Karten zu erstellen oder zu korrigieren ist eine mühevolle Tätigkeit, die Geduld und Genauigkeit erfordert. Kartografen sehen die Welt nicht mit der schwärmerischen Haltung des Romantikers, sondern mit dem scharf beobachtenden Auge des Forschers. Sie erweitern nicht nur unser Faktenwissen, sondern unser gesamtes Weltbild. Sie zeigen uns, wo wir uns befinden und was es außerhalb unseres gewohnten Horizonts gibt.
Einer der berühmtesten Kartografen der Philosophiegeschichte ist Charles Louis de Secondat, Baron de Montesquieu, ein Adliger aus dem Südwesten Frankreichs, der etliche Jahre seines Lebens damit verbrachte, die politischen Systeme seiner Zeit und der Vergangenheit zu studieren. Was er nach vielen Jahren Arbeit vorlegte, war eine bahnbrechende Leistung der Aufklärung. Sein Hauptwerk Vom Geist der Gesetze atmet nicht den Geist des Theoretikers, sondern den Geist des Empirikers: Nicht Ideale, sondern die Anschauung führten den Autor zu seinen Thesen.
Montesquieu war ein großer Sammler von Fakten: Davon zeugen nicht nur die beinahe eintausend Seiten Umfang, denen sich der Leser seines Werks gegenübersieht. Detailliert zeichnete er auch auf, wie unterschiedliche geschichtliche und geografische Faktoren die Bildung unterschiedlicher Verfassungen und politischer Institutionen begünstigen. Montesquieu begnügte sich aber nicht mit einer Aufzählung von Unterschieden und Faktoren, die für eine politische Kultur bestimmend sind. Er fügte seiner Landkarte auch einen Wegweiser bei, der zu einer Verfassung führen sollte, die vor den Ansprüchen der Vernunft Bestand hat. So entstand eine in der Philosophiegeschichte einmalige Mischung aus historischer Darstellung und politischer Theorie, ein Werk, das ebenso über die Vergangenheit belehrte wie auch in die Zukunft wies.
Mit Vom Geist der Gesetze zeichnete Montesquieu eine Landkarte der politischen Kulturen, die die Augen dafür öffnete, dass das auf die Zentralgewalt des Königs zugeschnittene System des Absolutismus, das in seinem Heimatland Frankreich herrschte, weder die einzige noch die beste Möglichkeit war, ein politisches System zu organisieren. Das Buch wurde zum Wegbereiter für eine neue Auffassung vom Staat und seinem Verhältnis zu den Bürgern, die schließlich zum demokratischen Rechtsstaat führte.
Als Angehöriger des Provinzadels wurde der junge Montesquieu schon sehr früh mit der Erwartung konfrontiert, politische Funktionen zu übernehmen. 1689 im Wasserschloss La Brède nahe bei Bordeaux geboren, blieb er sein ganzes Leben Angehöriger der herrschenden Klasse seiner Heimatregion und füllte dort neben seinen vielfältigen anderen Aktivitäten die sozialen Rollen des Gutsbesitzers, Standesvertreters und Richters aus.
Seine Erziehung fand, wie damals üblich, zunächst unter dem Dach der katholischen Kirche statt. Einige kirchliche Schulen gehörten zu den besten und fortschrittlichsten des Landes. So auch das Elite-Kolleg zu Juilly, das Montesquieu von 1700 bis 1705 besuchte und das von dem Orden der Oratorianer betrieben wurde. In Juilly erwarb Montesquieu seine vorzügliche Kenntnis der Antike, entwickelte aber auch schon eine eher kritisch-distanzierte Haltung zum Christentum.
Nach seinem Schulabschluss begab er sich in eine achtjährige juristische Ausbildung: zunächst an der juristischen Fakultät in Bordeaux und – nach bestandenem Examen – bei einer Pariser Anwaltskanzlei, wo er ein Praktikum machte. Lange bevor er über Gesetze schrieb, wusste Montesquieu über die Praxis des Rechtssystems Bescheid.
1713 kehrte er aus Anlass des Todes seines Vaters nach Bordeaux zurück und regelte seine äußeren Lebensumstände. Er ging eine Vernunftehe mit einer wohlhabenden Calvinistin ein und übernahm das väterliche Weingut. Auch die Übernahme öffentlicher Ämter, die in der damaligen Zeit gekauft werden mussten, aber auch verpachtet oder vererbt werden konnten, gehörte zur aristokratischen Repräsentation. So erwarb er einen Ratsherrensitz im Parlament seiner heimatlichen Provinz Guyenne, ein Amt, das hauptsächlich in richterlicher Tätigkeit bestand. 1716 schließlich erhielt er, in Nachfolge eines verstorbenen Onkels, den lukrativen Titel eines Kammerpräsidenten und fand Aufnahme in die Akademie von Bordeaux: eine erste Eintrittskarte für die Existenz als geachteter Autor.
Bereits sehr früh hatte Montesquieu versucht, sich neben seinen Verpflichtungen den Rücken für schriftstellerische Arbeit freizuhalten. Nun begann er, Teile des Jahres in Paris zu verbringen, wo er geistige Anregungen fand und wichtige soziale Kontakte pflegte. Er war ein für die Zeit typischer Homme de lettres, ein vielseitig gebildeter und interessierter Mensch, der aber jedes Expertentum ablehnte. So wurde er auch als Autor ein »Allrounder«, gleichermaßen belesen in Literatur, Naturwissenschaften, Geschichte, Politik und Philosophie.
Die Schrift, mit der er zum ersten Mal ins nationale Bewusstsein trat, vereinigte diese vielseitigen Interessen auf eine amüsante und höchst erfolgreiche Art: Die Perserbriefe von 1721 haben heute den Ruf, der erste europäische Briefroman von Rang zu sein. Sie reflektieren die Reiseerfahrungen während der frühen Aufklärung und damit die kulturelle Öffnung gegenüber dem Orient. Sie stehen aber auch in der Tradition der von Montaigne begründeten und von La Rochefoucauld und La Bruyère zu literarischer Blüte geführten französischen Moralistik. Wie La Bruyères Charaktere von 1688 sind sie ein Versuch, aus der Beobachtung sozialer Verhaltensweisen Urteile über die Natur des Menschen und Regeln einer vernünftigen Lebensführung abzuleiten.
Auch Montesquieu porträtiert in den Perserbriefen soziale Charaktere wie »Schöngeister« oder »Glücksritter« und gewinnt daraus wie seine moralistischen Vorgänger ein skeptisches und pessimistisches Menschenbild. Anders als bei La Bruyère jedoch nehmen politische und gesellschaftliche Verhältnisse einen großen Raum ein. Auch greift Montesquieu auf die in der Aufklärung häufig benutzte »orientalische Perspektive« zurück: Westliche Verhältnisse werden mit östlichen Augen gesehen. In den Perserbriefen sind es zwei Reisende aus Isfahan, die nach Frankreich kommen und die dortige Gesellschaft in Briefen kommentieren.
Mit diesem Kunstgriff kritisierte Montesquieu den französischen Absolutismus auf indirekte Art. Für die beiden Perser trägt der französische König die vertrauten Züge der heimischen Despoten, während die Religion der christlichen »Derwische« als wortverdrehende Heuchelei dargestellt wird. In den Perserbriefen wird auch schon die positive Haltung des Autors zu England deutlich, das 1689 die konstitutionelle Monarchie eingeführt hatte. So berichtet im 104. Brief der Perser Usbek, dass nach Meinung der Engländer jede Art von despotischer Herrschaft dem Volk das Recht gebe, sich von dieser Herrschaft loszusagen und seine »naturgegebene Freiheit« wieder in Besitz zu nehmen, und dass jede unbegrenzte Macht ungesetzlich sei, weil sie keinen »legitimen Ursprung« habe. Mit den Perserbriefen hatte Montesquieu den aufklärerischen Grundton seiner politischen Philosophie angestimmt.
Nach dem Erscheinen seines Erstlings wurde Montesquieu zu einer bekannten Figur in den Pariser Salons, den traditionellen Karriereschmieden. Hier erwarb er die entscheidenden Kontakte, die ihm schließlich 1728 zur Aufnahme in die renommierte Académie Française verhalfen. Nun war er auch auf nationaler Ebene ein gemachter Mann.
Montesquieu hat später immer wieder betont, er habe zwanzig Jahre lang am Geist der Gesetze gearbeitet. Ob er tatsächlich im Jahr 1728 damit begonnen hat, ist nachträglich schwer festzustellen. Sicher ist jedenfalls, dass er in jenem Jahr eine dreijährige Europareise antrat, die ihm umfangreiches Anschauungsmaterial für sein Buch lieferte. Sie führte ihn zunächst nach Deutschland, Österreich, Ungarn, in die Schweiz und nach Italien.
Die wichtigste Etappe der Reise begann jedoch, als er zu Beginn des Jahres 1729 in London eintraf. In England blieb er zwei Jahre. Er erwarb dort eine intime Kenntnis der Gesellschaft und des politischen Systems. Als bekanntem Literaten standen ihm die Türen der höheren Gesellschaft offen. Hier konnte er die in John Lockes zweiter Abhandlung über die Regierung entwickelte Theorie der Trennung von ausübender und gesetzgebender Gewalt unmittelbar vor Ort studieren. Montesquieu erlebte, dass es ausgerechnet die damals oppositionellen Tories, die englischen Konservativen, waren, die für eine öffentliche Kontrolle staatlicher Institutionen stritten.
Als er 1731 nach Frankreich zurückkehrte, brachte er nicht nur eine Unmenge Notizen, sondern auch die Erfahrung einer gelebten politischen Aufklärung mit nach Kontinentaleuropa. Er war nicht der Einzige. Kurze Zeit später, 1734, machte auch Voltaire mit seinen Englischen Briefen die französische Öffentlichkeit mit den Freiheitsrechten der englischen Verfassung vertraut und stieß damit eine Diskussion an, die in Montesquieus Vom Geist der Gesetze einen Höhepunkt fand.
Ein Teil der mitgebrachten Materialien floss in eine Schrift ein, die Montesquieu ebenfalls 1734 veröffentlichte: Die Betrachtungen über die Ursachen von Größe und Niedergang der Römer. Wenn es auch hier um Rom ging, so wussten viele zeitgenössische Leser doch, dass sie »Frankreich« verstehen mussten: Montesquieu legte dar, dass ein Staat, der in seinen Institutionen stagniert und in seinem Machtstreben die ihm gesetzten natürlichen Grenzen überschreitet, zum Untergang verurteilt ist.
Welche politischen Systeme man unterscheiden kann, wie sie sich erhalten, negativ verändern und von welchen Faktoren ihre Existenz beeinflusst ist: Dies war auch das Thema des umfangreichen Werks, der großen Landkarte der politischen Kulturen, die nun Gestalt anzunehmen begann. Spätestens ab 1735 ist Montesquieus intensive Arbeit an seinem Hauptwerk nachweisbar.
In Paris hielt er sich nun hauptsächlich zum Studium und zur Recherche in Bibliotheken auf. Zum Schreiben zog er sich dann wieder auf sein Wasserschloss La Brède zurück. Anfang der dreißiger Jahre, unmittelbar nach Abschluss der Europareise, war bereits das berühmte Kapitel über die Verfassung Englands entstanden. 1742 berichtet Montesquieu in einem Brief, er habe 18 Bücher, d. h. große Kapitel, des Werks fertig gestellt. 1745 überarbeitet er das bereits Geschriebene. Immer wieder meint er, neues Material einarbeiten zu müssen. Im Juni 1747 beginnt er mit der Niederschrift der Bücher 28, 30 und 31, die sich mit der Geschichte des römischen Rechts in Westeuropa und mit dem fränkischen Lehnrecht befassen. Zu einem systematischen Abschluss gelangte das Buch jeodch nie. Montesquieu hinterließ einen Torso, ein nicht ganz durchstrukturiertes Manuskript, das er im Frühjahr 1748 schließlich zum Satz gab.
Die politische Philosophie der Neuzeit hatte, unter dem Einfluss der empirischen Naturforschung, Staat und Politik als eine gesetzmäßig wirkende und vom Menschen gestaltbare Sphäre entdeckt. Machiavelli hatte Politik als rationales Machtkalkül beschrieben, und der Franzose Jean Bodin hatte im 16. Jahrhundert ebenso wie der Engländer Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert eine Theorie der absoluten Souveränität der Staatsmacht entwickelt. In der politischen Philosophie John Lockes war diese absolute Form der Herrschaft zugunsten der Rechte des Parlaments und der Bürger infrage gestellt worden.
In Vom Geist der Gesetze führt Montesquieu diese aufklärerische Kritik am Absolutismus fort. Aber er knüpft auch an die Auffassung an, dass der Staat ein Funktionszusammenhang ist, dessen Mechanismen genauso beschrieben werden können wie Vorgänge in der Natur. Der Begriff »Gesetz« wird bei ihm in ausdrücklicher Analogie zu naturwissenschaftlichen Gesetzen verwendet. Ein Gesetz ist keine willkürliche Vorschrift, sondern Ausdruck für eine konstante, vernunftgeleitete Beziehung zwischen Mensch und Umwelt. Dadurch, dass er die soziale Umwelt, die Gesellschaft, die Welt des Rechts und die Welt der Politik als ebenso gesetzmäßig begreift wie die natürliche Umwelt und in ihr einen eigenständigen Untersuchungsbereich entdeckt, wird er zu einem der Väter der Soziologie als eigenständiger Wissenschaft.
Doch die vernunftgeleiteten Gesetze des sozialen Zusammenlebens können nicht im gleichen Sinne vorausgesetzt werden wie naturwissenschaftliche Gesetze. Es gibt gute und schlechte Gesetze ebenso wie bessere und schlechtere Verfassungen, denn die Menschen sind – anders als die Natur – irrtumsanfällig. Dennoch hält Montesquieu an der Auffassung fest, die schon Aristoteles, einer der Großen der politischen Philosophie der Antike, geäußert hatte: dass nämlich die staatliche Gemeinschaft eine natürliche Form des Zusammenlebens der Menschen ist.
Demgegenüber hatte einige Jahrzehnte zuvor der Engländer Thomas Hobbes in seinem Leviathan behauptet, der Staat sei ein künstliches, ganz dem Willen und den Planungen der Menschen unterworfenes Gebilde. Hobbes hatte die Idee des sogenannten »Naturzustands« in die Philosophie eingeführt, des Zustands also, in dem die Menschen sich befinden, bevor sie sich in einem Gesellschaftsvertrag zu einem Gemeinwesen zusammenschließen. In einem solchen Zustand herrscht nach Hobbes ein Krieg aller gegen alle.
Auch wenn er selten genannt wird, richten sich viele Argumente Montesquieus gegen Hobbes. Nach seiner Ansicht gibt es in einem vorstaatlichen Zustand keinen Krieg aller gegen alle. Die Menschen sind vielmehr von Furcht beherrscht und neigen dazu, sich vor anderen Menschen zurückziehen. Auch einen »Gesellschaftsvertrag« gibt es bei Montesquieu nicht. Er nimmt an, dass der Mensch durch »Naturgesetze« dazu veranlasst wird, sich um Frieden, Nahrung und Nähe zu anderen zu bemühen. Konflikte und Verteilungskämpfe stellen sich erst dann ein, wenn Menschen zusammenkommen, ohne sich in einer vernunftgeleiteten politischen Gemeinschaft zu organisieren.
Vom Geist der Gesetze widmet sich, grob gesprochen, drei verschiedenen Themen: den verschiedenen Regierungsformen und den in ihnen verwirklichten Beziehungen zwischen Bürger und Staat; den sozialen und natürlichen »Umweltfaktoren«, die die Bildung einer Verfassung beeinflussen; und schließlich der Frage, welche Verfassungsmodelle es in der Geschichte gab und welche Lehren man aus ihnen für die Gegenwart ziehen kann.
Montesquieu unterscheidet zwischen drei Regierungsformen. Diese Dreiteilung geht auf die politische Philosophie der Antike zurück. So hatte Aristoteles in seiner Politik zwischen der Herrschaft der Mehrheit der Polisbürger, der Politie, der Herrschaft weniger, der Aristokratie, und der Herrschaft eines Einzelnen, der Monarchie, unterschieden. Jeder dieser Spielarten hatte er auch eine Verfallsform zugeordnet: Die Politie konnte zur »Demokratie«, einer Art Volksdiktatur, die Aristokratie zur Oligarchie, zur Herrschaft einer Clique, und die Monarchie zur Tyrannis, zur diktatorischen Herrschaft eines Einzelnen, werden.
Bei Montesquieu erscheinen diese drei Formen, angelehnt an die politischen Gegebenheiten seiner Zeit, in etwas veränderter Form. Nicht mehr die antike Polis ist sein Bezugspunkt, sondern die Staatenwelt des 18. Jahrhunderts. Politie und Aristokratie fasst er zur »Republik« zusammen. Weil sie sich nur auf einem kleinen Staatsgebiet entfalten kann, ist sie für ihn eine vor allem der Antike und damit der Vergangenheit angehörige Regierungsform. Dennoch behält sie für ihn eine Vorbildfunktion, denn in ihr richten sich die Bürger nicht an Sonderinteressen, sondern am Gemeinwohl aus. Die für die Republik charakteristische Einstellung des Bürgers ist die politische Tugend der Vaterlandsliebe.
Die »mittlere« Regierungsform und gleichzeitig die für seine Zeit typische ist die Monarchie. Sie findet sich in den mittelgroßen Flächenstaaten Europas. Hier richten die Bürger ihr Verhalten am Ehrgefühl aus. Die Despotie als dritte Regierungsform war vor allem aus den riesigen Flächenstaaten des Orients vertraut. Die charakteristische Haltung des Bürgers ist hier die Furcht.
Zwischen natürlicher und sozialer Umwelt sieht Montesquieu enge Querverbindungen. Deshalb hat die Beantwortung der Frage, welche Regierungsform sich an welchem Ort herausbildet, auch sehr viel mit natürlichen Umweltbedingungen zu tun. Unter diesen Bedingungen, zu denen u. a. die geografische Lage, Bodenbeschaffenheit, Fauna und Flora gehören, spielt für Montesquieu das Klima eine besondere Rolle.
In Montesquieus berühmter Klimatheorie gibt es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Orient und Okzident: Die heißen Klimate des Orients befördern sinnliche Eindrucksfähigkeit, aber gleichzeitig »Faulheit des Geistes«. Wie einst der griechische Historiker Herodot sieht Montesquieu in den Klimaten des Südens eine wichtige Ursache für die Herausbildung von Despotien. Es sind demgegenüber die gemäßigten nördlichen Klimate, in denen seiner Meinung nach die Freiheit am besten gedeiht. Besonders das Seeklima in England scheint hierfür in besonderer Weise förderlich zu sein.
Jeder Staat ruht also auf einem Geflecht natürlicher und sozialer Voraussetzungen, die zusammen den »Geist der Gesetze« ausmachen. Montesquieu nennt ihn auch »esprit général«, den »Gemeingeist« oder, wie es in manchen Übersetzungen heißt, die »Geisteshaltung« eines Gemeinwesens. »Verschiedene Dinge beherrschen den Menschen«, schreibt Montesquieu im 19. Buch, »Klima, Religion, Gesetze, Sitten und Gebräuche; und aus alledem entspringt und formt sich die Geisteshaltung eines Volkes.« »Esprit général« ist der Begriff, den Montesquieu für die gewachsene, unverwechselbare politische Kultur eines Landes prägt. Er umfasst sehr viel mehr als Rousseaus »volonté générale«, der »Gemeinwille«, der lediglich die politische Souveränität und Einheit eines Landes repräsentiert.
Montesquieu verbindet also seine aufklärerische Grundeinstellung mit der Wertschätzung von Traditionen und natürlichen Eigenheiten eines Landes. Jedes Land soll sich gemäß dem ihm eigenen »ésprit général« politisch organisieren. Doch soll es dies in einer Weise tun, die den Bürgern Freiheit und Identifizierung mit dem Gemeinwesen ermöglicht. Deshalb sieht Montesquieu auch nicht alle Regierungsformen als gleichwertig an.
Am ehesten entspricht die Republik seinem Ideal, während er in der Despotie die schlechteste Regierungsform sieht. Da Montesquieu sich die Republik aber, nach dem Muster der Antike, als kleinen Stadtstaat vorstellt, sieht er wenig Chanchen, sie in der Staatenwelt des 18. Jahrhunderts zu verwirklichen. Republiken neigen seiner Meinung nach in Flächenstaaten dazu, ihre Überschaubarkeit und den unmittelbaren Bezug zu den Bürgern zu verlieren und sich zu Monarchien zu entwickeln. In den Monarchien wiederum sieht er eine Tendenz zum Despotismus, vor allem dann, wenn die Macht zentralisiert und durch Eroberungen der natürliche Gebietsumfang überschritten wird. Genau diese Entwicklung stand ihm am Beispiel des französischen Absolutismus vor Augen.
Es war deshalb die Monarchie, die politische Regelform seiner Zeit, der er sein Hauptaugenmerk schenkte. Montesquieu ging es darum darzulegen, wie der Verfall der Monarchien zu Despotien verhindert werden kann. Dabei hatte er wie sein antiker Vorgänger Aristoteles eine Vorliebe für den Mittelweg, für politische Organisationsformen, in denen sich verschiedene gesellschaftliche Elemente und Einflüsse mischen und weder eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe noch eine bestimmte Institution eine absolute Dominanz ausübt. »Der Geist der Mäßigung muss den Gesetzgeber beherrschen«, so fasst Montesquieu selbst sein eigenes Verfassungsprogramm zusammen.
Seine Studien der römischen und fränkischen Geschichte, vor allem aber die englische Verfassung boten ihm Anschauungsmaterial, wie die absolute Monarchie zugunsten einer »gemischten Verfassung« verändert werden kann. Im 6. Kapitel des 11. Buches, betitelt »Von der Verfassung Englands«, formuliert Montesquieu das berühmte Prinzip der Gewaltenteilung: »Wenn in derselben Person oder der gleichen obrigkeitlichen Körperschaft die gesetzgebende Gewalt mit der vollziehenden vereinigt ist, gibt es keine Freiheit ... Es gibt ferner keine Freiheit, wenn die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und vollziehenden getrennt ist ... Alles wäre verloren, wenn derselbe Mensch oder die gleiche Körperschaft der Großen, des Adels oder des Volkes diese drei Gewalten ausüben würden: die Macht, Gesetze zu geben, die öffentlichen Beschlüsse zu vollstrecken und die Verbrechen oder die Streitsachen der Einzelnen zu richten.«
Montesquieus vorgeschlagene Trennung zwischen Regierung (Exekutive), Parlament (Legislative) und Gerichten (Judikative) ging sowohl über die von Locke vorgeschlagene Machtteilung zwischen König und Parlament als auch über die in England praktizierte Verfassungswirklichkeit hinaus. Es handelte sich, wie die Leser schnell erkannten, um eine bahnbrechende Theorie, die weit in die Zukunft wies. Dass z. B. die Justiz völlig unabhängig von politischen Einflussnahmen entscheiden muss, ist eine weltweit erhobene Forderung, die allerdings bis heute in nur wenigen Ländern eingelöst ist.
In der heutigen Diskussion zwischen dem »Universalismus«, also der These, dass es Grundregeln des Zusammenlebens geben muss, die für alle Menschen in allen Kulturen gelten, und dem »Relativismus«, der Auffassung, dass die Regeln des Zusammenlebens immer von den besonderen Bedingungen abhängen, unter denen ein Volk lebt, nimmt Montesquieu eine vermittelnde Position ein. Es gibt für ihn Grundsätze, die für alle gelten. Ihre konkrete Ausgestaltung aber bleibt Sache der besonderen Umstände.
Freiheit und Kontrolle der politischen Macht durch Institutionen, die sich gegenseitig auf die Finger sehen, sind die Grundsätze, die nach Montesquieu für alle politischen Gemeinwesen gelten müssen. Unser heutiges Verständnis von Freiheit und Gewaltenteilung ist allerdings erheblich weiter gefasst als das Montesquieus. Dieser strebte keine moderne Demokratie im westlichen Sinn an, und er hatte auch noch nicht denselben Begriff von Grundrechten und Grundfreiheiten, wie wir ihn heute haben. So wollte er noch für jeden sozialen Stand eigene Gerichte einrichten. Besonders der Adel, der für Montesquieu »mittlere Stand«, sollte gegenüber dem König in seiner Stellung gestärkt werden. Doch auch die Machtbefugnisse des Monarchen gegenüber dem Parlament blieben noch erheblich. So hatte der König ein Vetorecht gegenüber den Beschlüssen des Parlaments, und dieses wiederum konnte sich ohne Zustimmung des Königs nicht selbst einberufen.
Montesquieu wurde vor allem durch den Weg, den er beschritten hatte, und die Begründung, die er dafür gab, für die politische Philosophie wegweisend: Es gibt keine Patentlösung für eine ideale politische Verfassung, weil die jeweiligen Traditionen zu unterschiedlich sind. Die politische Vernunft hat viele Gesichter. Es hilft auch nicht das Vertrauen in das Gute im Menschen oder in einen guten Herrscher. Der von Leidenschaften beherrschte Mensch muss nach Montesquieu von Gesetzen gezähmt werden, von Gesetzen allerdings, die seine Eigenart respektieren und seine Freiheit gewährleisten. Bürgerfreiheit ist dabei eine Folge der Machtbalance zwischen Gruppen und Institutionen. Der Bürger ist dort am freiesten, wo sich die Institutionen gegenseitig in Schach halten, dort, wo alle gesellschaftlichen Gruppen an der Macht beteiligt sind, aber sich mit fest vereinbarten Einschränkungen arrangiert haben.
Vom Geist der Gesetze zeichnet eine Karte, die viele Grenzen enthält, aber auch zahllose Orte, an denen sich das politische Denken vor Montesquieu nie aufgehalten hatte. Montesquieus Hauptwerk ist ein Plädoyer gegen politische Willkür und für die Herrschaft des Gesetzes. Dieses Gesetz ist sowohl universal, weil es die Umrisse des Rechtsstaats skizziert und die Grundrechte aller Menschen berücksichtigt. Es lässt aber auch Raum für die Ausgestaltung des Rechtsstaats unter den jeweils besonderen Verhältnissen, in denen Menschen leben. Das Gesetz ist, so schreibt Montesquieu, »die menschliche Vernunft, sofern sie alle Völker der Erde beherrscht; und die Staats- und Zivilgesetze jedes Volkes sollen nur die einzelnen Anwendungsfälle dieser menschlichen Vernunft sein«.
Wie viele andere zeitgenössische Werke der Philosophie erschien auch Vom Geist der Gesetze anonym im Ausland, um die Bestimmungen der französischen Zensur zu umgehen. Nachdem die ersten Exemplare im Oktober 1748 die Druckpressen des Buchhändlers Barrillot in Genf verlassen hatten, konnte man sie ab dem 11. November auch schon in Paris kaufen. Mit »stillschweigender Genehmigung« der Behörden wurde im Frühjahr 1749 sogar eine Pariser Ausgabe möglich. »Ich habe zwanzig Jahre hintereinander an diesem Werk gearbeitet«, so schrieb Montesquieu, »und ich weiß noch nicht, ob ich beherzt oder vermessen war, ob die Größe des Themas mich erdrückt oder seine Erhabenheit mich unterstützt hat.«
Die Geistesgeschichte hat diese Frage eindeutig positiv beantwortet. Vom Geist der Gesetze wurde zu einem Bestseller in der politischen Philosophie. Bereits 1750, zwei Jahre nach seinem Erscheinen, hatte es 22 Auflagen erlebt und seinem Autor europäischen Ruhm beschert. Als eines der material- und ideenreichsten Bücher der politischen Philosophie wurde es auch eines der einflussreichsten.
So atmet die 1776 verabschiedete Verfassung der jungen Vereinigten Staaten von Amerika ganz den Geist Montesquieus. Auch die Protagonisten der Französischen Revolution beriefen sich neben Voltaire und Rousseau vor allem auf Montesquieu als einen der großen Kritiker des Absolutismus. Ironischerweise tat dies auch einer der größten Gegner der Französischen Revolution, der Brite Edmund Burke, der von Montesquieu die These übernahm, dass gewachsene politische Institutionen ein wichtiges Bindeglied zwischen dem Staat und seinen Bürgern darstellen. Die Rolle sich gegenseitig kontrollierender und die Macht des Staates begrenzender Institutionen für die Freiheit des Bürgers steht auch im Mittelpunkt des politischen Denkens von Alexis de Tocqueville, einem der Begründer des modernen Liberalismus.
In der Romantik wurde Montesquieus »esprit général« von Herder als »Volksgeist« wieder aufgenommen. Als »Geist« bzw. als »objektiver Geist«, in dem die sozialen Beziehungssysteme von Recht, Moral und Sittlichkeit zusammengefasst sind, fand er auch Eingang in Hegels Phänomenologie des Geistes und in seine Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften.
Vor allem aber ist Montesquieu zu einem der großen politischen Vordenker des modernen Rechtsstaats geworden, in dem das Projekt der Gewaltenteilung eine immer umfassendere Bedeutung angenommen hat: Die Lehre des »check and balance«, der Austarierung und gegenseitigen Kontrolle von Interessen und Institutionen, ist zur Geschäftsgrundlage westlicher Demokratien geworden. Für eine der wichtigsten politischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts, Hannah Arendt, bleibt Montesquieu unter den Theoretikern der politischen Moderne einzigartig in seiner Erkenntnis, dass Freiheit und politische Machtstrukturen sich gegenseitig bedingen.
Wie viele Aufklärer träumte Montesquieu Träume der Vernunft. Doch es ist eine Vernunft, die sich mit Geschichtsbewusstsein, Realitätssinn und pragmatischer Klugheit verschwistert hat. Sie hat uns das Gemeinwesen als ein ererbtes Haus sichtbar gemacht, dem wir gleichzeitig eine stabile Statik und offene Lebensräume verleihen können, ohne an den Bauplänen einer unerfüllbaren Utopie verzweifeln zu müssen.
Ausgabe:
Charles de Montesquieu: Vom Geist der Gesetze. 2 Bände. Übersetzt und herausgegeben von Ernst Forsthoff. Tübingen: Mohr (Paul Siebeck) 1992 (auch UTB).