnenhafte Vernunft«, also mit Hilfe der Füße, Hände und Augen. Das Kind lernt zunächst, indem es sich und die Umwelt sinnlich erfährt. Eines der wichtigsten Instrumente dieser frühen sinnlichen Welterfahrung ist das Spielen. Rousseau ist einer der ersten Philosophen, der der Rolle des Spielens eine zentrale pädagogische Bedeutung gibt.
Rousseau hatte in früheren Schriften immer wieder das einfache Leben in den Stadtstaaten der griechischen Antike dem verweichlichten Luxusleben seiner eigenen Zeit entgegengesetzt. Ein besonders positives Bild hatte er sich von dem asketischen Militärstaat Sparta und dessen Erziehungsvorstellungen gemacht. Mit Blick auf die »spartanisch« erzogene Jugend fordert er körperliche Abhärtung. Emile soll sich der Natur aussetzen, viel barfuß gehen und auf harter Unterlage schlafen. Ebenso müssen Kleidung und Ernährung dieser neuen, »natürlichen« Erziehung angepasst werden. Anders als die kleinen Adligen seiner Zeit, für die bestimmte Kleidervorschriften galten und die wie Pakete verschnürt wurden, bekommt Emile eine leichte und luftige Kleidung, in der er sich frei bewegen kann. Emiles Kost hat das Ökosiegel: Einfachheit der Speisen, mäßige Mengen, viel Rohkost und kein Fleisch.
Die intellektuelle Erziehung muss nach Rousseau auf der sinnlichen Erziehung aufbauen und über sie vermittelt werden. So lernt Emile Begriffe und theoretische Erklärungen immer in engem Zusammenhang mit den sinnlichen Erfahrungen, die er macht. Die Grundlagen der Geometrie eignet er sich mithilfe des Nachzeichnens von Formen an. Erd- und Himmelskunde lernt er durch unmittelbare Beobachtung der Natur. Mit Wissenschaften, die in keiner Beziehung zu seinem Erfahrungsumkreis stehen, beschäftigt er sich nicht.
Rousseau hat ein puritanisches Misstrauen gegen die Fantasie und freie, ästhetische Erfahrungen. Vor allem die Buchlektüre gilt ihm als die »Geißel der Kindheit«. Bis zu seinem fünzehnten Lebensjahr gelangen keine Bücher in Emiles Hände, mit einer einzigen, charakteristischen Ausnahme: Robinson Crusoe von Daniel Defoe, die Bibel des bürgerlichen Selfmademan, die Geschichte des Mannes, der nach einem Schiffbruch auf einer abgelegenen Insel landet und sich fern von der Gesellschaft mit eigenen Händen eine Existenz aufbaut. Robinson Crusoe erfüllte das, was Rousseau von der Literatur erwartete: Sie sollte belehrend und nützlich sein.
Emile darf kein Intellektueller werden. Er muss lernen, mit den Händen zu arbeiten und sich selbst zu versorgen. Arbeit ist für Rousseau eine gesellschaftliche Pflicht. Die Gesellschaft hat deshalb auch das Recht, Müßiggänger zur Arbeit zu zwingen. Deshalb fällt die natürliche Berufswahl auf ein Handwerk. Rousseau plädiert für ein Handwerk, in dem Emile sich nicht, wie bei der Schmiedekunst, ständig beschmutzt und das gleichzeitig auch geistige Anforderungen stellt. Er schlägt deshalb die Tischlerei vor.
Erst ab dem fünfzehnten Lebensjahr wird Emile mit der abstrakteren, geistigen Welt, also der Welt der Philosophie, Moral und Religion, vertraut gemacht. Mitten in sein Buch schiebt Rousseau nun, zur Verdeutlichung seiner religiösen und philosophischen Überzeugungen, das berühmte »Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars« ein, das an Erfahrungen anknüpft, die er als junger Mann mit katholischen Priestern in Savoyen gemacht hat. Es ist das theoretische Herzstück des Emile und enthält, von der Maske des savoyischen Vikars kaum verhüllt, das Bekenntnis Rousseaus zu einer konfessionsübergreifenden, natürlichen Religion ohne Institution und Dogma. Wie andere Aufklärer seiner Zeit macht auch Rousseau einen Unterschied zwischen der konkreten, historisch bedingten Gestalt der christlichen Kirchen und der wahren christlichen Lehre. Nur sie allein ist für ihn wesentlich. Sie ist nicht an bestimmte Riten gebunden und lässt sich auf natürliche Einsichten reduzieren.
Rousseaus religiöse Überzeugungen sind auch jene, die in der rationalistischen Aufklärungsphilosophie, z. B. von Gottfried Wilhelm Leibniz oder Christian Wolff, vertreten wurden: die Annahme der Existenz Gottes, der Unsterblichkeit der Seele und eines freien menschlichen Willens. Sie werden allerdings nicht aus der Vernunft, sondern aus einem »inneren Gefühl« und der sinnlichen Anschauung abgeleitet. Dieser Lehre entsprechend leben heißt nichts anderes, als ein moralisch gutes Leben zu führen. »Die Hauptsache auf dieser Erde ist«, so schreibt er, »seine Pflicht zu erfüllen.«
Der Zögling Emile muss irgendwann auch lernen, sich auf andere Menschen und damit auf die Gesellschaft einzustellen. In Rousseaus Roman ist dieser Zeitpunkt erst relativ spät, nämlich in der Pubertät angesetzt. Bis dahin ist Emile ein von der Gesellschaft abgeschirmtes Landei. Moralische Integrität und soziale Nützlichkeit stehen bei Rousseau höher im Kurs als taktvolles und souveränes Auftreten. Auch hier gewinnen bürgerliche Erziehungsideale die Oberhand über aristokratische. Zwar soll auch Emile Weltläufigkeit lernen, die soziale Tugend, die im Mittelpunkt der Erziehung junger Aristokraten stand. Doch sie erhält bei Rousseau eine charakteristische Färbung. Emile soll mit Umgangsformen vertraut sein, ohne dass der Schein zum Sein wird: Er soll sie beobachten, beherrschen, aber gleichzeitig Distanz zu ihnen wahren. Sein natürliches Selbstbewusstsein darf nicht in Eitelkeit und Eigenliebe abrutschen. »Er ist fest«, so Rousseau, »aber nicht selbstgefällig. Seine Manieren sind frei, aber nicht herablassend.« Die wahre Höflichkeit darf keine Routine sein, sondern besteht in einer natürlichen Güte.
Vor allem aber muss Emile das andere Geschlecht kennen lernen. Rousseau plädiert, für seine Zeit höchst ungewöhnlich, für eine offene Sexualaufklärung. Dennoch ist Emile auch hier, im Vergleich zu seinen Zeitgenossen, ein eher später Junge. Bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr soll er keine sexuellen Erfahrungen machen. Und auch dann hat er keine echte Wahl: Seine erste Partnerin wird ihm von seinem Erzieher zugeführt. Für Rousseau ist die Frage des richtigen Partners zu wichtig, als dass er sie dem Zufall überlassen könnte.
Wie der biblische Gott dem ersten Menschen eine Gefährtin zugesellt, so erschafft auch er im 5. Buch des Emile die zukünftige Frau seines Zöglings. Sie heißt Sophie. Sophies Erziehung folgt, anders als die Emiles, eher traditionellen Mustern, denn die Frau ist, so Rousseau, »dazu geschaffen, zu gefallen und sich zu unterwerfen«. Sophie wird auf den Mann hin und für ein häusliches Leben erzogen. Dass sich Emile schließlich in sie verliebt, überrascht den Leser nicht. Denn in Rousseaus Erziehungswelt lenkt die Natur auch die Liebesbeziehungen auf vernünftige Weise: »Man liebt erst, nachdem man geurteilt hat«, so lautet der – von der Lebenserfahrung unberührte – Grundsatz Rousseaus.
Nachdem Rousseau seinen Zögling noch auf die für die höheren Stände üblichen Bildungsreisen geschickt hat, setzt er an das Ende des Buches das Happy End, die Eheschließung. Der märchen- und idyllenhafte Schluss des Buches erinnert den Leser daran, dass es sich hier nicht um einen Erfahrungsbericht und auch nicht um eine praktische Lebensanleitung handelt, sondern um einen in Erzählform eingekleideten Modellversuch, dessen Ergebnisse jeder in seine eigene Wirklichkeit übersetzen muss.
Die Publikation des Emile 1762 alarmierte sofort die Zensur und löste erhebliche Turbulenzen im Leben Rousseaus aus. Er musste Paris fluchtartig verlassen und sich viele Jahre lang dem Zugriff der Behörden entziehen. Nicht die im Buch dargelegten Erziehungsmethoden, sondern die im »Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars« enthaltenen unorthodoxen Ansichten über die Religion hatten zur Beschlagnahmung und sogar zur Verbrennung des Buches geführt. Auch von Zeitgenossen erfuhr Rousseau Kritik. Voltaire war der Erste, der darüber spottete, dass ein Mann, der seine fünf Kinder ins Findelhaus gesteckt hatte, beanspruchte, den Leser über Erziehung zu belehren.
Rousseau selbst war davon überzeugt, dass Emile von allen seinen Büchern die größte Wirkung haben werde. Und spätestens als die Jakobiner seinen Leichnam ins Pariser Pantheon überführten, begann Rousseaus Karriere als Epochendenker. Die Aufklärer beriefen sich auf seine Gesellschaftskritik, sein Plädoyer für Bürgertugenden und seine Forderung nach Mündigkeit des Individuums. So ist die von Immanuel Kant formulierte klassische Forderung der Aufklärung: »Wage es, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« unmittelbar den Erziehungsgrundsätzen des Emile entnommen. Der von Rousseau initiierte Kult der Empfindsamkeit und Natürlichkeit, der das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert beherrschte, fand in Goethes Werther einen Höhepunkt. Rousseau wurde damit auch zum philosophischen Anreger der Romantik.
Vor allem aber kann Rousseau als Vater der modernen Pädagogik gelten, wie sie von dem Schweizer Rousseau-Verehrer Johann Heinrich Pestalozzi Ende des 18. Jahrhunderts begründet wurde. Die Erziehungsprinzipien der Selbstentfaltung der natürlichen Kräfte und der ganzheitlichen Erfahrung haben aber auch so unterschiedliche Denker wie Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie, oder John Dewey, den wichtigsten Erziehungstheoretiker des amerikanischen Pragmatismus, beeinflusst. Rousseaus Geist ist in allen pädagogischen Reformbewegungen des 20. Jahrhunderts spürbar und lebt auch in der Zivilisationskritik des zeitgenössischen ökologischen Denkens fort.
Rousseaus Emile ist das Werk eines philosophischen Restaurators: Hinter den Prägungen der Kultur, den sozialen Schranken und den gesellschaftlichen Konventionen hat er das Bild des Naturmenschen freigelegt, das bis heute in frischen und kräftigen Farben leuchtet. Für viele ist es das Bild des authentischen Menschen geblieben.
Ausgabe:
Jean-Jacques Rousseau: Emil oder die Erziehung. In neuer deutscher Fassung besorgt von Ludwig Schmitts. Paderborn: Schöningh 1971 (auch UTB).