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Demi-Monde:
55. Tag im Winter des Jahres 1004

Erinnerungen an das Seidr-Ritual und die Verehrung von Lilith finden sich in der WhoDoo-Magie wieder, die von den Mambos in Noirville praktiziert wird. Da sie von Lilithianischer Folklore durchsetzt ist, gilt sie als starke sexuelle Magie. Mambos (die mächtigsten Meister des WhoDoo sind weiblich) glauben, dass sich das Interregnum zwischen der Spirituellen Welt und der Demi-Monde am leichtesten überwinden lässt, wenn sich Körper und Seele im Orgasmus vereinen. Auf dem Höhepunkt des Orgasmus sind für die WhoDoo-Mambos alle magischen Dinge möglich, weil sie dann für einen flüchtigen Augenblick mit ABBA oder dem Großen Gott Bondye, wie ihn die WhoDoo-Priester nennen, in Verbindung stehen. Daher ist WhoDoo-Magie im Grunde nichts anderes als die Suche nach dem ständigen, unerschöpflichen und ewigen Orgasmus.

– Otto Weininger,
Religionen der Demi-Monde.
Veröffentlichungen der Universität zu Berlin

»Nun, Wanker, was mein’Se? Verdammt groß, was?«

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte sich Burlesque Bandstand einer Untertreibung schuldig gemacht. Der hounfo war nicht groß, sondern riesig. Als Vanka ihn entwarf, hätte er selbst nicht geglaubt, dass er dermaßen beeindruckend werden würde. Irgendwelche Maße auf ein Blatt Papier zu kritzeln war ganz was anderes, als diese in Holz und Stahl umgesetzt vor sich zu sehen. Schwarz und bedrohlich nahm der hounfo mehr als die Hälfte von Dashwood Manors großem Ballsaal ein, und der maß dreißig mal zwanzig Meter. Es war vermutlich der größte Zauberkasten, den die Demi-Monde jemals zu Gesicht bekommen hatte.

»Ja, ganz schön groß.«

»Hab jemand sagen hörn, er wär die größte Illusion, die man in der Demi-Monde je aufgebaut hat.«

»Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, Burlesque, dass Sie ihn nicht Illusion nennen sollen? Das ist ein hounfo, ein Tempel für die WhoDoo-Magie, und kein fauler Zauber.«

»Is schon recht, Wanker. Gehn’Se doch nich gleich die Decke hoch. Nur Sie und ich und natürlich Miss Ella wissen, dass es ’ne Illusion is …« Vanka warf ihm einen bösen Blick zu. »Ich mein, ’n hounfo. Die Jungs, die ihn gebaut ham, hatten keine Ahnung, was das soll, das heißt, bis auf Alf und Sid, und die mussten es ja wissen, schließlich sitzen die an den Hebeln. Aber reden’Se weiter, sagen’Se uns, wasse denken, Wanker. Kein schlechter Job, was?«

Vanka fand, dass Burlesque und seine Truppe tatsächlich ganze Arbeit geleistet hatten. Innerhalb eines Tages hatten sie etwas Bemerkenswertes zustande gebracht. Wahrscheinlich hatte die halbe Million Guineen, die Ella Burlesque versprochen hatte, wenn er ihr half, die Dämonin zu befreien, wahre Wunder bewirkt.

Der hounfo bestand aus zwei zwölf Meter langen und drei Meter hohen Holzwänden und hatte die Form eines V. Die große offene Seite des Dreiecks bestand aus der Zimmerwand, die sich von einer Seite des Ballsaals zur anderen erstreckte. Die Spitze des Dreiecks berührte beinahe das hintere Ende des Ballsaals, wo die Fenster auf den Garten von Dashwood Manor hinausgingen. Hier, in dem offenen Raum, der von den spitz zulaufenden Wänden des hounfo umgeben war, sollte die abendliche Séance stattfinden.

»Nein, wirklich, Burlesque, Sie haben vortrefflich gearbeitet. Ich bin beeindruckt.«

Burlesque strahlte über das ganze Gesicht. »Aber glauben’Se wirklich, dass wir die fein’ Pinkels damit täuschen könn’?«

»Möglich wäre es zumindest« war alles, was Vanka darauf antworten konnte.

Er wusste, dass er allen Grund hatte, vorsichtig zu sein. Trotz der Embleme und Wahrzeichen, mit denen Ella den hounfo bemalt hatte, und des schwarzen Netzes an den Wänden, war es nichts anderes als ein Stück Bühnenzauber. Er hatte das mulmige Gefühl, dass ein waschechter Zauberer, der etwas auf sich hielt, den ganzen Hokuspokus sofort durchschauen würde. Aleister Crowley war ein Magier von echtem Schrot und Korn. Er konnte nur hoffen, dass die Größe des Tempels Crowley überzeugen würde, dass er mehr als nur Kulisse für einen kurzlebigen Akt war.

Langsam schritt er um die Konstruktion herum, drückte hier und da gegen die Wände und vergewisserte sich ihrer Standfestigkeit. »Ich hätte nie gedacht, dass er so groß werden würde«, gestand er, »oder so seltsam.«

Dann versetzte er dem hounfo einen heftigen Tritt. Die Wände waren so schwer – fünf Dampfwagen waren notwendig gewesen, um das Holz für den Bau heranzukarren –, dass die Konstruktion nicht einmal schwankte. Doch würde es reichen, um Crowley zu täuschen?

Wenn er auch nur den leisesten Verdacht schöpfte …

Einen Augenblick lang war Vanka das Herz stehen geblieben, als Crowley und Archie Clement am frühen Nachmittag aufgekreuzt waren, um herumzuschnüffeln, doch das war zum Glück vor der Fertigstellung des hounfo gewesen. Anschließend hatte Vanka darauf geachtet, dass die Tür zum Ballsaal verschlossen blieb, und überall verbreitet, dass jeder, der ihr zu nah käme, von Mambo Laveau mit einem persönlichen Fluch belegt würde. Daraufhin hatten sich keine weiteren Schnüffler mehr blicken lassen.

Vanka rieb sich nachdenklich das Kinn. »Ja, es könnte sogar klappen. Und dieser ganze WhoDoo-Hokuspokus, den Ella da gemalt hat, wird für Ablenkung sorgen.« Er nickte in Richtung der kabbalistischen Zeichen auf den schwarzen Wänden des Tempels. »Natürlich wird es Abend sein, und wir können die Lampen etwas dämpfen.«

»Miss Ella meinte, sie will Kohlebecken an den Wänden aufstellen lassen und das Zeug reinwerfen, das tüchtig Rauch macht.«

»Gute Idee. Eine Menge Qualm und viele Spiegel, das ist genau das, was wir brauchen.« Vanka blieb rechts neben der doppelflügeligen Tür des hounfo stehen. »Wenn Sie so freundlich wären, den linken Türflügel zu schließen, ich würde gern sehen, ob die beiden Flügel sich in der Mitte treffen.«

Beide schoben die Türflügel zu. Vanka war überrascht, wie leicht die drei Meter hohen Tore in ihren Scharnieren schwangen. Sie schlossen perfekt und trennten die Spitze des WhoDoo-Tempels etwa ab der Mitte des hounfo vom Rest der Bühne ab. Burlesque stand nun in dem Dreieck innerhalb des Tores und Vanka draußen. Obwohl die Flügel geschlossen waren, konnten sie sich durch die Ritzen in den dicken hölzernen Balken deutlich erkennen. Was hatte Ella noch gesagt? Die Türen erinnerten sie an eine gigantische Version des Lattenzauns um den Vorgarten ihrer Großmutter. Vanka konnte sich eine Stadt mit so viel Platz, dass sich ganz gewöhnliche Leute einen Garten leisten konnten, gar nicht vorstellen.

Sie öffneten die Flügel wieder, damit alles für die abendliche Vorstellung vorbereitet war. Schließlich gab Vanka dem Tempel einen freundlichen Klaps und trat ein paar Schritte zurück, um ihn zu bewundern. »Ja, ich glaube, so geht es, Burlesque. Er ist groß genug, um auch die misstrauischsten Zyniker einzuschüchtern, und schlau genug gemacht, um die skeptischsten Zweifler zu täuschen, einschließlich Aleister Crowley, hoffe ich. Den Altar rücken wir so weit wie möglich nach hinten in die Spitze des Tempels.« Er blickte sich um und vergewisserte sich, dass sich abgesehen von Burlesque, Ella und ihm selbst niemand im Saal befand. »So kann man besser verschwinden.«

»Ich kann’s kaum abwarten, die Gesichter der Zuschauer zu sehen, wenn die Dämonin und Sie plötzlich in einer Rauchwolke verpuffen.«

»Ich an Ihrer Stelle würde nach unserem Abgang nicht mehr lange hier herumhängen, Burlesque. Heydrich wird nicht gerade bester Stimmung sein, nachdem sein kostbarer Dämon das Weite gesucht hat.«

»Machen’Se sich mal keine Sorgen um mich, Wanker. Der Hexenjäger und ich sind so.« Damit zeigte er Vanka seine gekreuzten Finger. »Die werden niemals glauben, dass ihr alter Kumpel Burlesque Bandstand was damit zu tun hat.«

Vanka machte sein Gesicht so ausdruckslos, wie er nur konnte. Er fand Burlesques Optimismus grenzenlos naiv. »Na, hoffentlich behalten Sie recht, Burlesque.« Er gab dem hounfo einen weiteren Klaps. Das wird ein wunderbarer Schwanengesang für die Karriere von Vanka Maykow.«

»Was issen einklich ’n Schwanengesang, Wanker?«

»Burlesque ist immer noch nicht klar, wie wütend Heydrich sein kann«, sagte Vanka, als er neben Ella stand. Sie beobachtete aus einem der Fenster im hinteren Teil des Ballsaals, wie die Wachen der SS im Garten auf und ab marschierten.

»Um Burlesque brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Vanka. Er wird es überleben. Er hat schon dermaßen oft für den Hexenjäger gearbeitet, dass er praktisch zur SS gehört. Die werden nicht einen der ihren für das Verschwinden der Dämonin bestrafen. Und wenn ich in der Blutbank war, wird er eine halbe Million Guineen als Trostpflaster bekommen, das dürfte ihn für eventuelle Unannehmlichkeiten mehr als genug entschädigen.«

»Na, hoffentlich kommen wir überhaupt dazu, die Blutbank aufzusuchen. Wenn Sie mich fragen, ist das Verschwinden der Dämonin noch die leichteste Übung. Das Tor da drüben zu überwinden ist das wirkliche Problem.«

Durch die Fenster des Ballsaals sah Ella, was er meinte. Weder Vanka noch sie hätten sich träumen lassen, wie gut die Dämonin bewacht wurde. Der Garten wimmelte nur so von schwarz uniformierten SS-Leuten. Und zu ihrer Verstärkung war noch ein ganzer Trupp von regulären Soldaten in roten Uniformen aufmarschiert. Da der einzige Weg aus dem Anwesen durch das schwer bewachte Tor führte, das sie am Morgen passiert hatten, kam Ella zu dem unvermeidlichen Schluss, dass es gar nicht so einfach wäre, sich mit Norma Williams aus dem Staub zu machen.

Streiche »gar nicht so einfach« und ersetze es durch »so gut wie unmöglich«.

Kein Wunder, dass Vanka besorgt war. Als er Dashwood Manor zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er treffend bemerkt, Ella verschaffe ihm »die fabelhafte Aussicht, der reichste Tote in der ganzen verdammten Demi-Monde zu werden«.

Ella spürte, wie er unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat.

»Wir haben noch kein Gebet, wissen Sie«, sagte er, nur um irgendetwas zu sagen. »Ich bin zwar davon ausgegangen, dass man diese Dämonin bewachen würde, aber das hier ist lächerlich. Es muss an Heydrichs Anwesenheit liegen, dass alle so aufgeschreckt sind. Sie haben eine kleine Armee hier zusammengezogen.«

»Aber wir haben die Überraschung auf unserer Seite«, sagte Ella, um ihm Mut zu machen.

Vankas Gesicht wirkte ungläubig. »Überraschung, Ella? Wir könnten die ganze verdammte Verwirrung der Welt auf unserer Seite haben, es würde nichts helfen. Wenn dieser verdammte Tempel, den ich entworfen habe, funktioniert und wir es schaffen, uns ungesehen durchs Fenster zu zwängen, müssen wir immer noch fünfzig Meter weit durch offenes Gelände laufen, das von den besten Truppen des ForthRight bewacht wird, und wenn uns das wie durch ein Wunder auch noch gelingt«, er nickte in Richtung Tor, das in die Freiheit führte, »müssen wir eine Möglichkeit finden, dieses drei Meter hohe Hindernis zu überwinden.«

Doch Ella wollte den Mut nicht aufgeben. »Es wird dunkel sein.«

»Ich will kein Spielverderber sein, Ella, und sollte ich falschliegen, korrigieren Sie mich bitte, aber soweit ich weiß, ist es schon verdammt schwierig, im Dunkeln überhaupt etwas zu sehen. Es würde mich nicht wundern, wenn wir Hals über Kopf in einen der Gräben plumpsen, die die SS-Schergen ausgehoben haben, oder uns in dem Stacheldraht verheddern, den sie um den Garten gezogen haben.«

Ella hatte Vanka noch nie so pessimistisch erlebt und merkte, dass er sie mit seinem Pessimismus allmählich ansteckte. »Finden Sie, dass wir alles abblasen sollten?«

Vanka lachte ironisch. »Ach, was! Das Leben ist viel zu kurz, als dass man die Gelegenheit verpassen sollte, diesem Crowley eins auszuwischen. Und eine Million Guineen sind nun mal eine Million Guineen. Also machen Sie sich keine Sorgen. Irgendetwas wird mir schon einfallen. Wie üblich.«

Als Trixie den Salon verließ, stand sie unter Schock. Sie hatte den Tag als Schulmädchen und Tochter eines hochrangigen, allseits respektierten Parteimitglieds begonnen, als jemand, der erwartete, dass sein Leben in wohlgeordneten und ihm zugewiesenen Bahnen verlaufen würde. Doch jetzt musste sie erleben, dass sie als Flüchtling endete, ihr Vater als Konterrevolutionär und Königstreuer verhaftet wurde und ihre Sicherheit – ihre ganze Zukunft – von einem Polacken abhing, einem Spion und Meuchelmörder, wie er selbst eingeräumt hatte.

Es war mehr, als sie ertragen konnte.

Sie kam sich vor wie in einem Albtraum. So aufgelöst und verwirrt, dass sie nur noch schlafen und weinen wollte. Als sie die Geborgenheit ihres Kinderzimmers erreichte, war die Versuchung, sich aufs Bett fallen zu lassen und sich ihrer Verzweiflung hinzugeben, beinahe überwältigend, doch irgendetwas hinderte sie. In diesem Augenblick verwandelte sich Lady Trixiebell Dashwood von einem Schulmädchen und einer heimlichen RaTionalistin in die resolute junge Frau Trixie Dashwood.

In einem gewaltigen Willensakt verschmolz sie all ihr Elend und ihren Kummer zu einer Kugel aus Hass. Heydrich und das ForthRight hatten es auf sie und ihren Vater abgesehen; jetzt schwor sie ihnen Rache. Und Menschen, die nach Rache trachten, kennen weder Reue noch Gewissensbisse. Sie haben keine Zeit, um sich mit »wenn und aber« herumzuschlagen. Ihr altes Leben war zu Ende – aus und vorbei –, und wenn sie ein neues haben wollte, dann bestand die erste Aufgabe darin zu überleben. Dazu brauchte sie ihre ganze Kraft. Sie würde nie wieder weinen.

Sie richtete sich auf, straffte die Schultern und sah dann mit einem entschlossenen Nicken in den Spiegel. Anschließend trat sie zu ihrem Schrank und nahm eine Schachtel aus der untersten Schublade. Darin befand sich das Kostüm, das sie während der Unruhen 1003 bei der Theatervorstellung zur Feier des Sieges über die Royalisten in der Akademie getragen hatte. Das Stück hatte den Titel »Vorwärts zum Sieg« gehabt, und Trixie hatte den Bösewicht gespielt – einen königstreuen Soldaten. Sie hatte eine Uniform tragen müssen. Es war das erste Mal, dass sie eine Hose anprobiert hatte, und sie hatte sie, trotz der gehässigen Kommentare ihrer Mitschülerinnen, sehr praktisch gefunden. Und wenn sie eine praktische und gute Verkleidung brauchte, dann heute Nacht.

Sie streifte die schwarze Sergehose über und schlüpfte in die Stiefel, die die RightNixes trugen, wenn sie ihre »Winterwanderung« zum Hub machten. Am Ende zog sie einen dicken Wollpullover und darüber eine alte, aber höchst nützliche Jagdjacke an. Nachdem sie einige Wertsachen in einen Brotbeutel gestopft hatte – das Hochzeitsfoto ihrer Eltern würde sie keinesfalls zurücklassen, die SS-Schergen würden es nur mit ihren dreckigen Pfoten besudeln; dazu einen Satz Unterwäsche und eine Geldbörse voller Goldguineen –, setzte sie sich hin, um auf Hauptmann Dabrowski zu warten.

Sie dachte darüber nach, wie ihr Leben im Warschauer Ghetto aussehen würde. Das angenehme verhätschelte Dasein, das sie in diesem Haus geführt hatte, war ein für alle Male beendet. Jetzt begann ein ganz neues und viel härteres Leben. Sie wusste nicht viel über das Ghetto, außer dass es das Dreckloch des ForthRight war. Dorthin hatte man alle minderwertigen Rassen deportiert – Polen, nuJus und, igitt: Shades. Außerdem hatten sich dort die ausgestoßenen Mischlinge, die HerEtikalistinnen, Royalisten, RaTionalisten, die Suff-Ra-Getten, ImPuritanisten, HimImperialisten und all die anderen Unzufriedenen und Wahnsinnigen vor dem Zugriff der Checkya in Sicherheit gebracht. Eine Kloake, in der man die ganze Jauche des ForthRight ausgekippt hatte.

Jedenfalls kein Ort, an dem sich eine respektable junge Frau herumtreiben sollte. Trixie musste lachen. Sie war keine respektable junge Frau mehr. Wenn man sie schnappte, würde man sie des Verbrechens gegen den Staat anklagen, und sie würde alle Bürgerrechte verlieren. Sie wäre eine NonNix, genau wie Lillibeth Marlborough. Der einzige Unterschied zwischen ihnen bestand darin, dass die Chekya Lillibeth erwischt hatte, und wenn Trixie sich über eines sicher war, dann, dass die Checkya sie niemals zu fassen bekommen würde … zumindest nicht lebend.

Die Séance war für acht Uhr abends anberaumt.

Vanka warf einen Blick auf seine Uhr. Nur noch eine knappe Stunde. Er streifte die Maske über den Kopf und atmete tief ein, um die flatternden Nerven zu beruhigen.

Als er spürte, wie Ella mit der Hand an seinem Arm entlangstrich, drehte er sich um und blickte in das breiteste und beruhigendste Lächeln, das er jemals gesehen hatte. Doch es beruhigte ihn nicht. Nichts konnte ihn jetzt noch beruhigen, aber bei allen Geistern, war sie schön! Er bremste sich. Es konnte doch nicht sein, dass er …

Er schüttelte den Kopf. Vanka Maykow hatte mit der Liebe nichts am Hut.

»Eine tolle Maske, Vanka, sehr schneidig. Und was sagen Sie zu meinem Make-up?«

»Sie sehen blendend aus, Ella«, räumte er ein. Selbst in dem schwarzen Umhang, der ihr von Kopf bis Fuß reichte und sie gänzlich verhüllte, war sie umwerfend, trotz des ziemlich gewagt geschminkten Gesichts. Und mit der seltsamen Halbmaske war sie eine Wucht.

»Wir haben noch Zeit für eine allerletzte Überprüfung«, meinte Ella und küsste ihn auf die Wange. Der Kuss und ihre Wärme, als sie sich kurz an ihn schmiegte, jagten einen Schauer über seinen Rücken. Er wünschte, sie würde das lassen. Jedes Mal, wenn sie ihn küsste, verlor er den Kopf. Verzweifelt wandte Vanka seine Aufmerksamkeit dem hounfo zu. Und während er ihn im Halbdunkel des Ballsaals betrachtete, dachte er, dass sie es vielleicht doch schaffen könnten.

Von der Dunkelheit und dem schwarzen Netzstoff eingehüllt wirkte der Tempel bedrohlich, und genauso stellte sich Vanka einen Tempel vor, in dem WhoDoo-Magie praktiziert wurde. Die Wirkung kam von dem Licht, auf dem Ella bestanden hatte. Die mit Gas betriebenen Kandelaber waren so weit wie möglich heruntergedreht und gegen den unteren Teil der Wand gerichtet worden. Es herrschte eine unheimliche, ja gruselige Atmosphäre.

Und darum ging es schließlich, vermutete Vanka.

Plötzlich wurde er von einem lauten, beharrlichen Hämmern im hinteren Teil des Tempels aus seiner Träumerei gerissen. »Ist alles in Ordnung da drüben, Burlesque?«, rief er.

»Jawoll«, antwortete Burlesque Bandstand, als er aus dem hinteren Teil des hounfo auftauchte, wo er, wie er sagte, letzte Vorbereitungen traf. Offensichtlich nötigten sie ihn, mit dem Hammer auf irgendetwas einzuschlagen. »Alles in Ordnung, Wanker. In bester Ordnung.« Er wischte sich die ölverschmierten Hände am Hosenboden ab und sah Ella an. »Schöne Maske, Miss Ella. Wenn’Se Interesse ham, ich kenn da ’n paar Kumpels, die gutes Geld für ’ne Mieze zahln würden, die so rumläuft …«

»Haben Sie sich die Abfolge eingehämmert, Burlesque?«, ging Vanka dazwischen.

»Klar doch. Zuerst ruft Miss Ella, ›Gott Bondye is da‹, dann lass ich die Böller los, und Sid und Alf werfen die Hebel um. Danach steh ich bloß noch dumm ’rum, und Miss Ella, die Dämonin und Sie machen sich auf Zehenspitzen davon.« Burlesque runzelte die Stirn. Dann senkte er verschwörerisch die Stimme. »Sie ham sich doch meine Bankdaten in Venedig aufgeschrieben, was, Miss Ella?«

»Habe ich, Burlesque. Ich überweise Ihnen das Geld, sobald ich kann.«

Burlesque strahlte vor Freude.

»Ausgezeichnet«, murmelte Vanka.

Ein paar Minuten lang standen sie da, betrachteten schweigend den Tempel und dachten darüber nach, was sie gleich tun oder zumindest zu tun versuchen würden, als ihre Gedanken von einem unerwarteten Besucher unterbrochen wurden.

»Sehr eindrucksvoll«, spottete jemand aus dem hinteren Teil des Ballsaals.

Alle drei fuhren überrascht zusammen. Die Türen des Ballsaals waren verschlossen. Vanka hatte gesehen, wie Ella hinter sich abschloss. Eigentlich konnte niemand hereinkommen.

Außer Aleister Crowley.

In seiner zeremoniellen Kleidung löste sich Crowley aus der Dunkelheit und kam auf sie zu. »Ich wusste gar nicht, dass WhoDoo-hounfos so tief sein können.«

Obwohl Vanka durch das plötzliche Erscheinen Crowleys beunruhigt war, ließ er sich nichts anmerken. »Guten Abend, Eure Heiligkeit. Wir brauchen so einen großen hounfo. Und da wir eine Sitzung mit einem Dämon abhalten wollen, ist es wichtig, dass die gesamte astrale Energie, die Mambo Laveau beschwören wird, Platz darin findet. Das ist der Zweck dieses Tempels. Er erleichtert ihr die Kommunikation mit den loa – den guten Geistern – und kann sie dazu bringen, ihren Körper in Besitz zu nehmen. Die loa wiederum braucht sie, weil sie ihr helfen, den Willen des Dämons in Schach zu halten.«

Crowley kam immer näher, und Vanka spürte, wie sein Herz zu rasen begann. Wenn er ihre Zauberkiste etwas näher unter die Lupe nahm, würde er die nicht gerade ausgefuchsten Tricks sicherlich entdecken. Vanka warf Ella einen raschen, nervösen Blick zu, und dann fiel ihm der ganze Zirkus wieder ein, den sie ihm über WhoDoo-Magie eingeschärft hatte. »Im Übrigen hält der hounfo einem die djab und die baka vom Hals, die Teufel und die bösen Geister, die mit den Dämonen paktieren«, sagte er hastig, im Bestreben Crowley abzulenken.

Leider schien Crowley nicht in der Stimmung für Ablenkungen.

»Muss denn das sein? Eine Mambo wie Miss Laveau wird sich doch nicht von einem bösen Geist aus der Ruhe bringen lassen, oder?«, sinnierte Crowley, während er eine der Flügeltüren überprüfte.

Bitte

Es war Ella – besser gesagt Ella in ihrer Rolle als Marie Laveau –, die die Situation rettete. »Wenn mich einer von diesen bösen baka besteigt, Eure Heiligkeit«, sagte sie mit sehr düsterer Stimme, »kann niemand vorhersehn, was passiert.«

Crowley unterbrach seine Inspektion und sah Ella an. »Sie besteigt?«

Ella nickte. »Klar doch, Eure Heiligkeit. So sagt man, wenn ein baka Besitz von einem serviteur wie mir ergreift. Und wo ich heut Abend gegen ’ne Dämonin antreten soll, muss ich den großen Gott Bondye anrufen, damit er mir hilft, mich von der Schokoladenseite zu zeigen. Aber genau dann könnt ein baka auf dumme Gedanken komm’ und was von dem probiern woll’n, was ich zu bieten hab. Deshalb brauche ich den Tempel: um mich zu schützen.«

Crowleys Interesse am hounfo nahm rapide ab. Er musterte Ella eingehend. »Und was würde passieren, wenn einer dieser baka Sie in Besitz nähme?«

Ella senkte verlegen den Blick. »Sie sind so’n mächtiger Seher, Eure Heiligkeit, Sie müssten doch wissen, dass die stärksten Zauber zustande komm’, wenn ’ne Menge sexuelle Energie in der Luft liegt. Genau das muss ich heute Abend zustande kriegen … die Begierden der Geister wecken.«

»Warum?«, fragte Crowley. Seine Stimme klang eine oder zwei Oktaven höher.

Erneut senkte Ella schüchtern den Blick. Sie war wirklich mit allen Wassern gewaschen. »WhoDoo-Magie is die Magie vom Sex. Die Vereinigung zwischen der Spirituellen Welt und der Demi-Monde klappt am besten, wenn sich Seele und Körper im Orgasmus vereinen. Um Mambo zu werden, muss man den ständigen, unerschöpflichen und ewigen Orgasmus suchen.«

Vanka zerrte an seinem Kragen. Bei ABBA, ganz schön heiß hier.

»Verstehn Sie, Eure Heiligkeit, wenn mich der böse Geist packt … tja, dann bin ich zu allem möglichen fähig.«

»Und wie wollen Sie die Begierden der Geister wecken?« In Crowleys Stimme schwang eine deutliche Spur von Erregung mit.

Ella hob die Hand und löste die Spange, die ihren Umhang zusammenhielt. Der Umhang glitt zu Boden und brachte Ella – besser gesagt, Mambo Marie Laveau – in all ihrer Schönheit zum Vorschein.

Die drei Männer standen mucksmäuschenstill da und starrten sie an. Vanka hatte solche Kostüme gesehen, als er einige der gewagten Revuen im Quartier Chaud besucht hatte, aber nie hätte er geglaubt, dass eine Frau den Mut hätte, sie im ForthRight zu tragen.

Ellas Kostüm bestach vor allem durch das, was es zeigte, nicht, was es verbarg. Schwarzes Chiffon schmiegte sich um ihren langen geschmeidigen Körper wie dunkler Nebel. Nach allem, was er erkennen konnte, bestand das Kostüm aus einem weiten Kleid, das von einem breiten schwarzen Ledergürtel gehalten wurde. Dass der Chiffon transparent war und sie darunter offenbar nichts trug, war verstörend genug, doch die kunstvoll eingearbeiteten Schlitze gaben den Blick auf den größten Teil ihrer Beine und viel nackte Haut frei. Man sah jede Menge festes junges Fleisch, das Ella mit merkwürdigen Symbolen und Zeichen von Schlangen bemalt hatte.

Der dünne Stoff ließ keinen Zweifel daran, welche Wunder sich darunter verbargen – besser gesagt, teilweise verbargen. Einen Augenblick lang überlegte Vanka, ob er den Gentleman spielen und seinen Blick abwenden sollte.

Ach, zum Teufel.

Solche Vorbehalte waren Crowley fremd. Er trat einen Schritt vor, um Ella noch besser ansehen zu können. »Sie sind eine außerordentlich schöne Frau, Miss Laveau«, sülzte er mit belegter Stimme, »jetzt verstehe ich auch, warum die baka Sie so gern besteigen würden. Sie erinnern ohne jeden Zweifel … an Lilith.«

Lilith.

Crowley hatte recht. Wenn er es sich recht überlegte, hatte Ella in dieser Aufmachung tatsächlich Ähnlichkeit mit den Bildern, die er von Lilith gesehen hatte. Lilith galt als die mächtigste und hinterhältigste Frau, die jemals in der Demi-Monde gelebt hatte, und auch sie war eine Shade gewesen. Vanka fragte sich, ob Ella sich absichtlich so ausstaffiert hatte. Und dann fiel ihm ein, dass sie während ihrer ersten Séance so getan hatte, als würde sie Lilith anrufen.

Seltsam, dass ihm das nicht schon vorher aufgefallen war.

Crowley trat noch einen Schritt näher an Ella heran. »Sie sind der Beweis, dass Ihre Rasse brutaler und animalischer ist als die angelslawische und daher eher über die niederen Instinkte verfügt, denen die Bewohner der Demi-Monde leider Gottes immer wieder erliegen. Dieser Zustand ist allerdings, wie Sie bereits sagten, für das Praktizieren der Magie unabdingbar. Ich bin durch meine eigenen Forschungen zu dem Schluss gelangt, dass die Magie durch sexuelle Energie entfacht wird. Und ich spüre, dass Sie ein gewaltiges erotisches Potential besitzen, Miss Laveau.« Er streckte die Hand aus und fuhr mit dem Finger über Ellas rechte Brust. »Sie haben hier die Mann-Rune hingemalt. Warum?«

»Die Mann-Rune«, sagte Ella und atmete schwer, während Crowley mit dem Finger Kreise um ihre Brustwarze zog, »is’n Zeichen für erotische Liebe, es bedeutet, dass sich ihr Träger zügellos dem Sex hingibt. Wenn ich heut Abend den Großen Gott Bondye anrufen will, muss er wissen, dass ich bereit bin, für seine Dienste zu zahln. Der Große Gott Bondye verlangt nämlich immer mein’ Körper als Lohn.«

Dieser Bondye ist nicht dumm, dachte Vanka.

Crowley schluckte. »Vielleicht könnten wir uns nach der Sitzung einmal zusammensetzen, um dieses Thema zu vertiefen.«

Ella machte einen Knicks. »Wär mir eine Ehre, Eure Heiligkeit. Ne einfache Mambo wie ich is gern bereit, sich von eim mächtigen Zauberer wie Sie was erklärn zu lassen.«

Daraufhin verließ Crowley mit gerötetem Gesicht den Ballsaal.

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, kicherte Ella los. »Bei allen Geistern, das war knapp. Er ist unserem hounfo ganz schön nah gekommen.« Sie kicherte erneut. »Zum Glück lassen sich Männer immer so leicht ablenken!« Sie lächelte Vanka und Burlesque zu und drehte sich im Kreis. »Und? Gefalle ich Ihnen?«

»Klasse Titten«, lautete Burlesques Urteil.

Kurz vor acht Uhr abends klopfte es an Trixies Tür. Als sie aufschloss und den Kopf durch den Spalt steckte, sah sie Hauptmann Dabrowski. Er musterte sie eingehend.

»Großartig. Vielleicht sind Sie doch nicht so einfältig, wie ich dachte. Die Hose ist gut, und die Stiefel sehen sehr praktisch aus.« Er reichte ihr eine Mütze. »Verstecken Sie Ihr Haar darunter, bitte. Ich glaube, dass wir eine bessere Chance haben, wenn Sie als Soldat durchgehen.«

»Als Soldat?«, fragte Trixie, während sie das lange Haar hastig zusammenband und unter die Mütze schob.

»Sie sind bei meinen Männern sehr beliebt, Miss Dashwood. Sie schwärmen geradezu von Ihrer Schönheit. Und damit niemand Sie erkennt, wollen wir Sie als meinen Offiziersburschen verkleiden. Das hier brauchen Sie auch.« Der Hauptmann reichte Trixie ein ledernes Pistolenhalfter, und als sie es öffnete, fand sie einen kleinen Revolver darin.

»Ich kann damit nichts anfangen«, protestierte sie.

»Für weibliche Skrupel ist jetzt keine Zeit, Miss Trixie. Sie werden lernen müssen, sich selbst zu verteidigen.«

»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Ich kann mit diesem kleinen Kaliber wirklich nichts anfangen.« Dann zog sie die Jacke etwas beiseite und zeigte ihm eine riesige Mauser, die sie im Gürtel trug. »Wenn ich auf die SS schieße, dann will ich sie töten, nicht nur erschrecken.«

»Haben Sie denn jemals eine Waffe in der Hand gehabt?«

Mit einem Geschick, das man ihren weichen schmalen Händen gar nicht zugetraut hätte, zog sie die Pistole aus dem Gürtel, nahm das Magazin ab und vergewisserte sich, dass es geladen war. »Ja, Hauptmann, ich kann mit einer Pistole umgehen. Mein Vater hält mich sogar für einen ziemlich guten Schützen.«

»Gut. Dann vergessen Sie auch nicht zu schießen, wenn es brenzlig wird. Und ich an Ihrer Stelle würde die letzte Kugel für mich aufheben. Sind Sie so weit … ?«

Vanka stand vor dem Eingang des hounfo und wartete auf das Eintreffen der Zuschauer, wobei er verzweifelt versuchte, seine zitternden Hände zu beruhigen und nicht ständig an die Folterkammern der Checkya zu denken. Jetzt war es zu spät, um noch irgendetwas zum Guten zu wenden. Er war so gut wie tot.

Wie war ausgerechnet er, Vanka Maykow, der sonst immer nur solo auftrat, in einen derartig gefährlichen Schlamassel geraten? Ella war schuld. Seit dem Augenblick, als sie in sein Leben trat, war alles schiefgegangen. Er versuchte, nicht mehr an sie zu denken, und konzentrierte sich auf die schwere Aufgabe, die vor ihm lag. Doch jedes Mal, wenn er sie wieder in ihrem Kostüm vor sich sah, verließen ihn seine guten Vorsätze.

Ella.

Ella, die nun von Kopf bis Fuß in ihren Umhang gehüllt in der Mitte des Tempels kauerte. Lieber Himmel, die Zuschauer konnten sich auf eine saftige Überraschung gefasst machen.

Ein beißender Geruch nach Rauch stach ihm in die Nase, ein schrecklicher Gestank, der tief im Hals kratzte. Burlesque hatte gerade die beiden Kohlebecken im Ballsaal entzündet und die trockenen Blätter einer Pflanze hineingeworfen, die Ella als Elfenblume bezeichnet hatte. Vanka hatte noch nie davon gehört, aber das Zeug machte ihn ganz wirr im Kopf, genau wie die Buschmusik, die von oben aus der Galerie kam. Nur ABBA wusste, wo Burlesque diese Irren aufgegabelt hatte, die wie wild auf ihre Trommeln einschlugen. Ella nannte die Musik – Musik? –, die sie für sie geschrieben hatte, rada, und hatte gesagt, sie sei unverzichtbar für ein WhoDoo-Ritual. Vanka hatte ein anderes Wort dafür.

Wie lange müsste er diesem Angriff auf seine Sinne noch standhalten? Er warf den Kopf hin und her, konnte aber den Gestank, der seinen Verstand einnebelte, nicht abschütteln, und wenn es einen Punkt gab, an dem er auf Zack hätte sein müssen, dann jetzt.

Plötzlich sprangen die Türen des Ballsaals auf. Ihre Zuschauer waren da, und was war das für ein erlauchtes Publikum! Noch während Vanka sich tief verbeugte, erkannte er Heydrich, Crowley, Clement, Beria …

Beria.

Wenn er heute Abend patzte, würde Beria dafür sorgen, dass seine Tage in der Demi-Monde gezählt wären.

Und auch die würden nicht gerade gemütlich sein, verdammt!

Arrogant stolzierte Heydrich in den Saal und setzte sich auf den großen Stuhl direkt vor dem hounfo, Beria nahm links und eine schlanke, tief verschleierte Frau rechts von ihm Platz. Neben Beria saß Crowley, der etwas durch den Wind zu sein schien, und ganz am Ende Kommissar Dashwood, der sich sichtlich unbehaglich fühlte. Den Tross bildeten einige weitere Würdenträger, doch diese Statisten waren Vanka nicht bekannt, bis auf einen.

Diese Ausnahme war General Mikhail Dmitriewitsch Skobelew mit seiner weißen Markenuniform und seinem lächerlichen Schnurrbart: unverwechselbar.

Skobelew hatte den Oberbefehl über die Armee des ForthRight und war der Mann, der den Aufstand der königstreuen Polen in der Schlacht um Warschau niedergeschlagen hatte. Der General war ein gestandener Kriegsheld, und was noch wichtiger war, der Mann, der Vanka um Haaresbreite ins Jenseits befördert und ihm ewige Rache geschworen hatte, weil er seine Schwester beglückt und somit die Familie entehrt hatte.

Was für ein verdammtes Pech! Von allen Schurken, die er in dieser Sitzung nicht gern dabeigehabt hätte, ausgerechnet er!

Vanka hätte fast den Kopf verloren, einen Moment lang dachte er daran, Ella am Arm zu packen und einfach loszurennen. Dann aber fiel ihm wieder ein, dass er eine Maske trug, und riss sich zusammen. Skobelew konnte ihn unmöglich wiedererkennen. Der Bluterguss war unter der Maske versteckt.

Er richtete sich auf und gab den Trommlern in der Galerie ein Zeichen. Die Musik verstummte, nicht aber das Hämmern in Vankas Kopf. Er holte tief Luft, um sich zu beruhigen, und trat vor den Eingang des Tempels. Mit jedem Schritt kam er Skobelew näher. Und er war sicher, dass der Mistkerl ihn genau beobachtete.

»Kamerad Führer … Kamerad Stellvertretender Führer … Eure Heiligkeit … Kameraden und Kameradinnen.« Er hielt die Stimme so tief wie möglich, damit der General sie nicht erkannte.

Der Mistkerl ließ ihn tatsächlich nicht aus den Augen.

»Heute Abend wird Mambo Marie Laveau, die mächtigste Hohepriesterin des WhoDoo in ganz NoirVille, zu einer Dämonin Verbindung aufnehmen. Sie wird ihre okkulte Macht und ihre spiritistischen Künste benutzen, um die Willenskraft der Dämonin zu brechen und sie gefügig zu machen.«

Skobelew beugte sich vor, um Vanka besser unter die Lupe nehmen zu können. Automatisch zog sich Vanka so weit wie möglich in den Schatten zurück.

»Hinter mir sehen Sie einen hounfo oder WhoDoo-Tempel, der eigens für die heutige Vorstellung errichtet wurde. Mit Hilfe dieses Tempels wird Mambo Laveau die loa oder Geister in unsere materielle Welt locken. Anschließend wird sie mit ihren Zaubersprüchen, Anrufungen und ihren weiblichen Reizen …«

Jetzt horchten alle auf …

»… den mächtigsten aller Geister, den Großen Gott Bondye, bitten, Besitz von ihr zu ergreifen. Nur er hat die Macht, den Willen eines Dämons zu brechen. Und sobald sie vom Großen Gott Bondye besessen ist, wird kein Geheimnis vor Mambo Laveau mehr sicher sein.«

Skobelews Interesse war derart ausgeprägt, dass Vanka beschloss, sich kurz zu fassen. Er verbeugte sich hastig und sah Aleister Crowley an. »Wären Sie wohl so freundlich, die Dämonin hereinzubringen, Eure Heiligkeit?«

Crowley erhob sich ächzend und klatschte in die Hände. Von der Seite des Saals stießen zwei SS-Wächter mit ihren Knüppeln eine junge Frau vorwärts – schlank, mittelgroß, mit pechschwarzem Haar – und zwangen sie, über den blank polierten Holzboden zu humpeln, bis sie in der Mitte des hounfo vor dem Publikum stand.

Vanka war ein bisschen enttäuscht. Er hatte immer geglaubt, Dämonen wären große wuchtige Wesen mit Schwänzen und Hörnern, die Feuer spien und nach Schwefel rochen, stattdessen stand er jetzt vor einem eher unscheinbaren Wesen. Dämonen hielten offenbar auch nicht mehr, was sie versprachen.

Doch so unauffällig und dünn die Dämonin auch war, an der Art, wie sie sich gegen ihre Bewacher sträubte, offenbarte sich ihre Kratzbürstigkeit. Der Widerstand dauerte nicht lange. Einer der Wächter verpasste ihr einen Schlag mit dem Handrücken, sodass sie zu Boden taumelte. Für eine Sekunde verlor die Dämonin ihre arrogante Maske, und Vanka erkannte das ängstliche junge Ding dahinter. Instinktiv ging er auf die Dämonin zu, nahm sie am Arm und half ihr wieder auf die Beine. Dummerweise musste er dafür aus dem Schatten heraustreten.

Als Skobelew ihn im Kegel des Scheinwerfers sah, beugte er sich vor wie ein Jagdhund, der einen Hasen gewittert hat. Er winkte einen von Crowleys Mitarbeitern heran und verwickelte den Mann in ein lebhaftes Gespräch. Vanka versuchte, Ruhe zu bewahren.

Nach kurzem Zögern ließ sich die Dämonin helfen, aber sie war darüber nicht sonderlich froh. Dem Blick nach zu urteilen, den sie ihm zuwarf, hätte sie Vanka beide Augen ausgekratzt, wäre sie nicht an den Händen gefesselt gewesen. Zum Glück hatte man sie obendrein geknebelt. Vankas Kopf brummte dermaßen, dass er wahrlich keine Lust auf lautes Geschrei hatte. Er gab den Musikern ein Zeichen, woraufhin sie sogleich wieder zu trommeln begannen. Jetzt klang es leiser, gewichtiger und auch bedrohlicher.

Vanka führte die Dämonin zum Altar am Ende des Tempels und wies sie an, sich daraufzulegen. Sie versuchte, sich zu wehren, doch Vanka schob sie vor sich her und flüsterte ihr ins Ohr: »Wir sind hier, um Sie zu retten, also machen Sie keine Mätzchen. Kapiert?«

Die Dämonin riss die Augen auf und nickte kaum merklich.

Dann kehrte Vanka in den vorderen Teil des Tempels zurück. Skobelew war dabei, zwei Checkya-Offizieren Anweisungen zuzuzischen.

Ella kam ihm zu Hilfe. Während das Trommeln immer lauter wurde, begann sie unter dem Umhang zu zucken.

Die Séance war eröffnet.

Als Ellas Mutter noch lebte, hatte sie darauf bestanden, dass ihre Tochter Tanzunterricht nahm. Das aber war schon sehr sehr lange her. Um ihren WhoDoo-Tanz aufzuführen, blieben ihr jetzt nur noch ihre Phantasie, die Erinnerung an irgendwelche Musikvideos und Filmclips, die sie von Josephine Baker und ihrem danse sauvage gesehen hatte, und der Rhythmus der Trommeln. Und all das sagte ihr, dass sie langsam und geschmeidig unter ihrem Umhang hervorkommen und ihren großen, biegsamen Körper zum Rhythmus der Trommeln im Ballsaal bewegen sollte. Also wand sich Ella aus dem Umhang wie eine Viper, die sich ihrer Haut entledigt, drehte und schlängelte sich verführerisch im Halbdunkel. Und je mehr von ihr sichtbar wurde, umso erstaunter schnappten die Zusschauer nach Luft.

Vielleicht lag es daran, dass sie schwarz war. Vanka hatte ihr erzählt, dass vor Reinhard Heydrich, dem Architekten der Rassenlehre, noch nie eine schwarze Frau aufgetreten war. Als sie diesem Mann – besser gesagt, seinem Doppelgänger – in Fort Jackson begegnet war, hatte sie Gelegenheit gehabt, sich aus erster Hand davon zu überzeugen, was Heydrich von Schwarzen hielt. Und sie hatte begriffen, dass er das ganze ForthRight mit seinem Hass vergiftet hatte. Jetzt konnte Ella den Abscheu des Publikums förmlich fühlen. Die Vibrationen, die sie spürte, sagten ihr, dass Heydrich und sein Tross Schwarze nicht nur verabscheuten, sondern zutiefst hassten.

Während sie sich langsam aufrichtete und die Arme ausstreckte … immer höher an die Decke über ihrem Kopf, fragte sie sich, wie intelligente und gebildete Menschen, denn dafür hielten sich ihre Zuschauer, so denken konnten. Vielleicht hatte ihre Mutter recht gehabt, als sie ihr immer wieder einschärfte, dass Menschen, die glaubten, sie wären anderen überlegen, nur von ihren eigenen Minderwertigkeitsgefühlen ablenken wollten. Wie auch immer, Ella hätte jedenfalls kein größeres Aufsehen wecken können, wenn sie aus einem Ufo gestiegen wäre.

Trotzdem war ihr klar, dass das Publikum nicht nur wegen ihrer Hautfarbe so verstört war. Ebenso entsetzt war es über ihr Kostüm, oder besser gesagt, den halbnackten Körper darunter. Als sie sich ihre Aufmachung für die heutige Vorstellung ausgedacht hatte, wollte sie das Publikum so sehr schockieren, dass es alles andere vergaß. Auf keinen Fall sollten die Zuschauer denken, sie nähmen an einem phantastischen Theaterstück teil. Um das zu erreichen, dessen war sie sich bewusst, musste sie sie reizen und eine Menge Fleisch zeigen.

Nicht dass Ella sich geziert hätte, nackt aufzutreten. Sie hatte nur nicht gewollt, dass ihr nackter Körper von Kerlen wie Burlesque Bandstand ausgebeutet wurde. Ihn für ihre eigenen Zwecke zu benutzen machte ihr nicht das Geringste aus. Sie wusste, dass sie ein schöne Frau war, und hatte keinerlei Skrupel, ihre Sexualität einzusetzen, um Männer gefügig zu machen. Und wie sie in den Gesichtern der Männer, die sie betrachteten, lesen konnte, hatte sie sie tatsächlich völlig in der Hand. Vor allem Heydrich …

Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Möglich, dass ihr durchsichtiges Kostüm oder ihre aufreizenden Bewegungen ihn verzaubert hatten – jedenfalls schien dies bei den anderen Männern der Fall zu sein –, doch es steckte offensichtlich mehr dahinter. Es war, als versuchte Heydrich sich an etwas zu erinnern. Als würde er sie wiedererkennen, sich an ihre erste Begegnung in Fort Jackson erinnern. Doch das war unmöglich. Zumindest hoffte sie es.

Sie stöhnte laut auf, als litte ihre Seele Höllenqualen, drehte sich um und wandte ihm den Rücken zu, um sich zu beruhigen. Dann wackelte sie einmal kräftig mit dem Hintern, um den Kerl abzulenken. So etwas hatte er bestimmt noch nie gesehen.

Der Tanz, den sie sich ausgedacht hatte, war gar nicht so leicht, denn sie musste so tun, als würde sie mit einem unsichtbaren Partner tanzen, dem Großen Gott Bondye. Ganze fünf Minuten lang bewegte sie sich immer verführerischer und lasziver und zog die ganze Aufmerksamkeit des Publikums auf sich, bis es für nichts anderes mehr Augen hatte.

Und während sie tanzte, schien etwas Bemerkenswertes zu geschehen. Es war, als nähme Liliths Seele von ihr Besitz. Jetzt war sie nicht nur angezogen wie Lilith, sie war Lilith. Ella schwelgte in der Macht ihrer Schönheit und ihrer erotischen Ausstrahlung auf die Zuschauer. Es machte ihr Spaß, sich immer wollüstiger und herausfordernder zu bewegen. Sie reizte das Publikum, indem sie näher ins Rampenlicht rückte, bis das Licht ihren Körper überflutete und für einen kurzen Augenblick seine tiefsten Geheimnisse preisgab. Sie wiegte sich in den Hüften und glitt über den Boden, während unter dem hauchdünnen Kostüm immer wieder ein Stück Haut aufschimmerte. Sie schrie und stöhnte, sie sang und heulte.

Gleichzeitig näherte sie sich unmerklich dem Altar des hounfo, wo Norma Williams lag.

Es war das erste Mal, dass sie Norma im richtigen Leben zu Gesicht bekam, obwohl sie auf den Titelseiten aller Klatschmagazine abgebildet war. Sie enttäuschte sie nicht. Sie war der Inbegriff eines rebellischen Teenagers, mit gefärbtem Haar, vielen Tätowierungen, Piercings und einem Ausdruck, als hätte sie ständig einen unangenehmen Geruch in der Nase. Sogar die Prellung, die ihr halbes Gesicht bedeckte, passte zu dem Rest.

Ohne ihren Tanz zu unterbrechen, kreiste Ella heulend und schreiend um den Altar, als ränge sie mit dem Geist, der erschienen war, um Besitz von ihr zu nehmen. Bis sie plötzlich zuckend und stöhnend zu Boden sank.

Das war das Zeichen für Vankas Auftritt. Er gab Burlesque, der hinter den Kulissen stand, ein Zeichen, der daraufhin die Gaslampen abblendete. Jetzt wurde der Saal nur noch von flackernden Kandelabern erleuchtet, die eine düstere, bedrohliche Atmosphäre erzeugten.

Dann wandte sich Vanka erneut an das Publikum. »Kamerad Führer, Kamerad Stellvertretender Führer … Eure Heiligkeit … Kameraden und Kameradinnen … dieses symbolische Gebäude«, er zeigte auf die hohen Wände des Tempels, »wurde entworfen, um die übersinnlichen Wellen einzufangen und zu bündeln, die bei der Kommunikation eines überaus mächtigen Mediums wie Mambo Laveau mit den Geistern entstehen. Die Energie, die sich dann in diesem hounfo aufbaut, ist so stark, dass Mambo Laveau mit der Dämonin verschmelzen wird und beide in die Spirituelle Welt eingehen, wenn die Geister es gestatten. Dieser Augenblick der Verschmelzung wird durch einen Donnerschlag angezeigt, und in diesem Augenblick hat es den Anschein, als seien die Dämonin und Mambo Laveau verschwunden. Doch bitte, erschrecken sie nicht! Dieses Phänomen hat seinen Grund darin, dass ihre körperliche Anwesenheit im Reich des Fleisches von Wellen übernatürlicher Energie verhüllt wird.« Vanka drehte sich zu Burlesque um. »Bitte schließen Sie die Tore des Tempels.«

Ella beobachtete, wie Sid und Alf durch den Raum schlurften, die Tür zuschoben und Norma Williams, Vanka und sie in den Tempel einschlossen. Obwohl die Türflügel geschlossen waren, wusste sie, dass man sie durch die Ritzen in den Gittern sehen konnte. Sie wartete, bis Vanka sich hinter sie gestellt hatte und das Trommeln des Trios auf der Galerie anschwoll. Als sie sicher war, dass niemand sie hören konnte, beugte sie sich vor und flüsterte: »Norma!« Als die junge Frau ihren Namen hörte, sah sie sie erschrocken an. »Ich heiße Ella Thomas und bin in die Demi-Monde geschickt worden, um dich hier rauszuholen.«

Dann nahm sie ihr den Knebel aus dem Mund.

»Rausholen? Wie denn?«, stammelte Norma.

»In wenigen Augenblicken wird es einen lauten Knall geben. Wenn du die Explosion hörst, musst du aufstehen und durch die Wand hinter dir verschwinden.«

»Ich soll durch eine Wand gehen?«

»Eines der Bretter ist lose«, erklärte Ella. »Sobald du durch die Wand gegangen bist, wirst du das Fenster am Ende des Ballsaals sehen. Es ist nicht verschlossen. Wir müssen durch das Fenster klettern und über den Rasen von Dashwood Manor laufen.«

»Das ist unmöglich. Überall sind Soldaten.«

»Tut mir leid, Norma, aber etwas Besseres ist uns nicht eingefallen.«

Einen Augenblick lang schwieg Norma, dann lächelte sie triumphierend. »Aber mir.«

Ella reckte die Arme, stieß einen lauten Klagelaut aus und rief: »Bondye is da!« Das war das Zeichen für Burlesque, mit dem Countdown zu beginnen.

Fünf.

Burlesque zündete die Lunte der Feuerwerkskörper, die in den Wänden des hounfo versteckt waren.

Vier.

Vanka schob den Riegel der Geheimtür auf.

Drei.

Sid und Alf umfassten die Hebel der Spiegel, die in den Gitterhölzern der Türflügel steckten.

Zwei.

Ella nickte Norma zu, sich bereitzuhalten.

Eins.

BUMM!

Das Feuerwerk stieg auf und hüllte den Eingang des Tempels in eine widerliche dichte Rauchwolke. Im gleichen Moment zogen Burlesques Männer an den Hebeln, und die Spiegel, die in den Gitterhölzern der Türflügel verborgen waren, schnappten auf. Sie wusste, dass das Publikum, wenn sich der Rauch lichtete, nur noch die Spiegelung der Außenwände sehen würde. Für die Zuschauer sähe es aus, als wären die Menschen im Innern verschwunden. Als sie sicher war, dass man sie nicht mehr sehen konnte, sprang Ella auf, durchtrennte Normas Fesseln und wartete, bis Vanka die Geheimtür aufbekommen hatte. Kaum war er durch die Tür, schob Ella Norma hinterher. Fast blind vom beißenden Rauch der Feuerwerkskörper sah sie, wie Vanka zu einem Fenster lief und es aufstieß.

»Schnell, raus hier«, flüsterte er, packte Norma um die Taille und hob sie aus dem offenen Fenster hinaus. Ella folgte ihr und landete unsanft auf der Tochter des Präsidenten. Sie hatte gerade noch Zeit, um festzustellen, dass ein Chiffonkleid nicht gerade die ideale Aufmachung für den Winter in der Demi-Monde war, bevor sie ein Grunzen von rechts hörte und Vanka neben ihr landete. Er riss sich die Maske vom Gesicht und deutete mit dem Kinn auf den Weg, der sich in die Nacht schlängelte und in Richtung des Haupttors verlor. »Na los, … hier entlang … halten Sie sich im Schatten der Mauer …«

»Nein!«, sagte Norma entschieden und versuchte verzweifelt, die Blutung einer Wunde am Arm zu stillen. »Mir nach«, befahl sie und ging zu Ellas Verwunderung auf die Vorderseite des Anwesens zu.

»Was zum Teufel …«, flüsterte Vanka, doch ehe er sie aufhalten konnte, war Norma schon um die Ecke verschwunden. Ohne auf die vielen Wächter, die um das Dashwood Anwesen patrouillierten, zu achten, hinkte sie so gut es ging zu der parkenden Dampflimousine, die mit laufendem Motor vor dem Haus wartete.

»He, Sie da«, rief sie mit herrischer Stimme dem Fahrer zu, der an eine der Säulen gelehnt eine Zigarette rauchte. »Kommen Sie her.«

Der Mann fiel fast in Ohnmacht. Er warf den Stummel ins Gebüsch und eilte auf sie zu. »Zu Befehl, Mylady.«

Norma zeigte abfällig auf die Dampflimousine des Führers. »Mein Vater wünscht, dass ich sofort nach Hause gebracht werde. Ich soll seine Limousine nehmen.«

»Davon weiß ich nichts, Lady Aaliz, mir wurde befohlen …«

Trixie stand neben dem Haus im Dunkeln und versteckte sich hinter einem Schleier aus dichten Schneeflocken und der wuchtigen Gestalt von Feldwebel Wysochi. Es war so kalt, dass sie trotz ihrer dick gefütterten Wolljacke fror.

Sie straffte die Schultern und zwang sich, mit dem Zittern aufzuhören. Die Leute könnten denken, sie hätte Angst. Sie war eine Dashwood, und niemand sollte sie der Feigheit bezichtigen, am allerwenigsten dieser trottelige Feldwebel. Wenn ein ganz gewöhnlicher Feldwebel keine Angst zeigte, dann durfte die Tochter eines Kommissars es noch viel weniger.

Trotzdem hätte sie sich beinahe in die Hose gemacht vor Angst. Bis vor wenigen Augenblicken hatte der ganze Abend etwas Surreales gehabt. Als wäre sie in einem Traum gefangen – einem Albtraum –, als wäre das, was ihr passierte, unwirklich. Doch dann hatte der Feldwebel sie unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Wysochi hatte nichts von einem Träumer oder Spinner an sich. Er war ein riesiger Kerl mit breiten Schultern und Händen wie Paddel. Und er verströmte diesen männlichen Geruch nach Tabak, Lösung, Schweiß und Leder.

Trixie fand ihn abscheulich.

»Was ist los?«, flüsterte sie. »Wo steckt Hauptmann Dabrowski?«

»Halten Sie den Mund!« Trixie war schnell klar geworden, dass der Feldwebel kein Mann von vielen Worten war und die meisten kurz und unfreundlich ausfielen.

Links von ihnen knirschte der Schnee, und dann trat Dabrowski in einer Tarnjacke und mit einem Repetiergewehr über den Schultern aus der Dunkelheit. »Die Okkultisten sind jetzt alle im Ballsaal versammelt, Feldwebel, es kann also jeden Moment losgehen. Sind Ihre Männer bereit?«

»Jawohl, Sir.« Offensichtlich war der Feldwebel auch mit seinem Vorgesetzten nicht besonders geschwätzig.

»Und die Bomben?«

Bomben?

»Zajac kümmert sich um die Zündkapseln. Sobald er den Schuss hört, wird er die Tore in die Luft sprengen.«

Im fahlen Mondlicht beobachtete Trixie, wie Hauptmann Dabrowski ein volles Magazin in sein Gewehr steckte. Dann entsicherte er seine Waffe und warf Trixie einen bedeutungsvollen Blick zu. »Sie werden tun, was der Feldwebel Ihnen befiehlt, Miss Trixie, nicht mehr und nicht weniger. Nur so können Sie überleben, haben Sie verstanden?«

Trixies Kehle fühlte sich plötzlich so trocken an, dass sie nur noch nicken konnte.

»Möge ABBA mit uns sein«, murmelte Dabrowski.

Und dann wurde es wirklich surreal.

Noch während Dabrowski sein Gebet sprach, sprang ein Fenster in ihrer Nähe auf, und eine zierliche Gestalt fiel in den weichen Schnee. Trixie wich erschrocken zurück.

Der Feldwebel streckte den Arm aus und stellte sich schützend vor Trixie. Hinter seinem gewaltigen Körper versteckt beobachtete Trixie erstaunt, wie dem ersten Flüchtling zwei weitere folgten, eine ziemlich leicht bekleidete junge Frau und ein großer, langhaariger Mann. Anschließend bewegten sich die drei am Haus entlang, und im Schein einer der Laternen erkannte Trixie das Gesicht der kleinsten Gestalt. Es war die Dämonin!

Verdutzt beobachtete Trixie, wie sie zum Hauseingang lief und anfing, Befehle zu schreien.

Wysochi gab Hauptmann Dabrowski ein Zeichen und schlich mit Trixie im Schlepptau hinter den drei Flüchtlingen her. Als sie die Ecke des Anwesens erreichten, konnte Trixie hören, wie die Dämonin mit Heydrichs Fahrer sprach. Doch noch ehe sie begriff, was vor sich ging, trat Feldwebel Wysochi vor, um die Lage unter Kontrolle zu bringen.

Ella kam es vor, als löste sich plötzlich alles auf.

Während Norma noch mit dem Fahrer diskutierte, kam ein Feldwebel in roter Uniform aus der Dunkelheit auf sie zu.

»Tun Sie, was Lady Aaliz …«

Lady Aaliz?

»… befiehlt, Sie Hornochse, und zwar dalli!«, schnauzte ihn der Feldwebel an und wandte sich sodann an Norma. »Ihr Vater hat mir befohlen, Sie zu begleiten, Mylady. Ich habe zwei weitere Männer als Eskorte bei mir.« Er nickte den beiden Soldaten zu, die hinter ihm im Dunkeln warteten.

Ella bewunderte Norma Williams Souveränität. Sie meisterte eine Situation, die schnell in einer Katastrophe hätte enden können, mit einer Unerschütterlichkeit, die sie noch nie erlebt hatte. »Na schön, Feldwebel, ich kann nur hoffen, dass Sie wissen, wie man Drinks serviert, während ich mit meinen Freunden Bridge spiele«, gab sie zurück. Diese junge Frau hatte es faustdick hinter den Ohren, genau wie Vanka, fand Ella.

Eine Sekunde lang war der Fahrer wie gelähmt vor Verwirrung. Vielleicht lag es daran, dass die Bluthunde, die das Anwesen bewachten, plötzlich anschlugen oder dass er nicht gewohnt war, Befehle von Polen zu erhalten. Wie auch immer, dieser kurze Augenblick der Ablenkung kostete ihn das Leben. Ella hatte noch nie erlebt, wie jemand umgebracht wurde, und sie hätte auch nie gedacht, dass man derart kaltblütig und effizient morden kann. Unvermittelt hatte der stämmige Feldwebel ein langes, fürchterliches Messer in der Hand und schnitt dem ahnungslosen Fahrer die Kehle durch. Jedes Geräusch, jeder Protest, den er hätte äußern können, wurde bereits im Keim erstickt.

»Ich fahre, Hauptmann.« Ohne auf eine Antwort zu warten, stieg der Feldwebel über den noch zuckenden Körper des Fahrers, sprang auf den Fahrersitz des Dampfwagens und legte den Gang ein. Augenblicklich bewegten sich die Kolben des Dampfwagens schneller.

»Steigen Sie ein«, befahl der Hauptmann. Das musste er nicht zweimal sagen. Vanka stieß zuerst Ella und Norma in den hinteren Teil des Wagens und sprang anschließend selbst hinein. Ihnen folgten der Hauptmann und noch ein weiterer Soldat.

»Sind Sie so weit, Feldwebel?«, rief der Hauptmann, während er sich auf den Sitz zwängte.

Wysochi grunzte nur, kurbelte das Fenster herunter und schoss in die Luft. Es folgten zwei Explosionen. Die erste sprengte die Holzhütte, die den Wächtern der SS als behelfsmäßige Garnison diente, und die zweite – weitaus stärkere – zerstörte das Eingangstor von Dashwood Manor.

Der Wagen machte einen Ruck und holperte dann vorwärts, während der Dampf aus den mächtigen Zylindern ihn einhüllte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er Geschwindigkeit aufnahm. Als die Räder über die Kieselsteine knirschten, hörte Ella durch das kugelsichere Glas der Fenster nur den schrillen Alarm und die Schreie der durcheinanderlaufenden Soldaten. Offensichtlich wusste der Feldwebel, was zu tun war. Er beugte sich aus dem Fenster und rief den SS-Männern, die aus dem Anwesen strömten, mit ruhiger Stimme zu: »Nicht schießen, ihr Dummköpfe. Ich habe die Tochter des Führers bei mir.«

Während der Wagen ungehindert die Auffahrt von Dashwood Manor passierte und anschließend durch das gesprengte Tor fuhr, lehnte sich Ella zurück und konnte nicht fassen, was sie gerade getan hatte. Sie hatte Norma Williams befreit.

Sie hatte es tatsächlich geschafft!

Sie blickte auf, um Vanka zu gratulieren, und staunte nicht schlecht, als sie sah, dass er sich aus dem Fenster des Wagens beugte und einem ganz in weiß gekleideten Offizier, der soeben auf die Stufen von Dashwood Manor hinausgetreten war, den Stinkefinger zeigte.