Dass Vertreter aus Politik und Philosophie, der Welt der Macht und der Welt des Geistes, nicht immer die besten Freunde sind, ist eine allgemeine Erfahrung. Philosophen beklagen die Konzeptions- und Skrupellosigkeit der Mächtigen, die Politiker dagegen schauen voll Verachtung auf die praxisfernen Ratschläge der selbst ernannten Besserwisser. Wenn Politiker sich schließlich doch auf die Philosophie einlassen oder sogar ein philosophisches Buch schreiben, reagieren viele häufig mit Misstrauen. Will hier jemand seiner Macht ein philosophisches Mäntelchen umhängen? Will er sich mit der Aura des universell Gebildeten umgeben, um möglichst viele Anhänger und Bewunderer zu ködern?
Nicht immer ist dieses Misstrauen berechtigt. Schon gar nicht im Falle der Selbstbetrachtungen des römischen Kaisers Marcus Aurelius Antoninus Augustus, wie Marc Aurels vollständiger Herrschername lautet. Römische Kaiser machten nicht durch Bücher, sondern durch militärische und wirtschaftliche Erfolge Eindruck auf ihre Untertanen. Es waren aber auch nicht die römischen Bürger, an die sich dieses Buch richtete. Der griechische Originaltitel Ta heis auton, wörtlich »An sich selbst«, deutet auf den wahren Adressaten: Marc Aurel schrieb das Buch als Selbstvergewisserung und persönliche Lebenshilfe. Denn er wusste, dass er nicht nur als Politiker richtig handeln, sondern auch als Mensch richtig leben musste. »Was ist dein Beruf?«, fragt er sich im elften Kapitel seiner Schrift und antwortet selbst: »Gut zu sein. Wie anders aber ist dies möglich als aufgrund von Lehrsätzen einerseits über die Natur des Alls, andererseits über die eigentümlichen Anlagen des Menschen.«
Die Selbstbetrachtungen sind in der Tat eine Ansammlung von Lehrsätzen zum Zweck der »Lebensübung«, ein schmaler Band, aus kurzen Abschnitten und prägnanten Sentenzen aufgebaut. Die häufigen Wiederholungen und Variationen weniger Grundwahrheiten lassen leicht den Charakter eines Exerzitien- und Meditationsbuches erkennen, das dem Verfasser helfen sollte, den Menschen und seine Stellung im Kosmos zu verstehen und daraus lebenspraktische Konsequenzen zu ziehen. Sie sind des Kaisers Marc Aurel philosophische Kleider, die er nicht zur Zier, sondern aus Lebensnotwendigkeit trug. Im Geist der antiken Philosophenschule der Stoiker mahnen die Selbstbetrachtungen zu einem Leben der Selbstkontrolle, Pflichterfüllung und der Gelassenheit gegenüber den unkontrollierbaren Widrigkeiten der Welt – zu einem Leben, in dem individuelle Lebenserfüllung und Engagement für die Gemeinschaft untrennbar verbunden sind.
Gerade weil die Selbstbetrachtungen Ergebnis einer authentischen Orientierungsbemühung sind, haben sie viele vergessen lassen, dass ihr Verfasser einer der mächtigsten Menschen seiner Zeit war. Doch vielleicht hat sich in Marc Aurel das Ideal des Philosophenkönigs, wie der griechische Philosoph Platon es in seinem Hauptwerk Der Staat propagiert hatte, auf eine sehr eigene Art verwirklicht.
Auf das Ziel, höchste Staatsämter auszuüben, wurde der junge römische Aristokratensohn schon früh vorbereitet. Sein Urgroßvater Annius Verus war aus der Provinz Baetica, dem heute spanischen Andalusien, nach Rom übergesiedelt, um in der karrierefördernden Nähe des Machtzentrums zu leben. Sein Sohn gleichen Namens, der Großvater Marc Aurels, erwies sich als der erfolgreiche Strippenzieher der Familie: Selbst dreimal Konsul, schaffte er es, durch geschickte Verheiratung seiner Kinder die Familie in den Fokus des kaiserlichen Hofes zu bringen. Einer seiner Söhne heiratete Domitia Lucilla, die mit dem amtierenden Kaiser Hadrian verwandt war. Im Jahr 121 brachte sie, im Alter von 14 Jahren, ihren ersten Sohn Catilius Severus auf die Welt. Erst durch spätere Adoptionen erhielt er den Namen Marcus Aurelius, unter dem wir ihn heute kennen.
Marc Aurel besuchte nie eine öffentliche Schule oder Universität, sondern wurde von gut bezahlten, von seinem Großvater engagierten Hauslehrern unterrichtet. In den ersten Lebensjahren waren dies in der Regel Sklaven oder sogenannte »Freigelassene«, also ehemalige Sklaven, denen man nach verdienstvoller Arbeit die Freiheit gegeben hatte. Durch einen solchen Freigelassenen, Diognetos, machte Marc Aurel erste Bekanntschaft mit der Philosophie. Auch der Grieche Epiktet, ein Vertreter der stoischen Schule, der mit seinem Handbüchlein der Moral und seinen Unterredungen großen Einfluss auf Marc Aurel ausüben sollte, war ein Freigelassener.
Die Philosophie regte den jungen Marc Aurel dazu an, wie es in den Selbstbetrachtungen heißt, »ein Feldbett mit Fell« zu begehren »und was dergleichen mit der griechischen Lebensweise zusammenhängt«. Er identifizierte, wie viele Römer, Philosophie mit den griechischen Denktraditionen. Diese hatten in römischer Zeit aber eine besondere, nämlich lebenspraktische Färbung angenommen. Die meisten römisch-hellenistischen Philosophenschulen empfahlen eine vernunftbestimmte Lebensform, die eine Beschränkung auf die wirklich notwendigen Bedürfnisse forderte. Vorbild war die Figur des 399 v. Chr. hingerichteten Sokrates, der nie eine Schrift verfasst und ausschließlich durch seine Persönlichkeit und seine Gesprächskunst gewirkt hatte. Die Philosophenschule der Kyniker, die sich auf Sokrates berief, lehnte sogar jede Theorie ab und verstand Philosophie ausschließlich als bedürfnislose und selbstgenügsame Lebenspraxis. Die Stoiker als die im Römischen Reich einflussreichste Schule nahmen wiederum viele Einflüsse der Kyniker in ihre Lehre auf.
Fasziniert von der Welt der Bücher, wusste der junge Marc Aurel dennoch von frühem Alter an, dass er auf hohe politische Ämter vorbereitet wurde. Der Weg nach oben wurde ihm nicht nur durch seine Herkunft, sondern vor allem durch die im römischen Kaisertum übliche Adoptionspraxis geebnet.
Die Adoption des gewünschten Nachfolgers war ein von römischen Kaisern häufig benutztes politisches Instrument, wenn eigene Nachkommen ausblieben. So adoptierte Kaiser Hadrian kurz vor seinem Tod einen Onkel Marc Aurels, Antonius Pius, mit der Auflage, dass dieser wiederum Marc Aurel adoptiere. Dieser hatte bereits eine Adoption durch seinen Großvater hinter sich, der an die Stelle seines früh verstorbenen Vaters getreten war. Auf diesem Weg wurde Antonius Pius im Jahr 138 neuer Kaiser und Marc Aurel sein designierter Nachfolger.
Als solcher hatte er sich auf seine Rolle als künftiger Kaiser vorzubereiten. Doch in den 23 Jahren, in denen Marc Aurel ein Herrscher im Wartestand war, blieb ihm genügend Zeit zur Lektüre und Weiterbildung. Von seinem 18. Lebensjahr an stand zunächst die Rhetorik im Mittelpunkt seiner Ausbildung. Sie galt in der Antike als Grundlagenwissenschaft und vermittelte nicht nur stilistisches Handwerkszeug, sondern auch allgemeine literarische Bildung. Seine Lehrer waren zwei renommierte Intellektuelle, Cornelius Fronto und Herodes Atticus. Besonders Fronto, zu dem der junge Marc Aurel ein enges persönliches Verhältnis entwickelt hatte, war nicht begeistert, als sein Schützling sich schließlich ganz der Philosophie zuwandte. Doch Marc Aurel wollte nicht nur Kulturtechniken, sondern auch Wissen über das richtige Verhältnis des Menschen zur Welt erwerben.
Seine eigentliche »Bekehrung« zur Philosophie wird allgemein für das Jahr 146 angenommen, als er 25 Jahre alt war. Unter Leitung seiner neuen Lehrer, darunter der Grieche Apollonios von Chalkedon und die beiden römischen Senatoren Iunius Rusticus und Claudius Maximus, lernte er vor allem die Philosophie der Stoiker kennen. Sie war im 4. vorchristlichen Jahrhundert von dem Zyprer Zenon begründet worden und nach der »bunten Säulenhalle« in Athen, der »Stoa Poikile«, benannt. Die Grundregel der Stoiker lautete: »Lebe einstimmig!« Für ein tugendhaftes und glückliches Leben hieß dies, sich von »unnatürlichen« Bestrebungen frei zu machen und ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur zu führen.
Alle Stoiker betonten den Unterschied zwischen dem, was in der Macht des Menschen liegt, und dem »Unverfügbaren«, das dem menschlichen Einfluss entzogen bleibt. Marc Aurel fand den Zugang zur stoischen Philosophie durch die Lektüre des Ariston von Chius, eines Schülers Zenons, der die Grenze zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem besonders eng zog. Ariston erklärte all das, was außerhalb der tugendhaften, vernünftigen Einstellung liegt, für gleichgültig. Äußere Ereignisse wie Krankheit, Tod, aber auch Ruhm und Erfolg wurden damit belanglos. Der Mensch sollte sie als normalen Teil des Weltlaufs akzeptieren, sich aber nicht von ihnen beeinflussen lassen.
Wie die meisten antiken Philosophenschulen propagierten die Stoiker das Ideal des Weisen, der Glück und Tugend im Zustand des »Seelenfriedens« verwirklicht. Die Stoiker nannten diesen Zustand »apathia«. Das griechische »pathos« ist eng mit dem deutschen »pathologisch« verwandt und meint einen unnatürlichen, krankhaften, die psychische Stabilität gefährdenden Affekt. »Apathia« bedeutet deshalb »Affektfreiheit«, ein Zustand also, in dem alle destabilisierenden Affekte ausgeschaltet sind und der nichts mit gefühlloser Dumpfheit oder radikaler Abtötung von Sinnesregungen zu tun hat. Obwohl die Stoiker wie fast alle antiken Philosophenschulen eine »eudämonistische«, also eine Glücksethik vertraten, hatte die frühe stoische Ethik einen strengen, zum Teil lustfeindlichen Zug: Im Mittelpunkt stand die Affektausschaltung.
Dazu verhilft dem Menschen die Einsicht in die Vernunftgemäßheit seines Handelns. Die Losung des Sokrates, »Tugend ist Wissen«, war eine Art ethisches Forschungsprogramm, das von den antiken Philosophenschulen inhaltlich ganz unterschiedlich ausgefüllt wurde. Die Epikureer, die Schule des Philosophen Epikur, sahen im Gegensatz zu den Stoikern die Tugend in der »hedoné«, der »Lust« oder »Freude«, verwirklicht. Bei Licht besehen, wollten jedoch auch sie nichts anderes als ein vernünftiges, maßvolles und naturkonformes Leben.
Aus der Zeit der späten Stoa, die sich ab dem 2. vorchristlichen Jahrhundert ausprägte, erlangten für Marc Aurel besonders Epiktet, den er durch Iunius Rusticus kennen lernte, und Panaetios Bedeutung. Vor allem bei dem auf Rhodos lebenden Syrer Panaetios, einem der Lehrer Ciceros, wurde der Unterschied zu anderen Philosophenschulen abgemildert. Seine etwas pragmatischere Ethik ließ auch materielle Güter und eine »naturgemäße Lust« als Mittel zum Glück gelten und rückte damit in die Nähe der epikureischen Auffassungen.
Marc Aurel folgte seinem Onkel im Jahr 161 auf den Kaiserthron. Sein Herrschaftsantritt fiel mit einer Zäsur in der Geschichte des riesigen Römischen Reiches zusammen. Eine lange Periode der Stabilität und des Friedens endete. Von nun an musste sich jeder Kaiser ständig mit Angriffen auf das Reichsgebiet auseinandersetzen. Dies führte dazu, dass Marc Aurel den größten Teil seiner Herrscherzeit auf Feldzügen verbrachte, vor allem im Osten und Norden des Reichs – auf dem Gebiet der heutigen Türkei, in Syrien und entlang der Donau.
Auf diesen Feldzügen entstanden in den Abend- und Nachtstunden die Selbstbetrachtungen. Hier musste Marc Aurel tatsächlich eine »griechische« Lebensweise praktizieren: in Zelten wohnen, auf Feldbetten schlafen, Erschöpfung und körperliche Leiden überwinden. Das zweite Buch der Schrift enthält den Hinweis: »im Quadenlande am Gran geschrieben«, das dritte den Vermerk: »in Carnuntium geschrieben«.
Die Feldzüge gegen die Quaden, die etwa auf dem Gebiet der heutigen Slowakei beheimatet waren, führten Marc Aurel zwischen 171 und 173 mehrmals in das Tal des Gran, eines linken Nebenflusses der Donau. Auch in Carnuntium an der Donau, dem heutigen zwischen Wien und Bratislava gelegenen Petronell, hatte Marc Aurel in diesen Jahren häufig sein Feldlager aufgeschlagen.
Der Beginn der Niederschrift der Selbstbetrachtungen kann also zwischen 170 und 175 angesetzt werden. Wann die Schrift ihre heutige Gestalt erhielt, wissen wir nicht genau. Das heutige erste Kapitel, in dem Marc Aurel ausführlich allen dankt, die positiv auf ihn Einfluss genommen haben, wurde jedenfalls erst nachträglich an den Anfang der Schrift gesetzt. Das ursprünglich erste ist demnach das heutige zweite Kapitel.
Anlehnend an die stoische Tradition kreisen die Aufzeichnungen der Selbstbetrachtungen um drei große Themen: um die Haltung des Menschen gegenüber dem Kosmos, gegenüber anderen Menschen und schließlich gegenüber sich selbst.
In der westlichen Kultur ist man, unter christlichem Einfluss, gewohnt, dem Menschen eine besondere Stellung in der Natur zuzugestehen: als »Krone der Schöpfung«, als »Ebenbild Gottes« oder einfach als einziges Wesen, das durch Vernunft, Bewusstsein und Sprache sich von allen anderen Wesen grundlegend unterscheidet. Das christliche Menschenbild begann sich auch schon unter der Herrschaft Marc Aurels bemerkbar zu machen – doch es blieb eine Minderheitenmeinung. Das Bild, das Marc Aurel selbst vom Verhältnis des Menschen zur Welt zeichnet, ähnelt demgegenüber eher einem klassischen chinesischen Gemälde, in dem der Mensch einen eher unscheinbaren Platz einnimmt und harmonisch in die Natur eingefügt erscheint. Vernunft ist bei Marc Aurel kein Privileg des Menschen. In seiner optimistischen Betrachtungsweise wird die Welt von einer alles durchwaltenden, kosmischen und ewigen Weltvernunft bestimmt.
Diese Weltvernunft ist auch gemeint, wenn Marc Aurel von der »Natur« oder zuweilen von »Gott« spricht. Marc Aurels Auffassung von Gott ist pantheistisch, d. h., Gott steht nicht außerhalb der Welt, sondern ist identisch mit dem »logos«, der in ihr wirkenden, allumfassenden kosmischen Weltvernunft. Der Kosmos ist demnach kein bloßer »Stoff« oder eine Ansammlung materieller Teilchen. Er wird zwar materiell vorgestellt, aber als eine lebende, atmende, immer im Fluss befindliche Substanz, die Marc Aurel charakteristischerweise als »Lebewesen« bezeichnet.
Die Erde als Planet wird nach stoischer Vorstellung immer wieder durch »Weltbrände« zerstört, um sich dann wieder zu erneuern – doch der Kosmos selbst ist ewig. Deshalb gibt es auch nicht, wie im Christentum, die Vorstellung einer Zeit, die sich irgendwann erfüllt oder endet. Für Marc Aurel geht die Zeit ins Unendliche – kein Zeitabschnitt in der Vergangenheit oder Zukunft ist besonders ausgezeichnet. Die Zeit ist ein großer Raum, in dem jede Stelle die gleiche Bedeutung hat.
Wie die meisten Stoiker vertritt Marc Aurel einen Determinismus – die Auffassung, dass alles im Kosmos notwendig nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung geschieht. Dieser ist zugleich ein Fatalismus – der Glaube an die Vorherbestimmtheit allen Geschehens durch das Schicksal. Wenn in den Selbstbetrachtungen vom Kosmos als dem »von der Vorsehung Durchwalteten« die Rede ist, dann sind die ewigen Naturgesetze gemeint, denen alles unterworfen ist.
In der Weltvernunft ist auch die Natur mit der Welt des Menschen verbunden. Marc Aurel kennt nicht die uns heute geläufige Trennung zwischen Natur einerseits und Kultur und Gesellschaft andererseits. Auch die politische und kulturelle Welt hat für ihn Anteil an der Weltvernunft. Marc Aurel ist einer der ersten bekannten »Kosmopoliten«: Der Kosmos selbst ist wie eine große Polis, ein Gemeinwesen, in dem alle Menschen auf der Basis der Gleichheit miteinander verbunden sind. Die Welt, so Marc Aurel, ist »gleichsam eine Stadt«. Die politische und moralische Vernunft, also die Art, wie das menschliche Zusammenleben gestaltet werden sollte, ist für ihn im Grunde die gleiche Vernunft, die auch die Natur beherrscht. Pflichtgemäß handeln und naturgemäß handeln – das sind für Marc Aurel deshalb auch zwei Seiten derselben Medaille.
Die Mittel des richtigen, pflichtgemäßen und tugendhaften Handelns liegen in der menschlichen Natur. Marc Aurel spricht an mehreren Stellen von der Dreiteilung dieser Natur in Körper, Seele, Geist oder auch in Fleisch, Lebenshauch – dem griechischen »pneuma«– und Vernunft. Gemeint ist jeweils das Gleiche. Es wird eine Abstufung angenommen, die von körperlichen Bedürfnissen über seelische Regungen bis zum rationalen Vermögen führt. Eine solche Dreiteilung hat in der griechischen Philosophie eine lange Tradition und findet sich schon mehrere hundert Jahre vorher bei Platon. Das rationale Vermögen, die Vernunft also, gilt dabei als das Leitungsvermögen, das die anderen menschlichen Regungen führen und kontrollieren soll. Die Vernunft ist es auch, die den Menschen mit der kosmischen Weltvernunft verbindet.
Für den einzelnen Menschen geht es nun darum, seine individuelle Vernunft mit der kosmischen Vernunft in Einklang zu bringen, sich – in der Sprache der modernen Computerkommunikation – in die Weltvernunft »einzuloggen«. Dies geschieht dadurch, dass der Mensch eine bestimmte Einstellung gegenüber der Welt entwickelt: Nicht die Dinge und Ereignisse selbst kann ich verändern, wohl aber das Licht, in dem ich sie betrachte. Das Glück liegt für Marc Aurel allein in dieser Einstellung und nicht im Erwerb äußerer Güter.
Die Selbstbetrachtungen versuchen, den Weg zu dieser richtigen Einstellung und damit den Zugang zur Weltvernunft in den verschiedensten Lebens- und Alltagssituationen aufzuzeigen. Abschnitt II, 9 des Buches fasst in einem Satz den Anspruch zusammen, vor den sich der Mensch gestellt sieht: »Daran ist immer zu denken, welches die Natur des Alls ist und welches die meine und wie sich diese zu jener verhält und was für ein Teil sie ist und von was für einem Ganzen und dass es niemanden gibt, der dich hindern kann, was der Natur, deren Teil du bist, gemäß ist, immer zu tun und zu sagen.« Der Mensch soll sich als integrierter Bestandteil einer allumfassenden Natur sehen lernen und danach sowohl sein Handeln als auch seine Urteile über Dinge und Ereignisse ausrichten.
Gefordert wird dabei eine dreifache Perspektive: 1. der richtige Blick auf die Dinge, indem ich sie in einem »natürlichen« Licht, d. h. als Teil des unveränderbaren Ablaufs von Ursachen und Wirkungen sehe; 2. das richtige Verhalten gegenüber anderen Menschen; und 3. die Befreiung meiner Urteile von falschen Annahmen und Wertungen. Jede dieser angestrebten Perspektiven dient dazu, den Menschen von »pathologischen« Affekten zu befreien und ihn zum Glück zu führen. Im 12. Buch der Selbstbetrachtungen wird diese dreifache Aufgabe des Menschen noch einmal zusammengefasst: »Das Heil unseres Lebens: jedes Ding durch und durch betrachten, was es an sich ist, was sein Stoffliches, was sein Ursächliches. Von ganzem Herzen das Gerechte tun und die Wahrheit sagen.« Realistische Weltbetrachtung, Gerechtigkeit und Wahrheit sind die drei Ziele, die in den Meditationen der Selbstbetrachtungen immer wieder umkreist werden.
Diese dreifache Perspektive, die Marc Aurel von Epiktet übernommen hat, entspricht auch der stoischen Einteilung der Philosophie in Physik, Ethik und Logik. Die Physik hat mit unserer Natur- und Weltsicht zu tun und entspricht unserer heutigen Naturphilosophie und Metaphysik. Die Ethik befasst sich mit dem zwischenmenschlichen Handeln. Unter Logik wiederum verstanden die Stoiker nicht nur das, was wir heute als »formale Logik« kennen, sondern auch die Erkenntnistheorie und vor allem alles, was mit sprachlichen Äußerungen über die Welt zu tun hat, also auch Rhetorik und die Kunst des Argumentierens. Will der Mensch seine individuelle Vernunft mit der Weltvernunft in Einklang bringen, so muss er das physikalische, ethische und logische Anliegen miteinander verknüpfen.
Schon der Beginn des zweiten Buches gibt ein Beispiel dafür, wie dies im Alltag geschehen kann. Der Autor stellt sich vor, an diesem Tage mit einem »unverschämten, arglistigen, neidischen, unverträglichen Menschen« zusammenzutreffen. Diesem Menschen aus dem Weg zu gehen oder mit ihm einen Konflikt auszutragen – das ist nicht die Art des Stoikers. Marc Aurel setzt vielmehr voraus, dass dieser Mensch durch Geist und göttlichen Anteil mit ihm verwandt ist. Wie die östlichen Meditationslehren glaubt er, dass alle Menschen nicht nur miteinander verbunden, sondern durch den Vernunftbezug im Grunde alle eins sind. Der physikalische Blick zeigt ihm, dass der andere wie er selbst Teil derselben Natur ist. Was aber zusammengehört und Teil desselben Ganzen ist, kann sich nicht schädigen. Die Vorstellung des Schädigens kommt erst durch mein Urteil, meine falsche Annahme über diesen Menschen ins Spiel. Wenn ich das Urteil »Ich bin geschädigt« aus meinem Vokabular tilge, bin ich auch nicht geschädigt. Es ist Aufgabe der Logik, aus meinen falschen Annahmen wahre Überzeugungen zu machen, indem ich den Blickwinkel für meine Wertungen verändere. Wem ich an einem bestimmten Tag begegne, steht nicht in meiner Macht, wohl aber die Art, wie ich diesen Menschen betrachte und ihm entgegentrete.
Die ethische Folgerung lautet nun, dass ich mich dem anderen zuwenden muss, denn »einander entgegenhandeln ... ist naturwidrig«. Erst jetzt, in der richtigen Betrachtung und mit der richtigen moralischen Einstellung, habe ich meine eigene Vernunft mit der Weltvernunft vernetzt.
Ein weiteres, häufig von Marc Aurel ins Spiel gebrachtes Beispiel ist unser Verhältnis zum Tod. Die Stoiker kannten weder ein Jenseits noch die Auferstehung und Unsterblichkeit des Individuums. Im Tod trennen sich Körper und Seele – der Körper löst sich schnell auf, die Seele lebt noch etwas länger fort und verblasst schließlich auch. Der Tod bietet für Marc Aurel keinen Anlass zur Dramatisierung. Er ist nicht, wie im Christentum, Scheidepunkt für den Weg in den Himmel, in die Hölle oder ins Fegefeuer. Er bedeutet schlicht, dass der Mensch sich in die Elemente auflöst, aus denen er ursprünglich entstanden ist – er kehrt in den Schoß der Natur zurück. Was ich im Leben bin – Teil eines ewigen, gesetzmäßigen Geschehens –, das bleibe ich auch nach dem Tod.
Marc Aurel plädiert für Gelassenheit gegenüber dem Tod und gleichzeitig für Aufmerksamkeit gegenüber dem Leben. Jedem ist innerhalb des ewigen Zeitverlaufs eine begrenzte Zeitspanne zugeteilt, die er nicht kennt, über die er aber verfügen muss. Statt sich der Vergangenheit oder der Zukunft zuzuwenden, sollte der Mensch die für ihn reale Zeit, die Gegenwart nämlich, nutzen. Aus der kosmischen Perspektive ist unser Leben ohnehin nur ein winzig kleines Teilchen des Weltganzen. Was ist Schlimmes daran, so fragt Marc Aurel am Ende des Buches, wenn uns die Natur, die uns hergeführt hat, wieder wegschickt? Im vernunftbestimmten Kosmos gibt es keine existenziellen Dramen. »Geh also heiter weg«, so lautet der letzte Satz, »denn auch der, der dich entlässt, ist heiter.«
Marc Aurel selbst hat sein Manuskript nie veröffentlicht. Es wurde dennoch für die Nachwelt aufbewahrt, aber erst 1559 in Zürich zum ersten Mal gedruckt. Für die Philosophiegeschichte erlangte es insofern große Bedeutung, als nun eine der wenigen vollständig überlieferten Schriften der stoischen Schule vorlag. Die hier formulierten Vorstellungen einer kosmischen Weltvernunft finden sich in der Neuzeit u. a. im Pantheismus Spinozas oder in der Metaphysik Hegels wieder.
Dennoch haben sich die Selbstbetrachtungen weniger im akademischen Lehrbetrieb als vielmehr bei denen durchgesetzt, die die Philosophie in engem Bezug zur Lebenskunst sehen. Als klassisches philosophisches Brevier sind sie, über die Jahrhunderte hinweg, zum Lebensbegleiter von Menschen geworden, die ihr Leben mit Hilfe der Philosophie ausrichten wollten, ohne sich auf scholastische Spitzfindigkeiten einlassen zu müssen. Nicht zufällig gehörten dazu häufig auch Staatsmänner und Politiker, die sich mit der Rolle eines Philosophen auf dem Thron teilweise oder ganz identifizierten. Friedrich II. von Preußen war ebenso ein eifriger Leser der Selbstbetrachtungen wie der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt. Denn entgegen allen Skeptikern, die die Philosophie ins stille Kämmerlein verbannen wollen, demonstrieren die Selbstbetrachtungen, dass ein Leben auf der öffentlichen Bühne sich nicht nur mit philosophischen Überlegungen befassen, sondern sich auch von ihnen leiten lassen kann.
Ausgabe:
Marc Aurel: Selbstbetrachtungen. Übertragen und eingeleitet von Wilhelm Capelle. Stuttgart: Kröner 1973.