Die Heilige Schrift des Existentialismus

Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts (1943)

Metropolen wie London, Paris oder New York werden immer wieder zum Treffpunkt avantgardistischer Künstler, Schriftsteller und Musiker, die nicht nur durch ihre Werke, sondern auch durch ihr öffentliches Auftreten ein neues Zeitgefühl und einen neuen Lebensstil prägen. Auch die Philosophie kann Teil einer solchen »Szene« sein. Dass sie allerdings zum geistigen Mittelpunkt einer urbanen Avantgarde wird, ist sehr selten.

Genau dies geschah nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Pariser Intellektuellenvierteln am linken Seine-Ufer. Im Rausch der Befreiung und des geistigen Aufbruchs war es die Philosophie des Existentialismus, die die Diskussionen in den Pariser Cafés beherrschte. Die jungen Damen, die sich im Stil von Juliette Greco ganz in Schwarz kleideten und sich die Zigarettenspitze schräg in den Mund steckten, waren vom existentialistischen Virus ebenso angesteckt wie jene, die sich in den Pariser Jazzklubs von der Gitarre Django Reinhardts oder der Trompete Boris Vians inspirieren ließen. Eine neue rebellische Literatur entstand: Albert Camus war aus dem algerischen Oran gekommen, Emile Cioran aus Bukarest und Jean Genet, der poète maudit der Szene, hatte gerade eine seiner vielen Gefängnisstrafen hinter sich.

Der Existentialismus von Saint-Germain-des-Prés eroberte von Paris aus die Verlage, Kaffeehäuser und Universitäten der westlichen Welt. Sein Chefdenker und Oberpriester war Jean-Paul Sartre, ein klein gewachsener schielender Kettenraucher, der zusammen mit seiner Freundin Simone de Beauvoir im Café Flore Hof hielt. Sartre hatte nicht nur den Sprung vom provinziellen Philosophielehrer zum intellektuellen Guru von Paris geschafft. Er hatte auch bereits während des Krieges ein mehr als tausendseitiges philosophisches Werk vorgelegt, das zur Heiligen Schrift des Existentialismus wurde: Das Sein und das Nichts, ein Text, der sich auf den Höhen einer sprachlich sehr komplexen philosophischen Reflexion bewegt, aber auch immer wieder in die Täler des alltäglichen Lebens hinabsteigt.

Es war ein Buch, das die Freiheit des Menschen, zugleich aber auch seine Verlorenheit in einem sinnlosen Universum offen legte. Sartres Appell an den Menschen, die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und die Sinnlosigkeit durch einen eigenen Sinnentwurf zu überwinden, hatte große Attraktivität für viele, die sich von den totalitären Weltanschauungen abkehrten, aber auch in der christlichen Weltdeutung keine geistige Heimat mehr fanden. Das Sein und das Nichts entfaltete eine Diesseitsreligion der Freiheit in einer Welt ohne Gott.

Niemand hatte Sartres ungeheure öffentliche Wirkung voraussehen können. Denn der junge Jean-Paul war, wie er selbst in seiner autobiografischen Schrift Die Wörter detailliert schildert, ein Einzelgänger, der sich die Welt über das Medium der Literatur aneignete. Im Gegensatz zu vielen anderen Philosophen, bei denen eine stürmische erste einer eher ruhigen, der Arbeit gewidmeten zweiten Lebensphase gegenübersteht, lebte der junge Sartre zurückgezogen und in seine Bücher vergraben. Erst im mittleren Mannesalter wurde er zu einer gefeierten und zugleich umstrittenen öffentlichen Figur.

Der 1905 geborene Sartre verlor mit zwei Jahren seinen Vater und wuchs bei seinen Großeltern in La Rochelle am Atlantik auf. Zum eigentlichen Erzieher wurde der Großvater Charles Schweitzer, ein Onkel von Albert Schweitzer. Als Deutschlehrer am Gymnasium und Besitzer einer umfangreichen Bibliothek verschaffte er seinem Enkel früh den Eintritt in die Welt des Geistes. Der sozial eher schüchterne, aber intellektuell frühreife Jean-Paul begann im Alter von sieben Jahren mit ersten literarischen Versuchen. Mit zwölf hatte er sich bereits vom christlichen Glauben gelöst. Als vaterloses Einzelkind fühlte er sich in seiner eigenen Familie fremd und einsam. Auch von seiner Umwelt sah sich der junge Sartre ausgestoßen, kritisiert und bedroht, eine Erfahrung, die später in seine Analyse der Beziehung des Menschen zu seinen Mitmenschen, den »Anderen«, einfloss.

Sartres Gefühl, ein Außenseiter zu sein, hinderte ihn jedoch nicht daran, sich in Schule und Studium durch seine Leistungen auszuzeichnen. Mit neunzehn Jahren wurde er in die renommierte Eliteschmiede der École Normale Supérieure aufgenommen, die er als Jahrgangserster abschloss. Hier lernte er auch seine spätere Lebensgefährtin Simone de Beauvoir kennen.

Sartres eigenes philosophisches Denken entwickelte sich, als er, nach einem zweijährigen Militärdienst und einer kurzen Zeit als Philosophielehrer in Le Havre, ein Jahr am Institut Français in Berlin verbrachte. Er kam 1933 nach Deutschland, ausgerechnet in dem Jahr, in dem Hitler die Macht ergriffen und die bürgerlichen Freiheiten abgeschafft hatte. Doch Sartres Aufmerksamkeit galt weniger den politischen Verhältnissen, sondern vor allem der deutschen Philosophie. Er widmete sich dem Studium Edmund Husserls, des Begründers der Phänomenologie, den er schon in französischen Übersetzungen kennen gelernt hatte und mit dem er sich in den folgenden Jahren auseinandersetzte.

Husserl suchte das Wesen der Dinge nicht mehr hinter den Dingen, sondern in den Phänomenen selbst, in der Art, wie sie uns erscheinen. Dabei knüpfte er an René Descartes an, den Begründer des neuzeitlichen Rationalismus. Descartes hatte den Akt des »Ich denke« (»Cogito«) zum Ausgangspunkt jeder Erkenntnisgewissheit und auch der Selbstgewissheit des Menschen gemacht. Auch Husserl nahm den Weg über die Bewusstseins- und Denktätigkeit des Menschen, doch dieses Bewusstsein war für ihn nicht nur auf ein »Ich denke« beschränkt. Es war vielmehr immer ein »Bewusstsein von«, d. h. ein Bewusstsein, das auf einen Erkenntnisgegenstand gerichtet ist. Es gab für ihn kein reines Erkenntnissubjekt ohne die Beziehung auf ein Erkenntnisobjekt. Diese typisch cartesianische Fragestellung, wie man über das Bewusstsein des Subjekts zur Selbsterkenntnis und zur Erkenntnis der Welt gelangt, war es, die auch den jungen Sartre beschäftigte.

Als er nach Frankreich zurückkehrte, setzte er sich in mehreren Schriften mit Husserl auseinander. Sartre ging es darum, sich von der Vorstellung zu verabschieden, das Ich sei der Ausgangspunkt, der ursprüngliche Inhalt des Bewusstseins. Er glaubte zwar wie Husserl, dass unser Bewusstsein immer ein »Bewusstsein von«, also ein auf Gegenstände gerichtetes Bewusstsein ist. Doch in diesem »Bewusstsein von« bei Husserl schien ihm immer noch die Vorstellung eines Ich enthalten zu sein.

Sartre entwickelte stattdessen die Idee eines leeren Bewusstseins, eines »Ur-Bewusstseins«, das sich noch keines bestimmten Inhalts bewusst ist. Weder die Vorstellung eines Ich noch der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt ist in ihm enthalten. Dieses ursprüngliche Bewusstsein ist etwas Unpersönliches, Leeres, Spontanes. Das Einzige, dessen es sich bewusst ist, ist die Tatsache, dass es existiert. In Das Sein und das Nichts bezeichnet Sartre dieses Ur-Bewusstsein als eine »Existenzfülle«, als ein Feld von Möglichkeiten, das die Vorstellung eines Ich erst noch erwerben muss.

In dieser Spontaneität und Unausgefülltheit des ursprünglichen Bewusstseins liegt der Keim für Sartres Vorstellung von Freiheit. Gemeint ist dabei nicht die politische Freiheit, die sich in bürgerlichen Rechten wie z. B. der Meinungsfreiheit ausdrückt. Es ist eine Freiheit, die der des Künstlers ähnelt, der seine Figuren frei erschaffen kann. Entsprechend ist Sartres Freiheit die schöpferische Freiheit des Menschen, sich selbst zur eigenständig handelnden Gestalt in der Welt zu bilden. Aus der Auseinandersetzung mit Husserl über das menschliche Bewusstsein entwickelte sich eine Theorie über den Menschen, der durch sein Handeln seinem Leben ein eigenes Gesicht geben muss.

Sartre war von Anfang an nicht nur ein philosophischer, sondern auch ein literarischer Autor. Den Weg zu seinem Hauptwerk ebneten ihm auch Romane und Theaterstücke. Gerade sie begründeten seinen Ruhm in der Öffentlichkeit. Der literarische Erfolg setzte ein, als er es 1936 geschafft hatte, der Provinz den Rücken zu kehren und am Pasteur-Gymnasium in Paris angestellt zu werden.

Zwei seiner frühen literarischen Schriften haben eine besonders enge Beziehung zu seiner Philosophie: der 1938 erschienene Roman Der Ekel und das Theaterstück Die Fliegen, das 1943, im selben Jahr wie Das Sein und das Nichts, veröffentlicht wurde.

In Der Ekel macht die Hauptfigur Roquentin die Erfahrung, dass ihm die gewohnten Zusammenhänge verloren gehen und ihm die Dinge fremd werden. Das Gefühl des Ekels entsteht, indem sich ihm beim Betrachten der Dinge die Wirklichkeit plötzlich in ihrer ganzen Sinnlosigkeit aufdrängt. Die Welt der Dinge, so wird es Sartre später ausdrücken, ist »kontingent«, ein Begriff der mittelalterlichen Philosophie, der das Zufällige, Unwesentliche im Gegensatz zum Wesentlichen und Notwendigen bezeichnet. Der Mensch findet in der Welt keinen vorgefertigten Sinn vor, sondern es liegt an ihm selbst, etwas Sinnvolles zu schaffen.

Wie dies geschehen kann, davon handelt das Drama Die Fliegen, in dem die griechische Sage von Agamemnon aufgegriffen wird, der nach seiner Heimkehr aus dem Trojanischen Krieg von seiner Frau Klytemnästra und ihrem Liebhaber Ägist ermordet und in der Herrschaft abgelöst wird. Bei Sartre geht es um Agamemnons Sohn, Orest, der sich dazu entschließt, die Tyrannei des Ägist zu beseitigen. Dadurch wird er zum Symbol für den Menschen, der seine Freiheit ergreift und dadurch der Verantwortung gegenüber seinem eingenen Leben gerecht wird.

Das leere, noch unbestimmte menschliche Bewusstsein, die Kontingenz des menschlichen Daseins und ihre positive Kehrseite, die Freiheit des Menschen – alle diese Themen werden in Das Sein und das Nichts zu einem umfangreichen Theoriegebäude gezimmert.

Das Sein und das Nichts entstand mitten im Zweiten Weltkrieg unter höchst ungewöhnlichen Umständen. Einige Monate nach Ausbruch des Krieges wurde Sartre von den Deutschen in ein Internierungslager in der Nähe von Trier gebracht. Hier standen ihm nur wenige, ausnahmslos deutschsprachige Bücher zur Verfügung, von denen ihn vor allem eines interessierte: Martin Heideggers 1927 erschienenes Hauptwerk Sein und Zeit. Heidegger war ebenfalls ein Husserl-Schüler, der versucht hatte, die besondere Rolle des Menschen in der Welt herauszuarbeiten. Der Mensch ist für ihn das einzige Wesen, das ein »Seinsverständnis« hat, d. h., das sich bewusst gegenüber sich selbst und der Wirklichkeit, in der es lebt, verhalten kann. Auf der Grundlage einer Analyse der durch Konventionen geprägten Alltagsexistenz – die er »Uneigentlichkeit« nannte – entwarf Heidegger eine Theorie der menschlichen Selbstverwirklichung, in der dem Menschen die Aufgabe gestellt ist, seiner Freiheit durch eine Existenzwahl Ausdruck zu geben. Erst dadurch erreicht er die Ebene der »Eigentlichkeit« und wird seiner Sonderrolle gerecht.

Im Anschluss an Husserl und Heidegger ging Sartre nun daran, seine eigene Theorie der menschlichen Existenz zu entwickeln. In einem Brief an Simone de Beauvoir vom 22. Juli 1940 berichtet er, er habe mit der Niederschrift von Das Sein und das Nichts begonnen. Im März 1941 gelingt es ihm, aus dem Lager entlassen zu werden und an sein Pariser Gymnasium zurückzukehren. Nun nimmt die Arbeit an dem Buch Fahrt auf. In jeder freien Minute arbeitet Sartre im ersten Stock des Café Flore an dem Manuskript, das er bereits im Oktober 1942 beim Pariser Verlag Gallimard abgibt.

Mit Simone de Beauvoir hatte sich inzwischen eine Partnerschaft entwickelt, in der sich persönliche Nähe und philosophischer Gedankenaustausch ergänzten. Beider Werk entstand parallel, und beide wurden zum berühmtesten Philosophenpaar des 20. Jahrhunderts. »Castor« und »Pollux« nannten sie einander. So enthält auch Das Sein und das Nichts die Widmung »Für den Castor«.

Bereits mit seinem Titel Das Sein und das Nichts – Versuch einer phänomenologischen Ontologie lehnt sich Sartre an die schwierige Rhetorik der deutschen Philosophie in der Tradition Hegels, Husserls und Heideggers an. »Sein« ist ein Begriff, der als der allgemeinste und grundlegendste Begriff der Metaphysik schon in der Antike eine große Rolle spielte, dann aber besonders von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dem bedeutendsten Vertreter des Deutschen Idealismus, und später von Heidegger wieder aufgegriffen wurde. Mit dem »Sein« meint Sartre den gesamten Bereich der Wirklichkeit, einschließlich des Menschen.

Hegel und Heidegger lieferten Sartre auch den Begriff des »Nichts«, der nun aber eine ganz spezielle Färbung annimmt. Die französische Sprache kennt für das »Nichts« zwei unterschiedliche Begriffe, »néant« und »rien«. Das von Sartre benutzte »néant« bezeichnet etwas Fehlendes, eine Leerstelle, die aber ausgefüllt werden kann. »Néant« ist im Gegensatz zu »rien« offen für eine Verwirklichung. Es deutet auf eine noch nicht vorhandene, aber mögliche Wirklichkeit.

Mit dem Begriff »phänomenologisch« gibt Sartre einen Hinweis darauf, dass er die Schrift als eine Weiterentwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls begreift. Dass es sich um eine »Ontologie«, um eine Lehre von den Grundlagen und Prinzipien der Wirklichkeit, handelt, scheint zwar durch die hervorgehobene Verwendung des Begriffs »Sein« bestätigt zu werden, gilt jedoch nur mit Einschränkung: Denn Sartre geht es, wie Heidegger, vor allem um den Menschen, seine Freiheit und seine Selbstverwirklichung.

Das Sein und das Nichts hat sprachlich zwei völlig unterschiedliche Gesichter: Sartre benutzt einerseits eine hoch abstrakte Kunstsprache, offenbart jedoch andererseits sein literarisches Talent, indem er seine Thesen auf fast erzählerische Art durch konkrete Szenen und Situationen beleuchtet. Gerade diese Passagen werden immer wieder zitiert und haben das Buch berühmt gemacht.

Sartre unterscheidet zwei grundsätzliche Arten des Seins: Das »An-sich-sein« und das »Für-sich-sein«. Beide Begriffe stammen von Hegel, doch Sartre gibt ihnen eine eigenständige Bedeutung. Mit »An-sich-sein« meint er die Welt der Dinge, die kein Bewusstsein haben und in ihren wesentlichen Eigenschaften festgelegt sind. Dasjenige Sein, das Bewusstsein hat und zur Wirklichkeit eine eigenständige Beziehung herstellen kann, nennt er »Für-sich-sein«. Vereinfacht gesagt: Das »Für-sich-sein« ist der Mensch, das »An-sich-sein« die ihn umgebende Welt.

Der inhaltliche Aufbau des Buches lässt sich in Analogie zu einer Romanhandlung beschreiben: Sartre enthüllt vor dem Leser, wie aus der Ordnung des An-sich-seins ein zunächst unbekanntes Wesen, das Für-sich-sein, auftaucht, wie es allmählich Gestalt annimmt und sich schließlich selbst in der Ordnung der Wirklichkeit einen eigenen Platz schafft.

In der Welt des Seins entdeckt es zunächst schwarze Löcher, also ein Sein, von dem wir zunächst nicht genau sagen können, was es eigentlich ist. Und doch zeigt sich in diesen Leerstellen etwas: das »Nichts«. Es kann nicht von dem An-sich-sein hervorgebracht worden sein, von den Dingen also, die uns in ihren Eigenschaften bekannt sind. Das Nichts ist vielmehr mit einem anderen Sein verbunden, dem menschlichen Sein. Es ist ein Sein, das nicht in allen Eigenschaften festgelegt ist. In ihm enthüllt sich etwas Offenes, etwas, von dem wir noch nicht wissen, was aus ihm wird.

Das menschliche Sein hat die einmalige Eigenschaft, etwas Bestimmtes auch nicht zu sein, d. h., sich gegenüber der Wirklichkeit auch negativ verhalten zu können. Wie Heidegger glaubt Sartre, dass sich der Mensch bewusst zu seinem eigenen »Sein« verhalten, dass er sich für etwas entscheiden und sein Sein selbst gestalten kann. Er kann immer auch Nein sagen.

Doch der Mensch kann sich nicht nur negativ gegenüber der Welt, sondern auch negativ gegenüber sich selbst verhalten. Er kann die Möglichkeit, auch anders zu sein, die ihn von den Dingen unterscheidet, übersehen und leugnen. Diese Haltung nennt Sartre »mauvaise foi«, ein Begriff, der für jeden Übersetzer eine Herausforderung darstellt und im Deutschen häufig mit »Unaufrichtigkeit«, manchmal sogar mit »schlechtem Gewissen« übersetzt wird. Doch Sartre verbindet mit diesem Begriff keine moralische Wertung. »Mauvaise foi«, wörtlich: »Schlechtgläubigkeit«, hat derjenige, der im Grunde weiß, dass er etwas tun kann oder soll, es aber nicht tun will und deshalb behauptet, er könne es nicht. »Mauvaise foi« ist bei Sartre die Form der Selbsttäuschung, mit der sich der Mensch über sein eigenes Wesen betrügt. Er verhält sich wie ein An-sich-sein, obwohl er ein Für-sich-sein ist. Es ist Sartres Pendant zu Heideggers Zustand der »Uneigentlichkeit«, in dem der Mensch sich weigert, die in ihm angelegten Möglichkeiten zu verwirklichen.

Ein bekanntes Beispiel, das Sartre für »mauvaise foi« gibt, ist das des Kellners, der sich völlig mit seiner beruflichen Rolle identifiziert. Indem er die Abläufe seiner Tätigkeit automatisiert, gibt er ihnen den Charakter der Unausweichlichkeit. Er bemüht sich, so Sartre, »seine Bewegungen ineinander übergehen zu lassen, als wären sie Mechanismen, die einander steuern, seine Mimik und sogar seine Stimme wirken wie Mechanismen«. Der Kellner tut so, als sei er ein An-sich-sein, als sei das Kellner-Sein sein für allezeit festgelegtes Wesen. In Wahrheit spielt er jedoch nur eine Rolle. Wie alle Menschen könnte er auch eine andere Rolle spielen, sich von dem, was er im Augenblick gerade ist und tut, distanzieren und seinen Zustand verändern. Dies sich selbst gegenüber zu leugnen ist »mauvaise foi«.

Das Auftauchen des Nichts in der Ordnung des Seins führt uns nach Sartre also zum Für-sich-sein, zu dem menschlichen Bewusstsein, das sich unseren Festlegungen entzieht. Die Art, wie Sein und Nichts für dieses Bewusstsein zusammenspielen, hat Sartre in folgendem Satz zusammengefasst: »Das Bewusstsein ist nicht, was es ist, und es ist, was es nicht ist.« Eine zunächst höchst verwirrende Aussage, die sich nur dann verstehen lässt, wenn man erkennt, dass Sartre hier das Wörtchen »ist« in jeweils verschiedener Weise verwendet. »Das Bewusstsein ist nicht, was es ist« heißt: Das Bewusstsein lässt sich nicht auf seinen jeweils gegenwärtigen Zustand festlegen. Die entscheidende Eigenschaft, das Wesen des Bewusstseins liegt vielmehr darin, dass »es ist, was es nicht ist«, dass es also immer wieder über sich hinausgehen, sich übersteigen kann. Genau in diesem Sinn des Übersteigens, lateinisch »transcendere«, benutzt Sartre den Begriff »Transzendenz«. Gemeint ist nicht die übersinnliche Welt, die sich unserer Erfahrung entzieht, sondern etwas typisch Menschliches: die Fähigkeit, etwas anderes aus sich zu machen, als man ist.

Man kann Sartres Satz also folgendermaßen übersetzen: Das Bewusstsein zeichnet sich dadurch aus, dass es sich nie festlegen lässt und immer für neue Möglichkeiten des Selbstverständnisses offen bleibt.

So gewinnt Sartre aus der Analyse des Nichts die Vorstellung eines menschlichen Bewusstseins als dem Ursprung menschlicher Freiheit. Es ist das, was den Menschen vor den Dingen, dem An-sich-sein, auszeichnet. Sartre gehört zu jenen Philosophen, die die Sonderrolle des Menschen gegenüber allen anderen Erscheinungen der Wirklichkeit besonders betonen und es ablehnen, den Menschen durch äußere Einflüsse wie Vererbung, Erziehung oder gesellschaftliche Stellung zu definieren.

Sartre bezieht sich auf Diskussionen der mittelalterlichen Philosophie, wenn er sagt, dass beim Menschen, im Unterschied zu den Dingen, die »Existenz« der »Essenz«, also das »Dasein« dem »Wesen« vorausgeht. Inwieweit z. B. im Wesen, d. h. in der allgemeinen Definition von »Mensch« oder »Pferd« die Existenz eines Menschen oder eines Pferdes bereits vorgeprägt ist und ob jenes »Allgemeine« vielleicht sogar eine eigenständige Existenz besitzt, war im Mittelalter heiß umstritten. Für Sartre jedenfalls ist die menschliche Existenz nicht vorgeprägt. Der Mensch ist für ihn zunächst wie ein unbeschriebenes Blatt und bildet das, was ihn eigentlich ausmacht, erst im Laufe seines Lebens aus. Anders verhält es sich mit dem An-sich-sein, der Welt der Dinge: Sie sind in ihren wesentlichen Eigenschaften von vorneherein festgelegt.

Das Für-sich-sein gibt dem Menschen auch in einer anderen Hinsicht eine einmalige Stellung innerhalb der Wirklichkeit: Er kann sich zum Zentrum seiner Welt machen und die Dinge um ihn herum auf sich beziehen. Doch dabei gibt es eine entscheidende Schwierigkeit: Der Mensch ist nicht allein auf der Welt, es gibt nicht nur ein einziges Für-sich-sein, sondern mehrere. Heidegger hatte die soziale Verknüpfung des Menschen mit anderen Menschen durch den Begriff »Mitsein« bezeichnet. Bei Sartre allerdings erhält dieses Mitsein den Charakter eines Gegensatzes, einer Bedrohung. Der Andere ist jemand, der im Weg steht und mit dem man sich ständig auseinandersetzen muss. Inspiriert wurde Sartre zu dieser Sicht von dem berühmten Abschnitt über »Herr und Knecht« in Hegels Phänomenologie des Geistes, in dem Hegel in einer bildlichen Sprache schildert, wie sich das menschliche Selbstbewusstsein durch einen Kampf herausbildet, den es mit einem anderen Selbstbewusstsein um gegenseitige Anerkennung ausficht.

Einen solchen Konflikt schildert Sartre in dem zentralen und vielleicht bekanntesten Kapitel des Buches mit dem Titel »Der Blick«. Der Andere stellt meine Freiheit, die Möglichkeit, meinen Platz in der Welt zu wählen, in Frage, indem er mich wie ein Objekt, wie ein An-sich-sein, anblickt. Wie im Falle des Ekels, der mir die Präsenz einer sinnlosen Welt bewusst macht, ist es wiederum ein Grundgefühl, das mir eine fremde Wirklichkeit, die Präsenz des Anderen, bewusst macht. Es ist das Gefühl der Scham. Sartre verdeutlicht dies durch die Situation desjenigen, der eine Szene durch ein Schlüsselloch beobachtet und in diesem Schauen zunächst ganz aufgeht. Plötzlich fühlt er selbst den Blick eines anderen auf sich ruhen. Im Angeblickt-Werden erfährt er den Anderen als Subjekt und sich selbst als Objekt. Er fühlt sich mitten in die Welt der Dinge »geworfen«. Dieses Objekt-Sein löst Scham aus, aber auch das Bewusstsein, ein Ich zu sein. Hier erst, in der Konfrontation mit dem Anderen, entsteht aus dem ursprünglich leeren Bewusstsein zugleich das Bewusstsein von einem Ich und das Bewusstsein von der Existenz des Anderen. Indem ich aber ein eigenes Ich-Bewusstsein entwickle, bin ich nun auch fähig, meine Entfremdung als Objekt zu überwinden und den Anderen, wie Sartre sagt, »als Objekt zu konstituieren«, d. h., den Spieß umzudrehen.

Der Mensch bleibt gegenüber dem anderen Menschen bei Sartre immer in einem Verhältnis des Konflikts und der Abgrenzung. Zu einem gegenseitigen Verstehen des Anderen, zu einem gleichberechtigten Verhältnis von Subjekt zu Subjekt kommt es nicht. Der Andere bleibt immer eine potenzielle Bedrohung meiner Subjektivität. In seinem kurz nach Das Sein und das Nichts erschienenen Theaterstück Geschlossene Gesellschaft hat Sartre dies in dem berühmten Satz ausgedrückt: »Die Hölle, das sind die Anderen.«

Das Sein und das Nichts bleibt auf den einzelnen Menschen und seine Selbstverwirklichung konzentriert. Dabei ist die Analyse von Bewusstseins- und Erkenntnisprozessen lediglich der Ausgangspunkt. Sartre ist ein Philosoph, der den Menschen mitten in die Welt platziert und von ihm verlangt, auf die Herausforderung eines sinnlosen Universums, auf die Tatsache des »Geworfenseins« mit einem eigenen Existenzentwurf zu antworten. Sartres Philosophie der Freiheit ist auch eine Philosophie des Engagements. Der Mensch kann diese Freiheit nicht ablehnen, da er sonst dem »mauvaise foi«, dem Selbstbetrug, verfällt. Wir sind, so eine der bekanntesten Aussagen Sartres, »zur Freiheit verurteilt«.

Deshalb steht nicht zufällig das Handeln im Mittelpunkt des letzten Teils des Buches. Mit der Freiheit müssen wir auch die Verantwortung für unsere Existenz annehmen. Dies bedeutet, sich auch auf die Umstände einzulassen, die wir vorfinden. Wir werden mit einer bestimmten genetischen Ausstattung geboren, wir leben an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit. Diese Umstände, an die unser Leben gebunden ist, nennt Sartre »Faktizität«. Faktizität und Transzendenz, das Gebundensein und das Überschreitenkönnen, sind die beiden Pole, zwischen denen sich unser Handeln vollzieht.

Die Stellung, die wir zwischen diesen beiden Polen haben, nennt Sartre »Situation«. In der Situation muss der Mensch für die Umstände, in denen er lebt, die Verantwortung übernehmen und sie als Bestandteil der eigenen Wahl begreifen. Sie sind gewissermaßen das Material, dessen sich meine Freiheit bedient, um ein eigenes Haus zu bauen. Sie sind nicht in erster Linie Einschränkungen, sondern Ausgangspunkt, Chance und Gelegenheit. In die Welt geworfen sein heißt, sich wie ein Läufer am Start zu sehen und den Wettkampf des Lebens anzunehmen: »Ich bin in die Welt geworfen«, so Sartre, »nicht in dem Sinn, dass ich preisgegeben und passiv bliebe in einem feindlichen Universum, wie die Planke, die auf dem Wasser treibt, sondern im Gegenteil in dem Sinn, dass ich mich plötzlich allein und ohne Hilfe finde, engagiert in eine Welt, für die ich die gesamte Verantwortung trage ...«

Das Sein und das Nichts entwirft das Bild einer Welt, in der jeder Einzelne, der uns zunächst wie ein unbekanntes Objekt in der Ordnung des Universums erschienen war, dazu aufgerufen ist, sich durch sein Handeln kenntlich zu machen und sein eigenes Stückchen Sinn in dieses Universum zu tragen. Die Verantwortung dafür hat jeder alleine. Und jeder muss es auf seine eigene Art tun.

 

Das Sein und das Nichts erschien 1943 in Paris zu einer Zeit, als die Stadt noch nicht von der deutschen Besatzung befreit war. Deshalb fand das Buch zunächst kaum ein Echo. Doch in die philosophische Öffentlichkeit der Nachkriegszeit schlug das Werk wie eine Bombe ein. Für die einen wurde es zum philosophischen Äquivalent der Résistance, zu einem Akt der Befreiung von den totalitären Ideologien der ersten Jahrhunderthälfte, in denen das Individuum zum Hilfsarbeiter der Weltgeschichte gemacht worden war. Für die anderen war es ein Skandal: Die Kirche kritisierte die Abwesenheit Gottes, die damals sehr einflussreichen französischen Kommunisten beklagten das Fehlen der Solidarität und der gesellschaftlichen Rolle des Menschen, ein Einwand, den Sartre durch sein zweites großes Werk, Die Kritik der dialektischen Vernunft, zu entkräften suchte. Doch obwohl er sich in späteren Jahren in einen heftigen Flirt mit dem Marxismus verwickelte und sich als Gesellschaftsphilosoph etablieren wollte, blieb seine philosophische Lebensleistung vor allem mit seiner existentialistischen Frühphase verbunden.

Die in Das Sein und das Nichts formulierten Thesen beeinflussten die gesamte zeitgenössische Literatur und Kunst, vom absurden Theater eines Samuel Beckett oder Eugène Ionesco bis zu den Skulpturen Alberto Giacomettis. Sie dienten auch Simone de Beauvoir als Inspiration für ihr monumentales Werk Das andere Geschlecht, ein Grundbuch des modernen Feminismus, das mit der Analyse der Rolle der Frau der Kategorie des »Anderen« einen neuen Sinn gab.

Das Sein und das Nichts hat die einmalige Rolle des Menschen in der Welt herausgearbeitet und gezeigt, dass unsere Rede von der Würde, der Verantwortung oder der Kreativität des Menschen nur Sinn hat, wenn wir dahinter den Einzelnen sehen, der in Freiheit sein eigenes Leben gestalten kann. Es ist das Verdienst Sartres, dieser Freiheit eine philosophische Grundlage gegeben zu haben.

 

Ausgabe:

Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Herausgegeben von Traugott König. Deutsch von Hans Schöneberg und Traugott König. Reinbek: Rowohlt 1993.