Was hat der griechische Philosoph Aristoteles mit der katholischen Kirche zu tun? Nicht sehr viel, so scheint es. Zwar gibt es auch bei Aristoteles einen Gott, doch weder hat er die Welt aus dem Nichts geschaffen, noch hat er einen Sohn, der zugleich Gott und Mensch ist und die Menschen erlöst hat. Überhaupt unterhält er keinerlei persönliche Beziehungen zu den Menschen. Der Gott des Aristoteles ist ein »unbewegter Beweger«, Ursache und Zielpunkt aller Wirklichkeit. Als ein kosmologisches Prinzip ist er eine sehr rationale Konstruktion, ein typischer Philosophengott. Hätte Aristoteles die christliche Religion gekannt, hätte er wahrscheinlich die Nase über eine primitive Volksreligion gerümpft, in der mythische Vorstellungen über eine rationale Weltdeutung triumphieren.
Thomas von Aquin jedoch, den viele für den bedeutendsten mittelalterlichen Philosophen halten, sah dies ganz anders. Für ihn war Aristoteles, den er schlicht »den Philosophen« nannte, der christliche Philosoph »avant la lettre«, ein Philosoph also, der in rationaler Form wichtigen Erkenntnissen des Christentums Ausdruck verliehen hat, bevor sich dieses durch die Offenbarung des Neuen Testaments in voller Gestalt zeigte.
Wie unter den großen Werken des Mittelalters üblich, ist auch das voluminöse Hauptwerk des Thomas, die Summe der Theologie, Philosophie und Theologie zugleich. Eine Philosophie unabhängig von religiösen Vorgaben gab es im Mittelalter nicht. Das Vertrauen, das Thomas in die Rationalität, in die menschliche Vernunft, setzte, war dabei keineswegs selbstverständlich. Frühchristliche Philosophen wie Augustinus hatten immer wieder auf die Irrwege der Vernunft hingewiesen und behauptet, dass der Weg zu Gott nur über den Glauben und die göttliche Gnade führe.
Unter allen Versuchen, die Vernunft zu rehabilitieren und sie zur Stütze des Glaubens zu machen, ist das Werk des Thomas von Aquin anerkanntermaßen die eindrucksvollste Leistung. Mithilfe der aristotelischen Weltdeutung errichtete er ein Denkgebäude, das alle anderen philosophischen Bauwerke seines Zeitalters überragt. Es ist der Superdom der Scholastik, der Philosophie des Hochmittelalters (von lat. »doctores scholastici« = die »Schulgelehrten«). Es ist ein riesiges, komplexes und staunenerregendes Werk, in dem griechisches und christliches Denken zu einer Einheit verschmelzen. Mit seiner Summe der Theologie lieferte Thomas nicht nur der Theologie einen rationalen Unterbau und verhalf ihr, sich als eigene Disziplin im Kanon der Wissenschaften zu etablieren; seine Rehabilitierung der Vernunft gab auch der Philosophie jenen Anschub, der sie wieder zu einem eigenständigen Ort der Weltorientierung werden ließ.
Wie die Baumeister der großen mittelalterlichen Kirchen, so war auch Thomas ein ebenso kompetenter wie fleißiger und hartnäckiger Arbeiter, der sich nie von seinem Ziel abbringen ließ. Geboren 1225 im Schloss Roccasecca bei Neapel als siebtes Kind eines Landadligen, sollte Thomas später einmal, seinem Stand entsprechend, eine wohlhabende und herrschaftliche Stellung einnehmen. Im Alter von fünf Jahren gab man ihn in das Stammkloster der Benediktiner in Montecassino, wo er bis 1239 blieb. Noch im selben Jahr schickte man ihn zum Studium nach Neapel. Nach dem Wunsch der Familie sollte Thomas später einmal Benediktinerabt werden.
Der im 6. Jahrhundert gegründete Benediktinerorden galt im 13. Jahrhundert als etablierter Teil der feudalen Gesellschaft. Anders dagegen die noch jungen Bettelorden, die ein Gegengewicht zur zunehmenden Verweltlichung der Kirche bilden wollten. Zu ihnen gehörten die Dominikaner, die sich vor allem Lehr- und Bildungsaufgaben widmeten. 1244 entschloss sich Thomas gegen den ausdrücklichen Willen der Familie, dem Dominikanerorden beizutreten. Der Orden wurde zu seiner geistigen Heimat.
Als die Dominikaner ihr neues Mitglied zum Studium nach Paris schicken wollten, kam es auf dem Weg dorthin zu einer Szene, die jedem Abenteuerfilm zur Ehre gereicht hätte. In der Toskana wurde Thomas von seinen Brüdern gekidnappt, aufs Pferd gesetzt und nach Hause verschleppt, wo die Familie ihn ein Jahr unter Hausarrest hielt. Man ließ nichts unversucht, um ihn von dem Vorhaben abzubringen, ein Leben als Bettelmönch zu führen.
Doch es sollte sich zeigen, dass Thomas nicht gewillt war, sich den Interessen seiner Familie unterzuordnen. Er kehrte zu seinen Ordensbrüdern zurück und ging wie geplant nach Paris. Im Konvent Saint Jacques, dem mitten in der Pariser Universität gelegenen Studienhaus des Ordens, hatte er das Glück, einen der bedeutendsten philosophischen Lehrer seiner Zeit kennen zu lernen: den Deutschen Albert von Lauingen. Der Mann, der als »Albertus Magnus«, also »Albert der Große«, in die Geschichte der Philosophie eingehen sollte, war unter seinen Zeitgenossen als »Doctor universalis«, als Universalgelehrter, berühmt. Als er im Jahr 1248 vom Orden beauftragt wurde, in Köln einen universitären Studienbetrieb aufzubauen, nahm er seinen Schüler Thomas mit nach Deutschland.
Thomas wurde der Meisterschüler Alberts. Von seinen Kommilitonen erhielt der etwas untersetzt gebaute und zurückhaltende Student aus Italien den Spitznamen der »stumme Ochse«. Es dauerte jedoch nicht lange, bis er in der gelehrten Welt unter einem anderen Namen bekannt wurde: »Doctor angelicus« – der »engelsgleiche Doktor«. Seine Fähigkeit, die christliche Lehre mit philosophischen Argumenten zu stützen, sollte legendär werden.
Diese philosophischen Argumente wurden vor allem aus der Philosophie des Aristoteles geschöpft, der bis ins 13. Jahrhundert in Westeuropa nur als Logiker bekannt war, nun aber mit seinen anderen Schriften in die Diskussionen eindrang. Albertus Magnus und der Dominikanerorden spielten dabei eine entscheidende Rolle.
Im frühen Mittelalter herrschte eine neuplatonische Interpretation des Christentums vor, die durch das Werk des spätantiken Philosophen Boethius, aber auch durch den vor Thomas einflussreichsten christlichen Philosophen, Aurelius Augustinus, vermittelt worden war. Der in der Spätantike entstandene und von Plotin begründete Neuplatonismus sah zwischen der wahren geistigen, nur durch die Vernunft erkennbaren Welt und der materiellen, sinnlich wahrnehmbaren Welt eine tiefe Kluft. An der Spitze der Wirklichkeitspyramide stand »das Eine«, ein jenseitiger geistiger Gott, der nur durch eine visionäre Schau erfassbar war. Um zum Einen zu gelangen, musste man die materielle Welt überwinden und hinter sich lassen.
Die neuplatonisch-augustinische Tradition der christlichen Philosophie wertete aber nicht nur die Sinnlichkeit gegenüber dem Geist, sondern auch die Vernunft gegenüber dem Glauben ab. Der Graben zwischen der Welt der menschlichen Erkenntnis und der Wirklichkeit Gottes war so groß, dass er von der menschlichen Vernunft nicht überwunden werden konnte.
Aristoteles dagegen hatte umgekehrt die Natur, die sinnlich erfahrbare Welt, zum Ausgangspunkt genommen, um von dort zu den letzten Prinzipien der Wirklichkeit und schließlich zu Gott, dem »unbewegten Beweger«, zu gelangen. In der telelogischen (von griech. telos = Ziel, Zweck) Weltsicht des Aristoteles waren alle Dinge Teil einer zweckgerichteten Ordnung, die auf Gott als den letzten Zweck- und Zielpunkt zulief. Über die Erforschung der Natur konnte man also mit Mitteln der Vernunft zu Gott gelangen. Gott war für Aristoteles das logische Resultat einer rationalen Weltbetrachtung.
Islamische und jüdische Philosophen ebneten den Weg für eine umfassende Aufnahme des Aristoteles im Westen. Im arabischen Raum waren die vollständigen aristotelischen Schriften seit der Mitte des 10. Jahrhunderts bekannt. Einer der islamischen Aristoteles-Vermittler war im frühen 11. Jahrhundert der aus Buchara im heutigen Usbekistan stammende Ibn Sina, der im Westen »Avicenna« genannt wurde. Für ihn war, wie für Aristoteles, Gott ein reines geistiges Sein, das keinen Veränderungen unterworfen ist. Im Gegensatz zur Lehre des Koran vertrat er sogar die aristotelische Auffassung, dass die Welt keinen Anfang in der Zeit hat. Sehr einflussreich wurde seine – nicht bei Aristoteles belegte – Auffassung, dass der Mensch keine individuelle Vernunft besitzt, sondern dass es eine überpersönliche Vernunft gibt, an der jeder einzelne Mensch Anteil hat.
Genau dies vertrat auch etwa einhundert Jahre später der im Westen als »Averroes« bekannte Ibn Ruschd mit seinen Aristoteles-Interpretationen, die ihm den Beinamen »der Kommentator« einbrachten. Gegen den Neuplatonismus wertete Ibn Ruschd diese Vernunft jedoch erheblich auf. Wie sein Schüler, der ebenfalls aus Cordoba im damals islamisch beherrschten Spanien stammende jüdische Philosoph Moses Maimonides, erhob er den Anspruch, der in eine Bildersprache eingekleideten religiösen Überlieferung eine rationale Deutung geben zu können.
Mitte des 13. Jahrhunderts wurden die Schriften des Aristoteles erstmals vollständig von Wilhelm von Moerbeke ins Lateinische übersetzt und erreichten damit endgültig das westliche Europa. Von da an bestimmte die Auseinandersetzung zwischen dem neuplatonisch-augustinischen und dem aristotelischen Denken die Scholastik. Albert kannte die islamischen und jüdischen Aristoteles-Vermittler und war maßgeblich an der Verbreitung des aristotelischen Denkens beteiligt. Aristoteles wurde durch ihn zur wichtigsten philosophischen Autorität des Dominikanerordens.
Die Kirche wehrte sich zunächst gegen diese neuen Einflüsse, da die Philosophie des Aristoteles im Widerspruch zu wichtigen Glaubensinhalten stand. So war die Lehre von der Ewigkeit der Welt unvereinbar mit der Lehre von der Welt als göttlicher Schöpfung. Auch die von den islamischen Interpreten vertretene These von einer überpersönlichen Vernunft schuf Probleme. Wie konnte es dann ein individuelles Seelenheil geben? Die Kirche musste auf der Unsterblichkeit der Seele und der Willensfreiheit des einzelnen Menschen bestehen.
Deshalb verbot der Papst im Jahr 1215, die aristotelische Philosophie an den Universitäten zu lehren. Die Dominikaner mussten einen jahrzehntelangen Kampf gegen die kirchlichen Autoritäten ausfechten, um der Lehre des Aristoteles Einzug in die offiziellen universitären Lehrpläne zu verschaffen. Albert und sein Schüler Thomas waren an diesem Prozess aktiv beteiligt. Mitte des 13. Jahrhunderts war die Philosophie des Aristoteles schließlich ein akzeptierter Bestandteil des Studiums an der Pariser Universität. Grundlage dafür war die lateinische Übersetzung. Auch Thomas las Aristoteles nicht im griechischen Original.
Nach Erwerb des ersten akademischen Grades, des Baccalaureus, trennte sich Thomas 1252 von seinem Lehrer und ging wieder nach Paris, um sein Studium mit einem Magister im Fach Theologie, der mittelalterlichen Königsdisziplin, abzuschließen. In Paris erhielt er erstmals Gelegenheit, selbstständig zu lehren, eine Erfahrung, die auch die Form seiner Schriften beeinflusste. Viele dieser Schriften wurden als theologische Auseinandersetzungen oder als Argumentationsanleitung für Geistliche verfasst. In ihnen wurde eine imaginäre Diskussion inszeniert und wurden Thesen als Antwort auf vorweggenommene Einwände formuliert. Eine seiner bekanntesten frühen Schriften, Das Seiende und das Wesen, verfolgt die Absicht, seine Studienbrüder mit der Lehre des Aristoteles vertraut zu machen. Sie entstand um 1255, das Jahr, in dem Thomas in Paris seinen Magistertitel erwarb.
Bis an sein Lebensende stand Thomas nun als Lehrender im Dienste seines Ordens, der ihm immer wieder neue Aufgaben übertrug. 1259 schickte man ihn wieder nach Italien, wo er der päpstlichen Kurie an verschiedenen Orten, so in Viterbo, Rom und Orvieto, diente. Etwa 1264 schloss er sein erstes großes Hauptwerk ab, die Summe gegen die Heiden. Der Titel Summe für ein theologisches Werk war in der zeitgenössischen Literatur üblich und bedeutete, dass hier ein Lehrstoff systematisch zusammengefasst wurde. Die Summe gegen die Heiden sollte Dominikanermönchen Argumente an die Hand geben, um ihre theologische Position gegenüber Andersdenkenden vertreten zu können.
Das Projekt einer Verbindung von aristotelischem und christlichem Denken hatte allerdings zwei Seiten: Nicht nur nahm das Christentum Gedanken des Aristoteles auf, auch die Philosophie des Aristoteles musste sich christlichen Vorgaben anpassen. Es ging also darum, sich gegenüber denjenigen Aristoteles-Interpretationen abzugrenzen, die mit der christlichen Lehre unvereinbar waren. In diesem Zusammenhang entstanden jeweils in den Jahren 1269 und 1270 zwei kleinere Schriften: In Einheit des Verstandes richtet sich Thomas gegen die von Avicenna und Averroes vertretene Lehre einer überpersönlichen Vernunft. Die zweite Schrift Über die Ewigkeit der Welt hält auch gegen Aristoteles an der christlichen Doktrin fest, dass Gott vor der Zeit existiert hat. Auch wenn Aristoteles zur großen philosophischen Autorität geworden war, blieben fundamentale kirchliche Lehren für Thomas unverzichtbar: Dazu gehörte, dass Gott die Welt aus dem Nichts erschaffen und den Menschen mit einem eigenen Willen, einer individuellen Vernunft und einer individuellen Seele ausgestattet hat.
Vermutlich um das Jahr 1266, also noch während seines Aufenthalts in Italien, begann Thomas die Arbeit an seiner zweiten großen Summe, der Summe der Theologie. Sie war, anders als die Summe gegen die Heiden, nicht für die Auseinandersetzung mit den Nicht-Christen bestimmt, sondern sollte den Lehrbetrieb innerhalb des Ordens auf eine neue theoretische Grundlage stellen. Das Verhältnis zwischen Gott, Welt und Mensch sollte mithilfe der Philosophie des Aristoteles neu bestimmt werden. Die Summe der Theologie hatte den Anspruch, eine neue Metaphysik und eine neue Ethik auf christlicher Grundlage zu entwerfen.
Den ersten Teil seines Opus Magnum, in dessen Mittelpunkt Gott steht, schloss er noch in Italien ab. In den Jahren zwischen 1268 und 1272, als er wiederum in Paris lehrte, entstand der zweite, dem Menschen gewidmete Teil des dreiteiligen Werkes. Von 1272 bis zu seinem Tod 1274 zog Thomas wieder in seine süditalienische Heimat. Hier konnte er noch den dritten Teil beginnen, der sich mit dem Mensch gewordenen Sohn Gottes beschäftigt, aber nie vollendet wurde. Es wird berichtet, Thomas habe am 6. Dezember 1273 ein mystisches Erlebnis gehabt, das ihn tief erschütterte und am Wert seiner gesamten Lebensarbeit zweifeln ließ. Anschließend hat er nichts mehr geschrieben.
Dass die Summe der Theologie Fragment geblieben ist, ändert nichts an der geradezu gigantischen philosophisch-theologischen Konstruktionsleistung. Die zwölf Bände umfassende deutsche Gesamtausgabe stellt jeden Leser vor eine ungeheure Herausforderung, sodass es auch unter Fachleuten nur sehr wenige gibt, die sie vollständig gelesen haben. Für die Philosophen waren immer die ersten beiden Teile des Werks von Bedeutung. In ihnen wird eine Gott und Mensch umfassende Weltordnung entworfen, die in ihrer rationalen Struktur und ihrem gesetzmäßigen Ablauf der menschlichen Vernunft zugänglich ist.
Thomas geht wie Aristoteles von der Beobachtung der gesetzmäßigen Abläufe der Natur aus und übernimmt von diesem die Begriffe, mit denen er Entstehen und Vergehen in der Welt erklärt. Auch für ihn ist das Universum teleologisch, also zweckmäßig geordnet. Es ist eine Welt, in der sich aus ungeformtem Stoff, dem Bereich der Möglichkeit, immer wieder Formen entwickeln, die im Stoff als »Zweck« angelegt waren und gesetzmäßig aus ihm hervorgehen. Aus Stoff wird Form, aus Möglichkeit wird Wirklichkeit. Die Formen machen das Wesen, die »Substanz«, eines Dinges aus. Dem stehen die »Akzidentien«, die wechselnden Eigenschaften eines Dinges, gegenüber. Dabei kommt er ebenso wie Aristoteles zu dem Ergebnis, dass wir bei der Betrachtung der Zweckmäßigkeit der Welt zwangsläufig auf Gott als Ursprung und Ziel aller Gesetzmäßigkeiten stoßen. Zwischen der Welt und Gott gibt es keinen unüberwindlichen Graben, sondern Brücken, die die Vernunft baut.
Auch Vernunft und Glaube rücken bei Thomas sehr viel näher aneinander. Beide stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern führen in die gleiche Richtung. Man kann sich ihr Verhältnis als das zweier Staffelläufer vorstellen: Die Vernunft bestreitet den ersten Teil des Laufes, bis ihr die Luft ausgeht. Dann gibt sie den Stab an den Glauben weiter. Nur er ist in der Lage, ins Ziel zu laufen, also zur wahren und vollständigen Erkenntnis Gottes zu gelangen. Das »natürliche Licht der Vernunft«, wie Thomas sagt, bestimmt die Leistungsgrenzen der Philosophie. Die Theologie, die auf ihr aufbaut, kann sich dagegen auf das »Licht einer höheren Wissenschaft« stützen.
Ein Beispiel dafür ist die Frage nach der Erschaffung oder der Ewigkeit der Welt. Aristoteles hatte in seiner Physik den Grundsatz aufgestellt: »Aus nichts wird nichts.« Es muss also immer schon etwas gegeben haben, aus dem die Welt geformt wurde. Aristoteles hielt, wie die gesamte antike Philosophie, die Welt für ewig. Die kirchliche Lehre, die Welt habe einen Beginn in der Zeit und Gott habe das Universum aus dem Nichts erschaffen, geht nicht nur über Aristoteles, sondern gänzlich über das Vermögen der Vernunft hinaus.
Dabei stützt Thomas die Glaubensinhalte, wenn immer möglich, durch Vernunftargumente. So widerspricht in seinen Augen die Annahme eines immer schon vorhandenen Urstoffs der Idee Gottes. Alles, was ist, muss seine Ursache in Gott haben. Es kann also keinen Urstoff geben, der nicht von Gott geschaffen wurde, also vor der Schöpfung existiert hat. Daher tritt die Welt insgesamt erst durch die Schöpfung in die Existenz. Sie ist folglich nicht ewig, sondern hat einen Anfang in der Zeit.
Diese geschaffene Welt hat, ähnlich wie bei Aristoteles, einen hierarchischen, also einer Rangordnung folgenden Stufenbau. In der Tradition der klassischen griechischen Philosophie gilt Thomas die geistige Welt gegenüber der materiellen als höherstehend und höherwertig, doch beide sind durch einen allmählichen Übergang miteinander verbunden. Ganz unten findet man die anorganische Natur, auf die die organische Welt der Tiere folgt. Der aus Leib und Seele zusammengesetzte Mensch ist das Scharnier zur rein geistigen Welt. Über ihm stehen die Engel, von deren Existenz Thomas, dem allgemeinen mittelalterlichen Denken entsprechend, ganz selbstverständlich ausgeht. Als nicht-stoffliche Wesen sind sie unsterblich und innerhalb der Seinsordnung näher an Gott als der Mensch. Engel haben keine natürlichen Anlagen zum Bösen wie der Mensch, sie können aber, wie im Falle Luzifers, zu bösen Engeln werden, wenn sie die Unterordnung gegenüber Gott nicht respektieren. Dieser steht, wie der unbewegte Beweger des Aristoteles, als Ursprung und Ziel der Welt an der Spitze der Wirklichkeitspyramide.
Allerdings, so Thomas, »existieren« rein geistige Wesenheiten wie Engel nicht genau in dem gleichen Sinne, wie wir sagen: »Der Baum dort existiert.« Wenn wir von geistigen Wesenheiten behaupten, dass sie existieren, verwenden wir den Begriff lediglich in analoger Weise. Wir haben eine gewisse, aber keine genaue Vorstellung davon.
Deshalb legt Thomas auch einige Vorsicht an den Tag, wenn es um die »Existenz« Gottes geht. Als Glaubenswahrheit ist sie unbestritten. Schwierig wird es dann, wenn wir unser Alltagsverständnis von »Existenz« auf Gott übertragen wollen. Dies wirft er Anselm von Canterbury, dem ersten großen Philosophen der Scholastik, vor, der zweihundert Jahre zuvor den sogenannten »ontologischen Gottesbeweis« aufgestellt hatte. Anselm hatte in der Definition Gottes schon die Garantie dafür gesehen, dass er auch existiert. Er hatte, wie die Fachphilosophen sagen, aus dem »Sein« Gottes (griech. »on«= »Seiendes«) seine »Existenz« abgeleitet. Zur Definition Gottes, so Anselm, gehört es, dass er vollkommen ist, und zur Vollkommenheit gehört notwendigerweise auch die Existenz. Thomas hält dem entgegen, dass wir »von Gott das Was nicht wissen«, wir also über Gottes Eigenschaften nichts aussagen können. Mit anderen Worten: Eine ausreichend gesicherte Definition Gottes liegt außerhalb unseres Vermögens.
Um mithilfe der Vernunft zu Gott zu gelangen, dürfen wir nach Thomas nicht den Weg der Begriffsanalyse, sondern müssen den Weg über die Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten nehmen. Genauer gesagt: Es gibt für Thomas fünf Wege, die zu Gott führen.
Nehmen wir den zweiten dieser Wege, der auch spätere Denker immer wieder beschäftigt hat. Es ist eine Form des sogenannten »kosmologischen« Gottesbeweises: Gott ist dabei eine notwendige Voraussetzung für den Kosmos, für die Welt, wie sie uns mit ihren Gesetzmäßigkeiten gegeben ist. Aus der Tatsache, dass jedes Ereignis als Wirkung einer Ursache aufgefasst werden kann, schließt Thomas, dass es eine erste Ursache geben muss, die den ganzen Prozess erst in Gang gesetzt hat. Ansonsten müssten wir die Reihe der Ursachen bis ins Unendliche strecken, was unweigerlich zur These von der Ewigkeit der Welt führen würde. Wir kommen also, von der Beobachtung der kausalen Verknüpfungen aller Ereignisse, zu Gott als der ersten Ursache allen Geschehens. Thomas geht jedes Mal nach dem gleichen Muster vor: Er beobachtet Zusammenhänge in der Welt und schließt auf Gott als den Urheber, die Klammer und den Ausgangspunkt dieser Zusammenhänge. Von der Begrenztheit und Endlichkeit der Welt schließt er auf die Notwendigkeit Gottes als der Unendlichkeit und Unbegrenztheit.
Die Gottesbeweise der Scholastik waren Ausdruck des Selbstbewusstseins, das die Vernunft gegenüber dem Glauben erlangt hatte. Doch voll erfassen konnte man nach Thomas Gott auf diese Weise nicht. In seinem ganzen Geheimnis bleibt er nur dem Glauben zugänglich. So ist die Erkenntnis der Dreifaltigkeit, also die Erkenntnis Gottes als einer Person, die in sich Gottvater, Gottsohn und Heiliger Geist vereinigt, dem natürlichen Licht der Vernunft ebenso entzogen wie die Menschwerdung Christi und die Erlösung der Menschen durch Kreuzestod und Auferstehung.
Dennoch ist bei Thomas der mit Vernunft ausgestattete Mensch Gott näher gerückt als in der neuplatonisch-augustinischen Tradition. Er hat seinen festen Platz in der Seinsordnung und kann in dieser Ordnung überall die Spuren Gottes erkennen. Entscheidend für die Verbindung zwischen Mensch und Gott ist die sogenannte »Geistseele«, mit der Thomas an den Begriff der »Psyche« in der griechischen Philosophie anknüpft. Die Geistseele ist mehr als das, was wir heute unter »Seele« verstehen. Sie ist die entscheidende Lebenskraft, die Vereinigung aller geistigen, seelischen und emotionalen Regungen. Bei Platon umfasste sie Vernunft, Wille und Leidenschaft. Auch bei Thomas schließt sie eine erkennende, empfindende und eine vegetative Funktion ein. Anders als in unserem heutigen Verständnis ist die Vernunft also ein Teil der Seele. Jeder Mensch hat seine eigene, individuelle Seele, denn nur durch sie ist die Unsterblichkeit des Menschen möglich. Auch die These von der Unsterblichkeit der Seele entnimmt Thomas der griechischen Philosophie. Platon hatte sie bereits in seinem Dialog Phaidon behauptet.
Thomas vertritt auch nicht wie Platon und später der französische Philosoph René Descartes die Auffassung, dass Seele und Körper, Geist und Materie, sich im Menschen wie zwei Fremde gegenüberstehen, die aus jeweils einer anderen Welt kommen. Für Thomas sind Körper und Seele eine leib-seelische Einheit, die erst durch den Tod gelöst wird.
Wie die Griechen, so nimmt auch Thomas an, dass die Seele in einem wohlgeordneten Zustand ist, wenn der erkennende Teil, die Vernunft, die Herrschaft und Kontrolle über die anderen Seelenteile in der Hand hat. Diese Vernunft ist wie die Seele individuell ausgeprägt und nicht, wie bei Averroes, Teil einer überpersönlichen Vernunft. Sie bestimmt, in welche Richtung der Wille sich wenden soll.
Das Thema der Willensfreiheit hatte in der griechischen Philosophie kaum eine Rolle gespielt, ist aber für das Christentum enorm wichtig, da die Erlösung des Menschen von der willentlichen Entscheidung des Menschen für Gott abhängt und Begriffe wie »Sünde« und »Schuld« sonst nicht erklärbar sind. Thomas hält deshalb auch daran fest, dass Gott den Menschen frei geschaffen hat, also mit der Fähigkeit, sich auch gegen Gott zu entscheiden.
Für diejenigen, die sich bewusst gegen Gott entscheiden und dieser Entscheidung auch nach mehrmaliger Belehrung nicht abschwören, fordert Thomas die Todesstrafe. Für ihn liegt hier eine Korruption der Seele vor, ein ungleich schlimmeres Vergehen als eine körperliche Schädigung. Die Idee der religiösen Toleranz, wie sie sich im Westen seit der Aufklärung durchgesetzt hat, war sowohl ihm als auch der Kirche insgesamt fremd.
Thomas greift die These des Aristoteles auf, dass alle Menschen nach Glück streben. Die neuplatonischen Philosophen der Spätantike wie Plotin und Boethius hatten dieses Glück mit einem jenseitigen Gott identifiziert. Thomas greift beide Traditionen auf: Das Glück, nach dem alle Menschen natürlicherweise streben, liegt in der Hinwendung zum christlichen Gott.
Dem Menschen stehen zwei sich ergänzende Wege offen, um die Verbindung zu Gott herzustellen: ein weltlicher und ein religiöser. Dabei werden das weltliche und das religiöse Leben nicht gegeneinander ausgespielt. Der Mensch muss beide Wege gehen, er muss sowohl weltliche als auch religiöse Tugenden ausprägen, doch erst im religiösen Leben erlangt er den endgültigen Zugang zu Gott.
Der weltliche Weg führt über die vier Kardinaltugenden, die Thomas von Platon übernimmt. Es sind Maß, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Klugheit, die er auch als »Angeltugenden« bezeichnet. Sie müssen auf dem religiösen Weg ergänzt werden durch die »gotteskundlichen Tugenden« Glaube, Liebe und Hoffnung. In den weltlichen Tugenden steht der Bezug zu anderen Menschen im Mittelpunkt, in den religiösen der Bezug zu Gott. Die ersteren beschreiben den Bereich der Klugheit, die letzteren den Bereich der Weisheit. Auch die Klugheit hat bei Thomas als eine ethisch wertvolle Haltung ihren Platz und wird nicht als Ablenkung vom Glauben abgelehnt. Weisheit baut bei Thomas auf der Klugheit auf. Das Lebensideal der griechisch-römischen Ethik wird nun, in neuer religiöser Aufmachung, zur wahren christlichen Lebenshaltung.
Die Frage, in welcher Lebensform sich ein glückliches Leben ausdrückt, hatte die Antike meist mit zwei einander entgegengesetzten Varianten beantwortet: dem aktiven, tätigen Leben, der sogenannten »vita activa«, und dem zurückgezogenen, der Kontemplation gewidmeten Leben, der »vita contemplativa«. Auch hier orientiert sich Thomas an den griechischen Klassikern Platon und Aristoteles, die sich beide für die philosophische Kontemplation als höchste Lebensform ausgesprochen hatten. Erst in dem kontemplativen, oder, wie Thomas es nennt, dem »beschauenden« Leben kann sich Weisheit und damit der Bezug zu Gott entfalten, weil nur hier der wichtigste, nämlich der geistige Teil des Menschen seiner Bestimmung zugeführt wird. An die Stelle der rein rationalen Kontemplation ist bei Thomas die religiöse Kontemplation getreten.
Überall in der Summe der Theologie sind die Spuren des antiken Denkens deutlicher zu sehen als die des Neuen Testaments. Von den frühchristlichen Eiferern, die mit ihrem gekreuzigten Gott die hellenistische Vernunftphilosophie bekämpften, ist die Lehre des Thomas von Aquin schon sehr weit entfernt: Sein Bild des Christen ist auf den Umrissen des antiken Weisen gemalt, und sein Gott hat die kosmische Vernunft der klassischen griechischen Philosophie angenommen.
Thomas verstarb am 7. März 1274 auf dem Weg zum Konzil nach Lyon. Schon knapp fünfzig Jahre später, 1323, sprach ihn der Papst heilig. Während viele andere klassische Werke der Philosophie bei der kirchlichen Orthodoxie in Ungnade fielen und auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt wurden, nahm die Summe der Theologie den genau umgekehrten Weg. Im 16. Jahrhundert erhob man Thomas in den Rang eines Kirchenlehrers, und im Jahre 1879 erklärte Papst Leo XIII. den »Thomismus« zur »offiziellen Philosophie« der katholischen Kirche.
Im Mittelalter markiert die Summe der Theologie den Höhepunkt der Scholastik. Sie lieferte das Weltbild für Dantes Göttliche Komödie und die Vorlage für die Erneuerung der Scholastik durch den Spanier Francesco Suarez im 16. Jahrhundert. Aber auch noch im 20. Jahrhundert haben »Neothomisten« wie Jacques Maritain oder Josef Pieper versucht, eine religiös inspirierte Philosophie im Anschluss an Thomas zu entwickeln. Endliches und Ewiges Sein, das Hauptwerk der in Auschwitz ermordeten Philosophin Edith Stein, gehört zu den wichtigsten Ergebnissen dieser Bemühungen in der Moderne.
Doch die Summe der Theologie ist keineswegs nur Zeugnis des immer wieder erneuerten Versuchs, religiösen Überzeugungen ein philosophisches Gesicht zu geben. Sie gehört vielmehr zu den großen Werken, mit denen die Vernunft beginnt, sich religiöser Grundsätze zu bemächtigen, um sich schließlich in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts von ihnen zu emanzipieren. Themen wie die Beweisbarkeit Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die Willensfreiheit beschäftigten Denker wie Descartes, Spinoza, Leibniz oder Kant.
Die Kathedralen des Mittelalters genießen aufgrund ihrer technischen und ästhetischen Konstruktion auch die Wertschätzung jener, für die der christliche Glaube, der sie inspiriert hat, seine verbindliche weltanschauliche Kraft verloren hat. Auch das philosophische Gotteshaus des Thomas von Aquin, in dem die Vernunft so viele Spuren gelegt hat, ist ein Ort für philosophische Schatzsucher geblieben.
Ausgabe:
Thomas von Aquino: Summe der Theologie, 3 Bde.
Zusammengefasst, eingeleitet und erläutert von Josef Bernhart. Stuttgart: Kröner 1985.