Prolog

Demi-Monde:
37. Tag im Winter des Jahres 1004

Norma rannte. Hob den Rock und rannte wie noch nie. Rannte, als wäre der Teufel hinter ihr her.

Scheiße … die Höllenhunde sind mir dicht auf den Fersen.

Hinter sich hörte sie, wie die Detonationen und die Querschläger die nächtliche Stille in den Straßen von London zerrissen. Mata Hari und ihre Suff-Ra-Getten hatten offensichtlich Wort gehalten und versuchten, die SS so lange wie nur möglich aufzuhalten. Und Suff-Ra-Getten waren zäh.

Lauf, Norma, lauf!, hatte Mata Hari geschrien, als Clements SS-Schergen in die Kneipe hereinstürmten. Und sie war losgerannt. Sie durfte der SS auf keinen Fall in die Hände fallen.

Diesen wahnsinnigen, gewissenlosen Ungeheuern.

Nur wusste sie nicht, wohin sie rannte.

Sie war blind.

Der Schnee fiel derart dick und dicht, dass sie kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Und der eisige Wind peitschte ihr die Flocken in die Augen, bis sie brannten und tränten.

Norma schüttelte wütend den Kopf und zwang sich, Schmerz und Kälte zu ignorieren. Sie nahm weder die eisige Taubheit in Fingern und Zehen wahr noch ihren protestierenden Körper, der gegen ihren Willen rebellierte. Sie zwang sich, alles zu ignorieren, und konzentrierte sich nur darauf, die Bestien abzuschütteln, die sie verfolgten.

Sie musste alles ausblenden, nur nicht die Notwendigkeit zu rennen. Vor allem aber musste sie diesen hinterhältigen, schleimigen Hundesohn Burlesque Bandstand aus dem Kopf kriegen.

Dreckskerl.

Sie rannte, bis ihr das Herz im Hals schlug, bis ihre Beine vor Schmerzen schrien und sie das Gefühl hatte, ihre Lungen würden Feuer fangen. Sie rannte, so schnell sie konnte, und versuchte, so gut es ging in der Fahrrinne zu bleiben, die die Gummireifen eines Dampfwagens auf der Straße hinterlassen hatten, um selbst keine Spuren im frisch gefallenen Schnee zu hinterlassen. Eine Fährte, denen ihre Häscher anschließend folgen konnten.

Nur wenige Straßen hinter ihr hallte das Signal eines Jagdhorns durch die schmalen Gassen. Offensichtlich war es den SS-Männern gelungen, die Suff-Ra-Getten in die Flucht zu schlagen. Jetzt konnten sie sich ganz auf die Dämonenjagd konzentrieren.

Lauf, Norma, lauf!

Jetzt hatte sie keine Zweifel mehr, sie konnte sie hören. Sie hörte, wie das metallische Knallen ihrer eisenbeschlagenen Stiefel durch die gepflasterten Straßen und die schmalen Gassen der Rookeries hallte. Sie hörte das laute Geschrei dieses Widerlings, Archie Clement – fast noch ein Junge –, und das wilde Bellen der Bluthunde, die er mit der Peitsche zur Jagd antrieb.

Plötzlich glitten die Ledersohlen ihrer Stiefel auf den glatten vereisten Pflastersteinen aus, sie rutschte auf Händen und Knien über die Straße und landete in der übelriechenden Gosse. Die scharfe Bordsteinkante riss ihr die Haut auf, und ein unerträglicher Schmerz durchfuhr sie. Doch das Adrenalin, das durch ihre Adern schoss, und das Wissen um das Schicksal, das sie erwartete, wenn die Kerle sie zu fassen bekamen, spornten sie unermüdlich an. Hastig sprang sie wieder auf und humpelte schluchzend vor Schmerz, Verzweiflung und Angst weiter.

Nimm dich zusammen, Norma.

Jetzt war nicht die Zeit, um Schwäche zu zeigen. Nicht jetzt, da sie verletzt war. Denn aus ihren Wunden tropfte Blut. Ein gefundenes Fressen für die Bluthunde. Sie würden verrückt werden … nach ihrem Blut. Und jetzt hätten sie keine Mühe mehr, ihrer Spur zu folgen.

Wie auf ein Stichwort hörte sie im gleichen Augenblick das traurige Heulen eines Bluthunds, der soeben die Witterung ihrer blutigen Spur aufgenommen haben musste.

Renn, gib nicht auf.

Vielleicht würden die Schneeflocken ihre Spuren verwischen … ihre Blutspur überdecken.

Bitte, bitte, fallt dichter.

An der Straßenecke verlangsamte sie ihre Schritte und versuchte, sich zu orientieren und Atem zu holen. Keuchend sah sie sich nach den Straßenschildern um. So nah: Sie war nur drei Häuserblocks von der Themse … von der Freiheit entfernt. Bloß noch ein paar hundert Meter durch die kleinen Gassen hinter der Regent Street, dann hätte sie die Rookeries hinter sich. Nur noch drei Häuserblocks und sie würde den Eichelturm sehen.

Sie atmete nun in kurzen Stößen, ihre Muskeln schlafften allmählich ab, und sie zitterte am ganzen Körper vor Kälte und Erschöpfung. Mit jedem neuen Windstoß spürte sie, wie die Graupel ihr ins Gesicht schnitten. Und durch das dünne Baumwollhemd fühlte sie die eisige Kälte wie eine scharfe Sense. Nie im Leben war ihr so kalt gewesen. Als sie aus dem Prancing Pig getürmt war, hatte sie keine Zeit gehabt, Mantel, Handschuhe oder Hut mitzunehmen.

Wenn sie jetzt nicht bald ein warmes Plätzchen fand, würde sie sterben. Erfrieren.

Konzentrier dich.

Das war kein Computerspiel. Jedenfalls nicht mehr. Und sie keine simple Spielerin. Nicht mehr. Inzwischen war sie eine von vielen Gefangenen. Eine Bewohnerin der Demi-Monde.

Verdammt nochmal, Norma, konzentrier dich. Wenn du in der Demi-Monde abkratzt, dann stirbst du auch in der Realen Welt.

Wieder vernahm sie das traurige Heulen eines Jagdhunds. Sie kamen näher.

Norma schleppte sich vorwärts. Dann glitt sie erneut auf den vereisten Pflastersteinen aus, prallte mit voller Wucht gegen eine Mauer, zerriss sich das Hemd an der Schulter und schürfte sich die Haut am Arm auf.

Ignorier es einfach.

Doch das klappte nicht mehr. Der Schmerz, die Kälte und die Erschöpfung wurden allmählich stärker als der Mut ihrer Verzweiflung. Mit allerletzter Kraft zwang sie sich aufzustehen, doch sie konnte nicht weiterlaufen, sie hatte sich völlig verausgabt.

Ihre Energie reichte gerade noch aus, um sich humpelnd in den französischen Sektor zu retten und dort nach einem Versteck zu suchen. Sie musste die Pons Fabricius erreichen … sobald sie die Themse überquert hätte, wäre sie in Paris, und dann würden sie nur noch wenige Minuten vom Portal trennen.

Bitte, Gott …

Sie konnte den Fluss riechen, diese süße, widerliche Mischung von Schiffen, Sklaven und brackigem Wasser. So nah. Nun schneite es noch dichter. Vielleicht würde der wunderbare, herrliche Schnee ihre Spuren doch verwischen.

Trotzdem ließ der Gedanke sie nicht los, dass das Ganze Wahnsinn war. All das konnte – durfte – nicht wahr sein. Sie konnte es nicht fassen, dass sie in eine derart entsetzliche Unwirklichkeit geraten war. Oder eine dermaßen grausame Wirklichkeit. O ja, die Demi-Monde war real. Viel zu real, verdammt. Der Schmerz, den sie spürte, war echt. Die Kälte war echt. Die Angst war echt.

Während sie sich vorwärtsschleppte, warf sie einen Blick über die Schulter auf die dunklen, von Schnee bedeckten Straßen der Rookeries. Sie konnte ihre Verfolger nicht mehr hören. War es ihr am Ende doch gelungen, sie abzuschütteln? Hatten sie ihre Hetzjagd aufgegeben? Mit ihren jungen kräftigen Beinen nicht Schritt halten können?

Schön wär’s.

Diese Kerle gaben niemals auf. Keiner von ihnen wollte zurückkehren und Crowley eröffnen müssen, dass sie versagt hatten. Sogar Clement fürchtete sich vor Crowley. Nein, sie würden nicht aufgeben, sondern sie wie ein Rudel tollwütiger Hunde jagen. Zudem war ihr klar, dass sie nicht mehr lange durchhalten könnte. Sie war erledigt, und die Kälte gab ihr den Rest. Sie hatte verloren. Wo sollte sie sich verstecken?

Norma blieb stehen, blickte sich um und entdeckte etwa zehn Schritte entfernt den Eingang zu einer schmalen Gasse, in der es keinerlei Straßenbeleuchtung gab. Die Dunkelheit darin war so vollkommen, dass niemand, nicht einmal Clement sie dort entdecken würde. Und vielleicht würde er ihr auch gar nicht folgen wollen. Kein Mensch wusste, was in der Finsternis der Demi-Monde auf einen lauerte, welche schrecklichen Ungeheuer aus dem sumpfigen Hub auftauchen mochten.

Super.

Norma hinkte unter Schmerzen auf die verlockende Dunkelheit zu und verschwand in der stinkenden, finsteren Gasse. Sie schleppte sich an den schiefen Mauern der Wohnhäuser entlang, die sie immer enger einschlossen, und versuchte, nicht an die unaussprechlichen Dinge zu denken, die sich womöglich hinter den Schatten verbargen. Schließlich fand sie einen dunklen Hauseingang, der ihr einigermaßen sicher erschien.

In seinem Schutz blieb sie einen Augenblick vornübergebeugt stehen, die Hände auf den Knien, und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Neue Energie in ihren kalten, schmerzenden Körper zu pumpen, das heftige Keuchen zu unterdrücken, ruhig zu sein, mucksmäuschenstill.

Bitte, lass nicht zu, dass sie mich hören.

Norma schüttelte den Kopf, um ihre Verwirrung zu vertreiben. All das stimmte nicht … alles, was sie fühlte … alles, was sie durchmachte … es war einfach nicht richtig. Immer wieder sagte sie sich, dass sie ein achtzehnjähriges Mädchen war und all das hier nichts weiter als eine Computersimulation. Achtzehnjährige Mädchen wurden in Phantasiewelten weder verletzt noch fühlten sie Schmerzen oder bekamen Panikattacken. Nicht mal in Phantasiewelten, die so real waren wie die Demi-Monde.

Computerspiele waren nicht gruselig, man bekam keine Angst, jedenfalls nicht eine solche Panik, bei der sich einem der Magen umdrehte und die Knie schlotterten. Irgendwas stimmte hier einfach nicht. Irgendwas war absolut falsch. Als wäre das, was sie – sie? – mit ihr anstellten, ein gewolltes, sadistisches Spiel.

Arschlöcher.

Sie sah sich um. Es war stockdunkel. Nur ein schwacher Lichtschein drang durch eine halb offene Haustür am Ende der gepflasterten Gasse und fiel auf die mit Graffiti beschmierte Ziegelsteinmauer gegenüber.

Nur ein toter nuJu ist ein guter nuJu

Willkommen in der Demi-Monde.

Sie versuchte, sich zu beruhigen. Diese dunkle Gasse war ein idealer Ort, um sich zu verstecken. Abgesehen … abgesehen davon, dass es eine Sackgasse war. Jetzt saß sie in der Falle. Sie spürte einen bitteren Geschmack im Hals, als ihr die Galle hochstieg. Alles drehte sich um sie herum, und sie glaubte, vor Kälte, Erschöpfung und blankem Entsetzen in Ohnmacht zu fallen. Vielleicht war sie krank. Wie hatte der Professor es noch genannt … illumnizieren?

Illumnizieren.

Ein seelischer Zustand, der sich darin äußerte, dass man die Realitäten durcheinanderbrachte. Vor allem unerfahrene Spieler von hyperrealistischen Computersimulationen wie Demi-Monde wurden davon befallen. Der Professor würde einige Fragen beantworten müssen.

Dreckskerl.

Wenn sie ihrem Vater erzählte, was sie hatte durchmachen müssen, wäre die Hölle los. Er würde in die Luft gehen. Dass seine Tochter einer Cyber-Tortur unterzogen wurde, würde dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gar nicht schmecken. Sobald sie wieder zu Hause war, würde sie ihm alles erzählen.

Falls sie jemals nach Hause kam.

Plötzlich hörte sie das Knirschen von Stiefelabsätzen auf den Pflastersteinen. Sie drückte sich noch enger an die dunkle Wand und traute sich nicht einmal, Atem zu holen. Sie spürte nur, wie ihr kalte Schauer über den Rücken liefen. Dann biss sie die Zähne fest zusammen, damit man das Klappern nicht hörte.

Ein Schrei. Eine harte, schonungslose Stimme, die aber gleichzeitig kindlich klang … Clements Stimme. Sie hätte sich denken können, dass er die Hetzjagd anführen würde. Er war zwar wahnsinnig, aber immer noch schlauer als alle anderen zusammen. Wahrscheinlich waren es seine Bluthunde, die ihr Blut gewittert hatten und ihr im Schnee gefolgt waren.

Bluthunde. Grässliche, ganz grässliche Dinger.

Sie hörte, wie jemand Befehle schrie und Clements SS-Männer knapp darauf antworteten. Sie hasste die SS. In der SS waren die fanatischsten Fanatiker überhaupt. Sie stellten einen Befehl niemals in Frage. Sie waren überzeugte Anhänger. Man hatte sie mit dem Schutz der Schwarzen Seele des ForthRights und mit der Durchsetzung der perversen Ideologie des UnFunDaMentalismus beauftragt. Sie waren für den Schutz der Demi-Monde vor Dämonen verantwortlich … Dämonen wie Norma.

Sie hörte eine aufgeregte und hitzige Diskussion, gleich um die Ecke der kleinen Gasse. Ob sie ihre Spur verloren hatten? Vielleicht war der Schnee gerade noch rechtzeitig gekommen. Vorsichtig reckte sie den Kopf aus dem Türeingang. Vielleicht konnte sie verstehen, was sie sagten. Plötzlich verstummten die Stimmen, und sie hörte nur noch das Fiepen eines Hundes. Clements Jagdgesellschaft befand sich immer noch in unmittelbarer Nähe. Die Stille war erdrückend … bedrohlich. Ihr Körper war angespannt, bereit, jeden Augenblick wieder loszurennen. Um ihr Leben zu rennen.

Nur wohin?

Als der Knüppel mit voller Wucht ihr Knie traf, war der Schmerz unsäglich; er durchfuhr ihren Körper, und der Schock lähmte sie.

Niemals hätte Norma sich vorstellen können, dass man einem menschlichen Körper solche Schmerzen zufügen konnte. Ihr zerschmettertes Knie gab nach, und sie sank auf das Kopfsteinpflaster.

Sie musste das Bewusstsein verloren haben, denn als sie wieder zu sich kam, lag sie in einer eisigen Wasserpfütze. Um sie herum standen etwa ein Dutzend Männer, die sie mit finsteren Gesichtern anstarrten. Sie spürte, wie alle Hoffnung sie verließ. Die beiden Männer, die die Meute anführten, waren in der Demi-Monde als die härtesten und grausamsten von allen bekannt.

Singularitäten.

Es waren Männer ohne Mitleid, ohne Gewissen, ohne Skrupel. Männer, die lachten, während sie die unschuldigsten und wehrlosesten Menschen abschlachteten. Echte Psychopathen.

Scheißkerle.

Das personifizierte Böse.

Norma kannte die beiden Männer, die vor ihr standen. Als sie das erste Mal in die Demi-Monde gekommen war, hatte Su Xiaoxiao sie gewarnt. Er hatte ihr eingeschärft, ihnen unbedingt aus dem Weg zu gehen, weil sie die gefährlichsten Dupes in der ganzen Cyberwelt waren, Matthew Hopkins, Clements Schöpfung, und Clement selbst, der hirnlose Jünger Seiner Heiligkeit, Kamerad Crowley.

Instinktiv analysierte die Möchtegernpolitikerin, die in Normas blutigem, aufgeschürftem Körper steckte, die beiden Männer. Psychopathen hatten schon immer eine unwiderstehliche Faszination auf sie ausgeübt. Und Crowley hatte Normas Faszination für solche Wesen ausgenutzt, um sie in die Demi-Monde zu locken. Aber es war eine Sache, wissenschaftliche Bücher zu lesen und Aufsätze über die Entstehung, Bestimmung und Behandlung von Psychopathen zu schreiben, und ganz was anderes, dem Bösen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Die Augen dieser Männer waren leer, kalt wie Kristall und schwarz wie die eines Hais. Es waren Augen, die weder Menschlichkeit noch Mitleid kannten.

Puppenaugen.

Auf einmal sprang einer der Bluthunde Norma an, offensichtlich aufgereizt von dem Blutgeruch ihrer aufgeschürften Knie. Clement versetze dem Tier einen Schlag mit seiner Lederpeitsche. »Zurück, verfluchte Ausgeburt des Loki«, fauchte er wütend und drosch auf das Tier ein, bis es sich kauernd zurückzog. »Du da«, fuhr er den Hundeführer an. »Halt ihn zurück oder ich breche dir sämtliche Knochen und steche dir die Augen aus, bei ABBA

Zu Tode erschrocken zerrte der Hundeführer an der Leine, die am Halsband der Bestie befestigt war, und zog das widerwärtige Tier von Norma zurück. Sie hasste diese Geschöpfe, halb Mensch, halb Tier. Sie waren Archie Clements obszöne Schöpfung. Er hatte Parfümeure aus dem Quartier Chaud zusammentreiben lassen, ihnen die Augen ausgestochen, Zunge und Finger abgeschnitten und sie damit aller Sinne beraubt, bis auf einen: ihre Spürnase. Dann hatte er ihre Mordlust bis zum Äußersten gereizt, mit dem Ergebnis, dass diese Ungeheuer einen Blutstropfen auf hundert Meter Entfernung wittern konnten. Clement setzte Bluthunde ein, um Dämonen zu jagen. Dämonen wie Norma.

Clement trat ein paar Schritte vor und baute sich vor Norma auf, die zitternd auf den Pflastersteinen lag.

Archie Clement, dieser Junge, der in der Realen Welt unter Bloody Bill Anderson für die Konföderierten in die Schlacht gezogen war und – einst ein Komplize von Jesse James – die Angewohnheit gehabt hatte, Männer, Frauen und Kinder, die er umbrachte, anschließend zu skalpieren.

Auch wenn Su Xiaoxiao sie nicht vor ihm gewarnt hätte, wäre sie ihm aus dem Weg gegangen. Ja … obwohl er klein war und fast zerbrechlich wirkte, strahlte Clement etwas so Hasserfülltes aus, dass sich sogar der furchterregende Laurentii Beria in seiner Anwesenheit zusammennahm.

Clement nahm seine Schirmmütze ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Norma war jedes Mal aufs Neue schockiert, wie wirklichkeitsgetreu die Menschen in der Demi-Monde waren. Sie waren einwandfreie Duplikate, ohne jeden Makel. Halt, nein, das stimmte nicht ganz. Sie waren gerade deshalb so vollkommen, weil sie nicht ganz fehlerfrei waren. Kleinigkeiten … etwa die Schlammflecken auf der schwarzen Uniform des Jungen, die abgelaufenen Absätze seiner Stiefel, sein ständiges Sabbern, wenn er sprach, und der künstlich erzeugte süßlich-giftige Geruch, der von seinem Körper ausging und die stille Luft in der Demi-Monde erfüllte. Ein Geruch nach Lösung, Tabak und mangelnder Körperpflege.

Die perverse Genialität der Demi-Monde steckte im Detail.

Und in der Demi-Monde war ABBA Gott.

Clement grinste Norma verächtlich an. Ein Grinsen, das seine vom Tabak geschwärzten Zähne entblößte und ihr alle Hoffnung nahm. Er stieß sie mit der Stiefelspitze an. »Sieh dir dieses Weib genau an, Hexenjäger«, befahl er mit seiner piepsigen Knabenstimme. »Ich will hundert Prozent sicher sein, dass sie diejenige ist, für die wir sie halten. Soweit ich sehe, hat sie weder Hörner noch einen Schwanz wie gewöhnliche Dämonen. Also nimm sie unter die Lupe. Ich dulde keine Schlampereien.«

Matthew Hopkins – der Hexenjäger – zeigte mit seinem Spazierstock auf das keltische Kreuz, das Norma sich auf die Schulter hatte tätowieren lassen. »Sehen Sie her, Kamerad Standartenführer, sie trägt Lokis Zeichen, ein ziemlich sicherer Beweis, dass sie eine Hexe ist. Achten Sie auf ihr schwarz gefärbtes Haar und die gottlosen Perforationen in ihrem Gesicht. Nur die Anhänger Lokis verstümmeln sich auf diese Art und Weise.« Er bückte sich zu Norma hinab, packte mit seinen schwieligen Fingern unsanft ihr Kinn und drehte ihr Gesicht ins Licht.

»Und schauen Sie hier, Kamerad Standartenführer, mit diesem gotteslästerlichen Flitter trägt sie ihre Herkunft aus einer anderen Welt offen zur Schau.« Er riss Norma die Kette mit der Inschrift »I love blood« vom Hals. Die Glasperlen rollten über das vereiste Pflaster.

Der Hexenjäger lachte in sich hinein. »Kein Zweifel … Das ist der Dämon, den wir suchen, Kamerad Standartenführer. Ich bin mir hundertprozentig sicher. Es ist allgemein bekannt, dass Dämonen die Gestalt von Weibsbildern annehmen. Genauso eins habe ich vor nicht einmal einer Stunde im Prancing Pig gesehen, wo es einen unzüchtigen und wollüstigen Tanz aufführte und vor den Augen der Öffentlichkeit gegen alle Gesetze des UnFunDaMentalismus verstieß.« Er fuhr mit seinen fetten, schmutzigen Fingern durch Normas Haar, ekelhaft. »Sie haben recht, Kamerad Standartenführer: dieser Dämon hat keine Hörner. Das will aber nichts heißen, Dämonen sind Meister und Meisterinnen der arglistigen Täuschung.« Seine Hand wanderte zu ihrem Knie. Dann packte er ihren Rock und schob ihn hoch, während er Clement ansah und die Lippen befeuchtete. »Sollte ich nachsehen, ob diese Ausgeburt des Loki einen Schwanz hat, Kamerad Standartenführer?«

Bitte, Gott, lass nicht zu, dass er mich berührt.

Clement lachte verlegen. Wie die meisten Männer des ForthRight konnte er mit Frauen nicht umgehen. Der UnFunDaMentalismus hatte nicht viel übrig für zärtliche oder liebevolle Beziehungen zwischen Männern und Frauen. »Das lass mal lieber bleiben, Hexenjäger. Weiß der Teufel, was sie unter ihrem Rock versteckt hat. Am Ende beißt es dir noch einen Finger ab.«

»Wie Sie meinen, Kamerad Standartenführer, aber sehen Sie doch, wie die Wunden an ihren Knien bluten. Nur Dämonen aus dem tiefsten Abgrund des Hel bluten.«

Clement betrachtete die Schürfwunden an ihren Knien, dann schweifte sein Blick langsam aufwärts, bis sein wahnsinniger Blick an Normas Augen hängen blieb. »Jetzt haben wir dich, du Flittchen. Hast mich und meine Leute ja mächtig auf Trab gehalten, was? Aber nicht mal der klügste Dämon kann Standartenführer Clement reinlegen.«

Mutig erwiderte Norma seinen Blick. Schwäche und Angst waren nicht gerade Tugenden, die in der Demi-Monde geschätzt wurden. Hier waren Stärke, Mut und Brutalität gefragt, wenn man im täglichen Überlebenskampf bestehen wollte. Doch ihre Schauspielerei zeigte kaum Wirkung: In Clements Blick konnte sie nichts als Wahnsinn erkennen. Klare Sache, dieser Mann war vollkommen meschugge.

»Sehen Sie nur, Kamerad Standartenführer«, bemerkte der Hexenjäger. »Die Dämonin weigert sich sogar, den Blick zu senken, wie es einer anständigen Frau gebührt. Und sehen Sie nur, wie sie ihren Charme und ihre weiblichen Reize zur Schau stellt. Dieser Dämon will uns täuschen und unsere Aufmerksamkeit auf sein sündiges Fleisch lenken. Meinen Sie nicht, Kamerad Standartenführer?«

»Doch, doch, Hexenjäger, ich bin ganz deiner Meinung. Die Kirche hat uns gelehrt, wie gerissen diese Dämonen sein können. Schließlich hat Loki sie in die Demi-Monde geschickt, um uns arme Teufel, die für ABBA wirken, in Versuchung zu führen.« Clement deutete mit dem Kinn auf Normas wunde Knie. »Merk dir eins, Dämonin: Du kannst noch so schlau sein und frech grinsen, dein Körper verrät dich trotzdem. Ich hab deinen Schwindel durchschaut, ich weiß, dass du eine Speichelleckerin des hinterhältigen Loki bist. Er ist dein Meister.« Er hielt inne und spuckte einen Klumpen Kautabak in die Gosse. »Archie Clement kannst du nichts vormachen, trotz deiner Verführungskünste und List. O nein, meine Herrschaften! Für mich und meine Jungs von der SS, Spirituelle Sicherheit, ist es eine heilige Verpflichtung, Lokis Mächte zu bekämpfen. Du müsstest wissen, was uns ABBA befohlen hat. Wir werden die verderblichen Künste der Hexerei und des Zaubers, die von Loki erfunden und von Dämonen wie dir propagiert werden, mit aller Kraft aus der Demi-Monde verbannen.«

Der Hexenjäger stellte sich neben Clement. Hopkins hatte die Hetzjagd offensichtlich Spaß gemacht. Seine enge schwarze Uniform war von Schweiß und Erregung befleckt. »Ich hoffe, Sie vergessen nicht, meine tatkräftige Unterstützung bei der Gefangennahme des Dämons zu erwähnen, Standartenführer Clement, wenn Sie Seiner Heiligkeit, Kamerad Crowley, Bericht erstatten. Es war mein Agent, Burlesque Bandstand, der uns den Tipp gab.«

»Aber sicher, Hexenjäger, das war tadellose Arbeit.« Clement nahm einen Schluck aus dem silbernen Flachmann, den er aus einer Jackentasche zauberte. »Und ich habe keinen Zweifel daran, dass du fürstlich entlohnt wirst. Seine Heiligkeit knausert nicht, wenn es darum geht, ordentliche Arbeit ordentlich zu bezahlen.« Er bot dem Hexenjäger den Flachmann an. »Hier, nimm einen Schluck Lösung, um deine Knochen aufzuwärmen.«

Der Hexenjäger trank ausgiebig. »Meine Belohnung wird die Zerstörung der Dämonen sein, die das ForthRight plagen, und aller hinterhältigen herEtikalistischen Schwestern des Suff-Ra-Gettismus, die der Hexenmeisterin Jeanne Dark dienen.« Er machte das Zeichen des Valknuts über der Brust – drei ineinander verschlungene Dreiecke, Symbol der Partei, des ForthRight und des UnFunDaMentalismus –, um das Böse abzuwehren, das die Erwähnung von Darks Namen möglicherweise freigesetzt hatte. »Nicht zu vergessen die Ausrottung dieser hinterhältigen Ungeziefer, der nuJus und der verdammenswerten Shade Zadniks, die sich selbst Blutsbrüder nennen.«

Norma lief ein Schauer über den Rücken, doch diesmal nicht vor Kälte. Hopkins’ Ausdrucksweise hatte etwas Fanatisches und Furchteinflößendes. Sein Hass auf alles, was nicht weiß und männlich war, grenzte an Wahnsinn. Kein Wunder, dass dieser rassistische Dreckskerl und Frauenhasser es in der Partei so schnell so weit gebracht hatte.

Clement zog seinen Mantel enger um die schmalen Schultern. Offenbar spürte auch er allmählich die Kälte. »Ende der Schlammschlacht, Hexenjäger«, verkündete er. »Also los, bringen wir die Dämonin von hier weg, bevor ihre Schwestern auftauchen, um sie zu befreien. Das Rote Gold, das durch ihre Adern fließt, ist einen hübschen Batzen Blutgeld wert. Ein gefundenes Fressen für die Zulus oder die Schlitzaugen.«

»Vielleicht wäre es besser, sie an Ort und Stelle zu erledigen«, wandte der Hexenjäger vorsichtig ein.

Archie Clement räusperte sich erneut und spuckte in die Gosse. »Nein, Hexenjäger. Ich habe von Seiner Heiligkeit Kamerad Crowley den strikten Befehl erhalten, sie ihm lebend zu bringen. Machen wir uns auf den Weg, bevor die Geier anfangen, über uns zu kreisen. Bestimmt wird die Hexe Mata Hari alle Hebel in Bewegung setzen, um die kleine Dämonin zu retten.«

Der Hexenjäger salutierte. »Zu Befehl, Kamerad Standartenführer.« Dann drehte er sich um und zeigte mit seinem Wurstfinger auf zwei seiner Männer. »Ihr da! Kümmert euch um die Dämonin. Seid nicht zimperlich und verschließt eure Ohren vor ihrem Gesülze. Dieses Wesen ist eine Verführerin, eine Meisterin in der Kunst der Lilithianer, die den Unvorsichtigen und Schwachen Herz und Kopf verdrehen.« Plötzlich verstummte der Hexenjäger, als hätte er eine Eingebung. »Wenn ich es mir recht überlege, wäre es am besten, wenn wir sie außer Gefecht setzten.« Er trat einen Schritt vor. Norma sah gerade noch, wie er seinen Spazierstock umdrehte und ihr mit dem harten Griff gegen die Schläfe schlug. Sie spürte einen stechenden Schmerz, und dann wurde ihr schwarz vor Augen.