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Demi-Monde:
56. bis 58. Tag im Winter des Jahres 1004
Die Grundsätze der Eugenik können nicht nur zur Lösung rassischer Probleme herangezogen werden, sie erklären auch, warum manche Stadtstaaten in der Demi-Monde erfolgreicher sind als andere. Diese Art der makroEugenik heißt »Politische Eugenik« (Reinhard Heydrich: Rasse, Eugenik und das Überleben der stärksten Stadtstaaten, Parteigesetz-Veröffentlichungen). In Anlehnung an die Theorie von Jean-Baptiste Lamarck aus dem Quartier Chaud – alle Organismen streben nach Vollkommenheit, und dieser Kampf wird durch die Konkurrenz innerhalb des Bio-Systems stimuliert – sowie durch deren Übertragung auf die Politik ist der Führer zu dem Schluss gelangt, dass der Erfolg des ForthRight der Beweis für den Grundsatz des Überlebens der Stärksten ist. Zusammenfassend ist die Demi-Monde ein Schlachtfeld, auf dem die Rassen um Überlegenheit kämpfen, und das ForthRight, also das Arische Volk, hat sich dabei als das überlegene erwiesen.
– Seine Heiligkeit, Aleister Crowley, Minister für Übersinnliche Angelegenheiten, Die Prinzipien des UnFunDaMentalismus.
Trixie konnte nicht einschlafen; sie war zu aufgeregt. Es war zu viel passiert, und es würde noch viel mehr passieren. Sie schwelgte in der Erregung der Revolution, und in ihrem Kopf wirbelte es nur so von Plänen und Möglichkeiten. Immerhin war sie nach der vergangenen Nacht eine echte Revolutionärin.
Heydrich zufolge waren Revolutionen der natürliche Ausdruck des frustrierten Volkswillens. Doch während Trixie jetzt dasaß und an ihrem Kaffee nippte, nahm sie sich fest vor, dass zumindest ihr Wille nicht frustriert würde. Sie war zwar fix und fertig, ihr Arm und ihr Ohr taten höllisch weh, und ihr Körper war von blauen Flecken übersät, doch jetzt war nicht der richtige Augenblick, um sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Revolutionen, das lernte sie jetzt, waren harte Arbeit.
Als sie das Geräusch von Stiefeln auf dem Boden des Lagerhauses hörte und den Blick hob, sah sie, dass Leutnant Gorski auf sie zukam. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen musste er erschrockener und verwirrter sein als je zuvor.
»Sie haben den Major mitgenommen«, keuchte er.
»Jetzt beruhigen Sie sich, Gorski«, entgegnete Trixie. »Wer hat den Major mitgenommen?«
»Vor zehn Minuten ist Leutnant Adamczyk in den Gasthof gekommen, wo sich der Major ausruhte. Er hatte Befehl des Chefdelegierten Olbracht, den Major wegen Hochverrats und Verbrechens gegen das ForthRight festzunehmen.«
»Was ist mit der Dämonin … ich meine, Miss Williams, hat Adamczyk sie auch mitgenommen?«
Gorski schüttelte den Kopf. »Nein, der langhaarige Kerl machte sich zusammen mit der Dämonin und der Shade durch die Hintertür aus dem Staub, bevor Adamczyk sie zu fassen bekam.«
Trixie nickte. Sie hätte sich denken können, dass dieser Vanka Maykow schwer zu fassen war. Er schien ein ziemlicher Leichtfuß zu sein. Mittlerweile hatte er sich wahrscheinlich mit Norma Williams und der Shade irgendwo verkrochen und wartete ab, wie sich die Dinge entwickelten.
»Nun gut, Leutnant Gorski, am besten trommeln Sie Ihre Männer zusammen und machen sich auf den Weg. Wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns.« Sie warf einen Blick auf die Soldaten, die ringsum auf dem Boden schliefen, entdeckte den schnarchenden Wysochi unter ihnen und weckte ihn mit der Spitze ihres Stiefels. »Zeit zum Aufstehen, Feldwebel, die Revolution wartet nicht.«
Wysochi blinzelte und warf einen Blick auf die Uhr. »Zum Teufel mit Ihnen, es ist acht Uhr morgens. Ich habe mich erst vor einer Stunde aufs Ohr gelegt.« Damit wälzte er sich auf die andere Seite und zog sich seine Dublonka über den Kopf.
Trixie versetzte ihm erneut einen Tritt. »Major Dabrowski ist verhaftet worden. Der junge Gorski hier hat gesehen, wie Adamczyk ihn abführte.«
»Wohin?«
»Zum Rathaus«, stammelte Gorski. »Olbracht ist außer sich wegen des Überfalls gestern Nacht. Er will den Major wegen Hochverrats hinrichten lassen. Er soll vor ein Erschießungskommando gestellt werden.«
Die Erwähnung eines Erschießungskommandos überzeugte den verdrießlich dreinblickenden Wysochi, sich zumindest aufzusetzten und zu strecken.
Gorski sprach weiter. »Er hat eine Botschaft vom Führer persönlich erhalten, in der er erklärt, dass das ForthRight den Überfall auf die Schiffe als Hochverrat betrachtet. Aber auch, dass er Warschau verschonen will, wenn wir ihnen die Dämonin und die Waffen aushändigen. Nur diejenigen sollen verhaftet werden, die unmittelbar an dem Überfall auf die Schiffe beteiligt waren …« Plötzlich verlor er den Faden, als ihm klar wurde, dass auch er sich an dem Überfall beteiligt hatte und zu denen gehörte, die an die Wand gestellt und erschossen werden sollten.
»Soll ich mit meinen paar Männern zum Rathaus marschieren und den Major befreien?«, fragte Wysochi, während er mühsam aufstand.
»Nein. Wir nehmen eine ganze Armee mit.« Trixie zeigte mit einer lässigen Bewegung auf die Menschenmenge, die sich mittlerweile im Lagerhaus eingefunden hatte.
Wysochi folgte ihrer Geste und sah unzählige Menschen, die auf Kisten saßen, sich unterhielten oder sonst wie die Zeit totschlugen. »Wer zum Teufel sind all diese Leute?«
»Freiwillige«, erklärte Trixie. »Was gestern Nacht passiert ist, hat sich in Windeseile herumgesprochen. Sie sind gekommen, um gegen das ForthRight zu kämpfen.«
»So viele?«
»Es sind mehr als tausend junge Frauen und Männer.«
So jung wie ich.
»Die meisten sind unerfahren, aber guten Willens.«
»Und worauf warten sie?«
»Auf Waffen … Befehle … und darauf, dass Sie und Ihre Männer endlich aus den Federn kommen und die Organisation übernehmen.«
»Was machen wir mit Olbracht?«, fragte Gorski. »Er hat befohlen, dass wir die Waffen abgeben.«
Trixie lachte. »Ich scheiße auf Olbracht …«
Bei ABBA, Revolutionärin zu sein hatte einen verheerenden Einfluss auf ihre Sprache!
»… wir sind Revolutionäre, außerdem würden wir sowieso ins Gras beißen, egal ob wir die Waffen abgeben oder nicht. Und als Revoluzzer nehmen wir von niemandem Befehle entgegen.«
Sehr bald mussten Gorski und Wysochi feststellen, dass Revoluzzer sehr wohl Befehle entgegennahmen, allerdings nur die von Trixie Dashwood. Sie wusste stets, was zu tun war, und zögerte auch nicht, den anderen klarzumachen, wie das geschehen sollte. Den Morgen verbrachten sie damit, die scheinbar endlose Schlange von jungen Männern und Frauen einzuteilen. Trixie war angenehm überrascht, als sie entdeckte, wie viele Frauen sich freiwillig gemeldet hatten, um Warschau zu verteidigen. Alle wurden mit einem weißen Armband ausgestattet, auf dem die Initialen FAW – Freie Armee Warschau – prangten, dann wurden sie in Paare eingeteilt, und jedes Paar erhielt ein Martini-Henry-Gewehr und einhundert Patronen Munition. Danach wurden Gruppen von zwanzig Personen gebildet, denen beigebracht wurde, wie man die Gewehre lud und damit schoss.
Als Wysochi fragte, warum nur jeder zweite Freiwillige ein Gewehr erhalten sollte, überraschte ihre Antwort sogar einen kaltschnäuzigen Pragmatiker wie ihn. »Wir haben nicht genügend Gewehre für alle, Feldwebel, denken Sie daran, dass wir auch noch die restliche FAW bewaffnen müssen. Also wird einer das Gewehr tagsüber haben und der andere nachts. Vermutlich hat eine Woche nach dem ersten Angriff der Waffen-SS die Hälfte der armen Teufel ohnehin ins Gras gebissen. Dann kann jeder ein Gewehr für sich allein haben.«
Trixie genoss die bürokratische Seite der Revolution, und nach einigen Stunden war aus dem Haufen von aufgedrehten und undisziplinierten Freiwilligen so etwas Ähnliches wie eine Armee geworden. Doch sie hätte sich niemals träumen lassen, wie schnell sich die Nachricht von ihrer eigenen Rolle in der Schlacht an der Oberbaum-Brücke verbreitet hatte. Immer wieder kamen Freiwillige auf sie zu, bedankten sich dafür, was sie für die Bewohner Warschaus getan hatte, wollten ihr unbedingt die Hand schütteln, fragten, ob sie ein Regiment bekommen und sie die Ehre haben dürften, unter ihr zu dienen …
Das konnte einem schon zu Kopfe steigen, und wäre nicht die Anwesenheit des stoischen Feldwebels Wysochi gewesen, der neben ihr stand, hätte es sie in Verlegenheit gebracht. Wysochi aber unterstützte die Heldenverehrung. »Für Soldaten ist es wichtig, einen Helden zu haben, Miss Dashwood. Sie sehen, wie Sie, ein einfaches Mädchen, kein erfahrener Soldat, die besten Truppen des ForthRight schlägt, und schöpfen Hoffnung.«
»Was für eine Hoffnung, Feldwebel?«
»Dass das Ganze vielleicht doch nicht so sinnlos ist und so schrecklich blutig enden wird, wie ich glaube.«
»Es ist Mittag, Feldwebel Wysochi«, erklärte Trixie gelassen. »Ich glaube, dass es Zeit wird, den Major zu befreien. Wir haben eine ganze Armee zur Verfügung und sollten dafür sorgen, dass die vermaledeiten Delegierten keine Dummheiten machen.«
Wysochi brauchte eine Weile, bis er die Freiwilligen dazu gebracht hatte, sich in Reih und Glied aufzustellen, doch schließlich, nach einer Stunde schreien, fluchen, schubsen und treten war er endlich zufrieden. Als Trixie mit lauter Stimme den Befehl »Vorwärts, Marsch« ausgab, setzte sich der bunt gemischte Haufen in Bewegung. Der Aufstand hatte begonnen.
Es war ein überwältigendes Gefühl für Trixie, an der Spitze ihrer Armee von Amateuren durch die Straßen Warschaus zu marschieren.
Ihrer Armee. Lächerlich.
Noch vor wenigen Tagen war sie ein siebzehnjähriges Schulmädchen gewesen, und heute befehligte sie eine Armee von Revolutionären. Befehligte. Das war ein Wort, bei dem sie stockte. Seit sie das Kommando über das Dampfschiff übernommen hatte, stellte niemand mehr ihre Autorität in Frage, niemand hatte sich geweigert, von einer Frau Befehle entgegenzunehmen. Sie hatte das Kommando einfach an sich gerissen, und keiner hatte ihr das Recht dazu abgesprochen. Gewiss, sie hatte den Achtung gebietenden Wysochi auf ihrer Seite, trotzdem wunderte es sie, dass Frauen und Männer ihren Anweisungen so widerspruchslos folgten. Hatte sie etwa ein Talent für den Krieg? Immerhin fand sie es großartig, Menschen zu führen, Befehle zu erteilen, und Verantwortung zu übernehmen.
Und jetzt entdeckte sie, wie großartig es war, Huldigungen entgegenzunehmen.
Es war ein schöner sonniger Wintertag, als sie durch Warschau marschierten. Die Bewohner kamen aus ihren Häusern und jubelten ihnen zu. Irgendwo hatten die Freiwilligen unterwegs eine Trommel und ein Akkordeon aufgetan. Sie sangen, und die Menschen stimmten begeistert ein. Bald hallten überall in Warschaus Straßen patriotische Lieder und das Krachen der Stiefel auf den Pflastersteinen wider. Noch ehe Trixie mit ihrer Armee eine halbe Meile weit gekommen war, hatte sich das Ganze in eine Parade verwandelt. Eine Feier. Kinder tanzten neben den Soldaten, alte Männer traten aus der Menge, um Trixie die Hand zu schütteln, es regnete Blumen …
Als sie in den Pilsudski-Platz einmarschierten, verstummte der Gesang.
Auf dem Platz vor ihnen erwartete sie eine Reihe resolut dreinblickender Soldaten in roter Uniform. Die sechs Delegierten hatten sich vor ihnen aufgestellt, Major Dabrowski, der einen dicken Verband um dem Kopf trug und von zwei Soldaten bewacht wurde, ein wenig abseits. Trixie hob den Arm, und ihre kleine Armee kam rumpelnd zum Stehen. Mit einem Mal herrschte Totenstille auf dem Platz.
Trixie schluckte und versuchte, ihr flatterndes Herz unter Kontrolle zu bekommen. Jetzt war nicht der Augenblick zum Zaudern, jetzt war es Zeit, Entschlossenheit zu zeigen. »Bringen Sie die FAW in Stellung, Feldwebel«, befahl sie mit lauter Stimme, um sicherzugehen, dass ihre Männer sie hörten, »und dann wollen wir rübergehen und uns anhören, was diese verräterischen Hunde zu sagen haben.«
Wysochi und sie überquerten den Platz. Nur der Widerhall ihrer Stiefelabsätze auf dem Kopfsteinpflaster unterbrach die unheimliche Stille. In Wahrheit war es ihr ein bisschen peinlich, als hätte die kleine Trixie Dashwood kein Recht, in diesem revolutionären Pantomimenstück die Hauptrolle zu spielen. Doch am Gesicht des Chefdelegierten Olbracht konnte sie ablesen, dass zumindest er sie sehr ernst nahm.
»Lady Dashwood, nicht wahr?«
»Ganz recht.«
»Mylady, sind Sie sich dessen bewusst, dass es als Aufwiegelung gilt, im ForthRight unerlaubt mit Waffen zu defilieren?«
Mach es kurz und sprich deutlich, Trixie. So laut, dass die Menschenmenge dich hören kann. Die Leute müssen dich verstehen.
»Innerhalb des Warschauer Territoriums erkenne ich die Gerichtsbarkeit des ForthRight nicht an.«
Olbracht schnaubte höhnisch. »Wer gibt Ihnen das Recht, darüber zu entscheiden, ob Warschau etwas anerkennt oder nicht?«
Trixie lachte und zeigte mit ihrem gesunden Arm auf die provisorische Armee hinter ihr. »Ich habe tausend Gründe, auf dieses Recht zu pochen. Ich habe tausend Kämpfer hinter mir, und alle sind stolze freie Warschauer. Ich bin der Oberkommandierende der Freien Armee Warschaus.«
»Lächerlich. Sie sind nichts weiter als ein Mädchen. Wie soll ein Mädchen eine Armee befehligen?« Olbracht lachte. »Sie haben nicht einmal einen Rang. Sie sind gar nicht autorisiert, vor dem Verwaltungskomitee zu sprechen.«
»Ich habe in Abwesenheit von Major Dabrowski das Kommando übernommen«, entgegnete Trixie und deutete mit dem Kinn auf den Major. »Wie ich sehe, wurde er von den Feinden des polnischen Volkes in Haft genommen.«
Wenn dieses revolutionäre Kauderwelsch gut genug für Heydrich ist, dann auch für mich.
»Das können Sie nicht machen.«
»Und ob ich das kann!« Trixie erhob die Stimme, sodass sie über den ganzen Platz trug. »Letzte Nacht habe ich mit tapferen Männern gekämpft, um die Freie Armee Warschaus zu bewaffnen. Und ich sah viele dieser Männer sterben, als sie jene Waffen an sich rissen, mit denen Heydrich die Bewohner Warschaus abzuschlachten gedenkt. Ihr Tod gibt mir das Recht zu sprechen.«
Olbracht schüttelte den Kopf. »Dann beantworten Sie mir eine Frage. Warum sollten ausgerechnet Sie für uns Warschauer kämpfen? Sie sind nicht einmal Polin.«
Ein Raunen ging durch die Reihen der Armee. Sie sprach so gut Russisch, dass offensichtlich niemand bemerkt hatte, dass sie eine Anglo war.
»Ich bin hier, um an der Seite der Warschauer Bevölkerung zu kämpfen, weil dies kein Krieg zwischen Warschau und dem ForthRight ist, sondern zwischen den freien Bürgern der ganzen Demi-Monde und den Kräften des Bösen. Es ist ein Krieg ums Überleben, ein Krieg, in dem alle, die es wagen, anders als die Angelslawen oder Arier zu sein, egal ob Polen, nuJus oder Chinesen, gemeinsam untergehen werden, es sei denn, sie halten zusammen und leisten Widerstand.«
Trixie konnte es kaum fassen, dass sie diejenige war, die da sprach. Dass ausgerechnet sie Partei für die UnterWesen ergriff, war mehr als erstaunlich.
Bei ABBA, sie hatte sich ganz schön verändert.
»Ich habe aus Heydrichs eigenem Mund gehört, welche Pläne er für die nichtarischen Rassen in der Demi-Monde hat. Sie sehen die Vernichtung des polnischen Volkes vor. Aus seinem Mund habe ich gehört, dass die Endlösung den Tod aller Polen, nuJus und sämtlicher Frauen, Männer und Kinder vorsieht, die im Ghetto leben.« Trixie hob die Stimme, bis sie beinahe schrie. »Ich will ganz offen sein. Heute müssen wir eine Entscheidung treffen. Wir müssen entscheiden, ob wir zusammen kämpfen oder zusammen untergehen.« Aus den Reihen der Soldaten wurde sie mit begeisterter Zustimmung belohnt.
Der Chefdelegierte trat einige Schritte vor, erhob die Stimme über den Tumult der Menge und wandte sich an die vielen tausend Freiwilligen, die auf dem Platz versammelt waren. »Das Warschauer Verwaltungskomitee hat eine Botschaft des Großen Führers erhalten: Wenn wir ihnen die Dämonin, bekannt unter dem Namen Norma Williams, und die Waffen aushändigen, die ihnen gestern Nacht gestohlen wurden, dann wird die Partei nur jene zur Rechenschaft ziehen, die unmittelbar an der Entführung der Dämonin und dem Überfall auf die Schiffe beteiligt waren. Die rechtmäßige Verwaltung Warschaus fordert euch hiermit auf, eure Waffen niederzulegen.« Keiner der freiwilligen Kämpfer rührte sich, aber ein unruhiges Raunen flog durch die Ränge. »Eine Handvoll Leben für das von Millionen!«, rief Olbracht.
»Trauen Sie denn Heydrich über den Weg?«, gab Trixie zurück und hätte sich sogleich auf die Zunge beißen können. Das hier war keine öffentliche Debatte. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um zu diskutieren. Debatten und Diskussionen implizierten Zweifel, und ein Revolutionär konnte sich keine Zweifel leisten. Zweifel bedeutete Schwäche und mangelnde Willenskraft.
Der Chefdelegierte ergriff die Gelegenheit, die Trixie ihm bot. »Wir müssen Kamerad Führer Heydrich vertrauen!«, rief Olbracht. »Der Führer ist ein Ehrenmann. Er hat uns die großzügige Möglichkeit geboten, diesen Unsinn beizulegen, damit das polnische Volk nicht unter der Rücksichtlosigkeit dieses jungen Dings zu leiden hat.« Er wandte sich an Dabrowski. »Major Dabrowski, Sie sind der rechtmäßige Kommandant der Freien Armee Warschaus und als Offizier und Gentleman verpflichtet, das Wohl der Menschen, denen Sie dienen, vor Ihr eigenes persönliches Interesse zu stellen. Als Chefdelegierter des Verwaltungskomitees von Warschau weise ich Sie an, diesen Leuten zu befehlen, die Waffen niederzulegen, die lächerliche Armee aufzulösen sowie die Übeltäter und die Dämonin der Obhut der Checkya zu überstellen.«
Alle Augen wandten sich Dabrowski zu, und dieser zuckte zurück, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen. Er sah elend aus, blass und kränklich, und musste sich auf einen Gehstock stützen.
Noch während Trixie ihn ansah, schien sich Dabrowski vor lauter Unsicherheit aufzulösen. Er war ein anderer Mensch, nicht mehr der schneidige, selbstbewusste Soldat, den Trixie noch vor einem Tag gekannt hatte. War es möglich, dass ihn die Verletzungen, die er auf dem Schiff erlitten hatte, körperlich und auch seelisch dermaßen gebrochen hatten? War er vielleicht krank? Oder vollkommen durcheinander, weil er als Offizier zum totalen Gehorsam konditioniert worden war?
Auf Dabrowskis Schweigen hin setzte der Chefdelegierte ein widerwärtiges Grinsen auf. »Nun, ich glaube, das ist auch eine Antwort.«
Trixie spürte, wie die Menge hinter ihr anfing, unruhig zu werden. Es war entsetzlich mitanzusehen, wie leicht man eine Menschenmenge manipulieren konnte, wie leicht eine Armee, die nur wenige Augenblicke zuvor im patriotischen Eifer geschwelgt hatte, sich von einem aufgeblasenen Schreihals einschüchtern ließ. Sie würde, nein, sie konnte nicht zulassen, dass dieser falsche Fuffziger die Kontrolle an sich riss.
Mit entschlossenem Gesichtsausdruck drehte sie sich zu ihren Männern um und sprach sie direkt an: »Warschaus Freie Armee wird sich nicht ergeben.« Dann hielt sie einen Augenblick inne, leicht verunsichert, weil die riesige Menschenmenge ihr so aufmerksam lauschte. »Gestern wurde mein Vater ermordet. Er gab sein Leben, damit ich weiterleben kann. Und heute ist es an mir, für jene einzustehen, die den Mut haben, anders als Heydrichs arisches Ideal zu sein. Ich bin kein Soldat, aber ich werde trotzdem kämpfen. Ich bin kein Mann, aber ich werde trotzdem kämpfen. Ich bin keine Warschauerin, aber ich werde trotzdem kämpfen.« Sie machte eine Pause, um das Zittern in ihrer Stimme unter Kontrolle zu bekommen. »Und wenn niemand mir folgt … dann werde ich allein kämpfen, so wahr ABBA mein Zeuge ist.«
Es war totenstill auf dem Platz, die Menschen waren in ihrer Skepsis verstummt.
Trixie registrierte eine Bewegung zu ihrer Linken, und dann sah sie, wie Feldwebel Wysochi sich neben sie stellte. »Solange ich lebe«, verkündete er mit einer Stentorstimme, die auf dem ganzen Platz widerhallte, »werden Sie niemals allein kämpfen, ABBA ist mein Zeuge.« Dann stieß er die geballte Faust in die Luft. »Eher will ich aufrecht sterben, als ein Leben lang auf den Knien liegen!«
Noch bevor er das letzte Wort ausgesprochen hatte, brach die Menschenmenge in stürmischen Jubel aus.
»Tja, was sagen Sie nun?«, fragte Ella. Sie stand am Fenster ihres Hotels und blickte auf die Menge auf dem Platz unter ihnen hinab.
»Die haben sie nicht alle«, antwortete Vanka.
»Sie scheinen wirklich zu allem entschlossen, und die kleine Trixie ist eine echte Offenbarung. Dass sie eine Revolutionärin ist, hätte ich niemals gedacht.«
»Der Krieg stellt seltsame Dinge mit den Menschen an, und oft erweisen sich gerade die Individuen, denen man nichts zugetraut hätte, als die Fähigsten.« Vanka seufzte und zog die Vorhänge am Fenster zu. »Trixie Dashwood ist eine geborene Anführerin, aber das reicht nicht. Die Polen haben nicht die geringste Chance.«
»Warum? Es sind ganz schön viele aufmarschiert.«
Vanka klopfte auf die geschmacklose Couch, wirbelte dabei eine Staubwolke auf und ließ sich kopfschüttelnd nieder. »Ich glaube nicht, dass die Polen auch nur den kleinsten Schimmer von dem haben, was auf sie zukommt. Clements Waffen-SS ist die brutalste, am besten bewaffnete und am besten ausgebildete Einheit in der ganzen Demi-Monde. Um die SS aufzuhalten bedarf es mehr als flammender Worte, eines schlecht bewaffneten Haufens von Freiwilligen und ein paar schäbiger Straßenbarrikaden. Noch ehe diese Woche vorüber ist, hat die SS Kleinholz aus ihnen gemacht.«
»Aber jetzt verfügen sie über Waffen.«
»O ja, ein paar völlig veraltete Flinten. Die SS dagegen hat die neusten Waffen, eine strenge Disziplin, gepanzerte Dampfwagen und Artillerie. Dieses Gesindel hat keine Chance.«
»Ich habe gehört, dass im Häuserkampf die Verteidiger immer im Vorteil sind.«
Vanka zog die Schultern hoch und steckte sich eine Zigarette an. »Wenn sie tapfer kämpfen und ihre Frauen ihnen genügend Nachschub an selbstgebastelten Brandbomben liefern, dann können sie der SS einiges Kopfzerbrechen bereiten. Aber damit ist das Hauptproblem nicht aus der Welt, nämlich dass die Warschauer keine Chance haben. Sie können die SS nicht schlagen. Sie können das ForthRight niemals besiegen. Und wenn ein Sieg ausgeschlossen ist, gibt es nur eine einzige Alternative, die Niederlage.«
Ella wies auf ein primitiv gemaltes Spruchband, mit dem eine Gruppe von tanzenden Freiwilligen um den Platz zog: Unser Sieg heißt, sich niemals zu ergeben. »Jedenfalls scheinen sie ziemlich sicher zu sein, dass sie die SS aufhalten können.«
»Humbug«, schnaubte Vanka. »Heydrich wird keinesfalls zulassen, dass ein Haufen Straßenkämpfer seine SS besiegt. Er wird so viele Truppen ins Ghetto schicken wie nötig, um das Ärgernis aus der Welt zu schaffen. Das ist das Problem mit Leuten wie Trixie Dashwood, sie ist eine Romantikerin. Diese Eskapade mit den gekaperten Schiffen ist ihr zu Kopf gestiegen. Sie denkt nicht mehr an die Folgen ihres Handelns. Romantiker sind die gefährlichsten Soldaten von allen. Sie wollen sterben.«
»Vielleicht hat Feldwebel Wysochi doch recht, und es ist ehrenvoller zu sterben als zu kriechen.«
»Heroisches Gefasel«, gab Vanka zurück. »Wer tot ist, hat keine Chance mehr zu siegen. Besser ein feiges Leben als ein Heldentod.«
»Diese Auffassung ist sehr zynisch.«
»Nicht zynisch, sondern pragmatisch. Glauben Sie mir, Ella, ich habe nicht die Absicht zu sterben. Ich bin der Auffassung, dass es besser ist, andere für sich sterben zu lassen. Und diese jungen Leute scheinen so sehr darauf erpicht, die Spirituelle Welt kennen zu lernen, dass es geradezu unanständig von mir wäre, ihnen nicht meinen Platz in der Schlange zu überlassen.« Nachdenklich zog er an seiner Zigarette. »Nein, unser Ziel ist es, vorerst in unserem gemütlichen Versteck auszuharren, diesem Hundesohn von Olbracht aus dem Weg zu gehen und abzuwarten, bis sie vergessen, welch fabelhafte Idee es wäre, Ihre Freundin Norma Williams an Heydrich auszuliefern. Und wenn die Zeit gekommen ist, versuchen wir zu fliehen. Vielleicht schlagen wir uns nach Coven durch und gehen dort an Bord eines Frachters, der Sie und Ihre kleine Rotzgöre« – er zeigte auf das Zimmer nebenan, wo Norma Williams schlief – »nach NoirVille bringt. Wenn wir da sind, können Sie mir die Million Guineen geben, die Sie mir versprochen haben.«
»Und dann?«, fragte Ella. Sie war ein wenig gekränkt, dass Vanka so rein geschäftlich über ihre Flucht nach NoirVille sprach. Sie hatte gehofft, er würde ihr nicht nur wegen des Geldes helfen. Sie hatte gedacht – gehofft –, dass Vanka Maykow eventuell etwas für sie empfinden könnte.
»Danach gehen Sie in Ihre Welt zurück, und ich mache mir mit meiner Million eine schöne Zeit in dieser hier.«
Offenbar nicht. Vielleicht sah sie jetzt gerade sein wahres Gesicht. Schließlich war der Kerl ein Hochstapler. Ein Hochstapler, der allem Anschein nach kein Interesse hatte, sich mit einer Dämonin einzulassen.
Sie wünschte, sie würde nicht so viel für ihn empfinden.
Archie Clement warf erneut einen Blick auf die Karte des Ghettos, sah anschließend auf seine Uhr und konnte sich ein selbstgefälliges Grinsen nicht verkneifen. Fünf vor zwölf Uhr mittags. Der Führer hatte befohlen, am Mittag des 59. Wintertages mit dem Überfall zu beginnen, doch dank einer riesigen Anstrengung würde die Zerstörung Warschaus nun einen Tag früher als geplant beginnen. Es war eine Herkulesaufgabe gewesen, aber er hatte sie gemeistert. Heute würde das Ghetto dafür bezahlen, dass Dabrowski die Dämonin und die Schiffe entführt hatte.
»Haben Sie die Dampfwagen auf Touren gebracht, Kamerad Sturmbannführer Hartley?«, fragte er den Offizier neben ihm. »Wär doch ’ne Schande, wenn sie die große Parade verpassen würden, wie?«
»Wir haben vier Dampfwagen in Position gebracht, um den Angriff über den Uyazdov Boulevard zu führen, Kamerad Standartenführer.«
»Was? Nur vier?« Clement wandte sich um und spuckte einen Klumpen Kautabak aus, der die blitzblank polierten Stiefel des Sturmbannführers nur um Haaresbreite verfehlte. »Vier Dampfwagen! Da werden sich die Rebellen wohl kaum in die Hose machen, wie?«
»Die Mobilisierung kam so unerwartet, dass wir leider keine Zeit hatten, mehr Wagen aufzutreiben, Kamerad Standartenführer. Wir rechnen allerdings ohnehin nicht mit nennenswertem Widerstand. Zuerst werden wir die Straßenbarrikaden, die die Aufständischen errichtet haben, mit Artillerie unter Beschuss nehmen, und dann schicken wir unsere besten Sturmtrupps in das Ghetto.«
»Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, Hartley. Diese verdammten Polacken haben während der Unruhen verdammt viel Mut gezeigt, also glauben Sie nicht, dass sie die Beine in die Hand nehmen, nur weil wir einen Furz loslassen. Und vergessen Sie nicht, Ihren Männern zu sagen, dass die Schweinehunde bewaffnet sind. Sie haben zehntausend Gewehre auf diesen Kähnen erbeutet.«
Tja, das war allerdings eine Überraschung gewesen. Berias Einschätzung zufolge war Dabrowski der typische Offizier, ein Mann, der zum Denken geboren war, nicht zum Handeln. Schließlich hatten sie ihn gerade deswegen auserwählt. Doch beim Überfall auf die Schiffe hatte der Kerl ein unerwartetes Ausmaß an Entschlossenheit und Rücksichtslosigkeit an den Tag gelegt. Möglich, dass er ein weit effizienterer Kommandant sein würde, als sie angenommen hatten.
»Mit Verlaub, Kamerad Standartenführer, das sind bloß alte Martini-Henry-Gewehre, uralte Modelle, die sich mit unseren M4s nicht messen können.« Der Sturmbannführer warf seinem Vorgesetzten ein beruhigendes Lächeln zu. »Ich bin zuversichtlich, dass wir diesen Abschaum vor uns hertreiben werden. Spätestens um Mitternacht haben wir die Altstadt mitsamt der Warschauer Blutbank unter Kontrolle gebracht, und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Stadt ergibt.«
Clement nickte. Was der Sturmbannführer sagte, klang völlig vernünftig, trotzdem wurde er dieses unheilvolle Gefühl nicht los. Warschau einzunehmen, so fürchtete er, könnte schwerer sein, als der Sturmbannführer annahm.
Man wusste nie, wozu die verdammten Aufständischen fähig waren.
Hauptmann Dabrowski …
Trixie hielt inne und berichtigte sich, als sie sich erinnerte, dass Dabrowski in der Freien Armee Warschaus den Rang eines Majors hatte. Und Major Dabrowski, so hatte Trixie entschieden, war wohl eifersüchtig auf sie.
Dafür dass er sie während des ersten Treffens der FAW-Führung derart schnöde behandelt hatte, gab es keine andere Erklärung. Er war kein bisschen zuvorkommend gewesen und hatte ihr nicht einmal gedankt, dass sie ihn aus Olbrachts Fängen befreit hatte. Während der ganzen Versammlung hatte er sich hartnäckig dagegen gewehrt, die Rolle anzuerkennen, die Trixie bei dem Überfall auf die Schiffe, der Bewaffnung der FAW-Armee, dem Putsch gegen die Delegierten und seiner eigenen Ernennung zum Oberhaupt der neuen Notstandsregierung gespielt hatte. Er schien nur darauf aus zu sein, sie allen Einflusses zu berauben, den sie in der FAW hatte.
In der Tat hatte seine erste Amtshandlung darin bestanden – nachdem er, wie Trixie allerdings zugeben musste, von den regulären Offizieren dazu gedrängt worden war –, ein Dekret zu erlassen, wonach Frauen in der FAW nicht an Kampfhandlungen teilnehmen durften. Für Trixie war es ein Schlag ins Gesicht gewesen, über den sie vierundzwanzig Stunden später immer noch schäumte. Welchen Sinn hatte es, eine Revolution zu entfachen, wenn die alten Vorurteile und Feindbilder unangetastet blieben?
Trixie spürte, wie jemand an ihrem Ärmel zupfte. Als sie sich umdrehte, reichte Feldwebel Wysochi ihr einen großen Emaillebecher mit Suppe. »Hier, essen Sie etwas. Es wird ein langer harter Tag, und ich glaube nicht, dass Clement Lust hat, uns zum Mittagessen eine Feuerpause zu gewähren.« Trixie nickte, dankbar für die Aufmerksamkeit des Feldwebels, und nippte an der brühend heißen Kartoffelsuppe. »Und stecken Sie auch das hier ein.« Er gab ihr ein in Zeitungspapier eingewickeltes Paket. »Schwarzbrot und ein Käse-kanapka.« Er bemerkte Trixies verwirrten Blick. »Ein Sandwich. Zum Durchhalten, wenn es einmal brenzlig werden sollte.«
»Das ist sehr nett von Ihnen, Feldwebel.«
»Ich sehe nur zu, dass es meinen Offizieren gut geht … zumindest einigen. Denjenigen, die es verdienen.«
»Ich bin kein Offizier, Feldwebel. Daran hat Major Dabrowski keinen Zweifel gelassen. Meine Rolle besteht lediglich darin, unseren tapferen männlichen Soldaten Beistand zu leisten.«
Wysochi gluckste. »Nun, wenn es nach mir ginge, wären Sie einer. Nach dieser kleinen Rede auf dem Pilsudski-Platz hätte man Sie mindestens zum General machen müssen. Andererseits ist der Major in dieser Hinsicht etwas altmodisch. Er kann sich nicht mit der Vorstellung anfreunden, dass Frauen Männer herumkommandieren. Mir dagegen gefällt es, wenn Frauen so richtig rangehen«, sagte Wysochi und grinste sie anzüglich an.
Trixie zog es vor, die geschmacklose Anspielung zu überhören. Es war ein Zeichen für die bemerkenswerte Veränderung in ihrem Leben und ihrem Verhalten, dass sie sich mit jemandem unterhalten konnte, der einen so niedrigen gesellschaftlichen Rang hatte wie Wysochi. Der Krieg brachte alles durcheinander … stellte alle alten Gewissheiten in Frage.
»Sie scheinen nicht viel von Offizieren zu halten, Feldwebel Wysochi.«
»Stimmt, die meisten sind Vollidioten, auch die in der regulären Armee. Aber Sie … Sie sind ein Kämpfer. Kein guter Kämpfer«, fügte Wysochi verschmitzt hinzu, »schließlich sind Sie ja eine Frau, aber auch kein schlechter.« Er drückte mit dem Stiefel gegen die Straßenbarrikade. Die Leute hatten sie fieberhaft in wenigen Stunden aus Pflastersteinen, Türen, alten Möbelstücken, schmiedeeisernen Zäunen, Fässern und mehreren Bäumen errichtet, die man in den benachbarten Gärten gefällt und herangeschleppt hatten. »Ganz schön stabil«, sagte er, »aber stabil genug für einen gepanzerten Dampfwagen? Das ist die Frage.«
»Hoffentlich«, bemerkte Trixie. »Diese Straße führt direkt zur Blutbank, also wird die SS hier den Schwerpunkt ihres Angriffes ausführen. Offensichtlich hat der Leutnant« – sie nickte in Gorskis Richtung, der oben auf der Barrikade saß und an den Nägeln kaute – »den Befehl erhalten, die Stellung hier bis zum letzten Mann zu halten.«
»Mögen die Geister uns helfen. Der Kerl wird nicht mal seine Blase unter Kontrolle halten können, geschweige denn eine Straßenbarrikade mit nur zweihundert Männern. Ohne einen ordentlichen Anführer werden die Kerle die Beine in die Hand nehmen und wie die Hasen davonlaufen.«
»Sie haben doch Sie.«
»Tja, mich, was?« Wysochi zündete sich eine Zigarette an, nahm einen kräftigen Zug und grinste Trixie an. »Aber auch Sie, und an Ihrem Blick sehe ich, dass Sie den Jungs mehr als nur ein paar aufmunternde Worte mit auf den Weg geben werden, egal ob Sie sich am Kampf beteiligen dürfen oder nicht.«
Plötzlich wurden sie vom Schrei eines der Posten unterbrochen, die auf den Hausdächern der Straße Wache hielten.
»Ballon in Sicht!«
Trixies Blick folgte seiner Hand. Etwa eine Viertelmeile entfernt schwebte in einer Höhe von siebzig Metern einer dieser neuartigen Wasserstoffballons der Speke-Klasse. Die riesige Hülle leuchtete hellrot in der Abendsonne. Er wirkte vollkommen friedlich und harmlos, als er so dahinschwebte. Sie erkannte zwei Männer im Korb, die sich mit einem Teleskop die Straßenbarrikaden ansahen. Die Linse funkelte in der Sonne.
Wysochi warf seinen Zigarettenstummel weg. »Kommen Sie, der Ballon ist bereits in der Luft. Höchste Zeit, dass wir uns aus dem Staub machen.« Er hielt die Hände vor den Mund. »Geht in Deckung!«, rief er den Soldaten der Befreiungsarmee zu, die um die Kohlebecken standen und sich aufwärmten. Dann nahm er Trixie am Arm und brachte sie zu einem der Keller, die zu Bunkern ausgebaut worden waren.
»Vergesst es«, rief Leutnant Gorski. »Das ist nur ein Ballon.«
»Die berechnen die Entfernung für ihre Artillerie«, rief Wysochi zurück, während er Trixie eilig die Kellertreppe hinunterführte.
Das Gespräch wurde jäh von einem seltsamen Pfeifen unterbrochen, das die Stille zerriss.
Trixie hatte in den Büchern ihres Vaters in der Bibliothek Schilderungen von Artilleriefeuer gelesen, war aber trotzdem wie betäubt – wortwörtlich –, als sie sich plötzlich mitten in einem solchen wiederfand. Der Lärm der einschlagenden Granaten war dermaßen gewaltig, dass sie spürte, wie sich das gesunde Ohr jetzt auch verschloss. Der Krach aber war nichts im Vergleich mit der Schockwelle, die auf die Detonation folgte. Selbst hier, im Schutz des Kellers, wurde sie durch die Gegend geschleudert und schlug mit dem Kopf gegen die Backsteinwand. Sie spürte einen stechenden Schmerz in ihrer verletzten Schulter. Einen Augenblick lang kauerte sie in Fötushaltung auf dem Boden, taub, gefühllos und erschüttert von der Wucht der Explosion, die sie gerade erlebt hatte. Schmutz und Staub regneten auf sie herab. Jeder Atemzug schmeckte nach pulverisierten Backsteinen. Sie hustete und versuchte, den erstickenden Staub auszuspucken.
Dann spürte sie eine Hand auf der Schulter, und als sie aufblickte, erkannte sie Wysochis besorgten Blick. Er war in eine weiße Staubschicht gehüllt. Seine Uniform war ebenfalls übel mitgenommen. Der rechte Ärmel der Jacke war zerfetzt, die Hose an den Knien zerrissen und steif vor Dreck. Er sprach mit Trixie, aber sie konnte nichts hören. Sie steckte je einen Finger in die Ohren und massierte sie.
Wysochi erhob die Stimme: »Sind Sie verletzt?«
Trixie rappelte sich auf und machte eine hastige Bestandsaufnahme. Sie hatte Unmengen von Schrammen und blauen Flecken, aber die Knochen waren offensichtlich alle noch heil. Unsicher murmelte sie: »Alles in Ordnung«, und stellte erfreut fest, dass sie ihre eigene Stimme hören konnte, wenn auch nur gedämpft.
»Gut, dann folgen Sie mir.« Wysochi stieg die Kellertreppe wieder hinauf.
Oben erwartete Trixie eine Szene des Grauens, ein wahres Blutbad. An die zehn Männer und Frauen, die dabei gewesen waren, der Straßenbarrikade den letzten Schliff zu geben, waren von den einschlagenden Granaten überrascht worden, jetzt lagen ihre zerfetzten Körper überall auf den zerborstenen Pflastersteinen verstreut. Unter den Toten war auch Leutnant Gorski. Sein Kopf war unnatürlich verdreht, als hätte er sich das Genick gebrochen.
Trixie blickte sich um. Weit und breit waren weder Offiziere noch Unteroffiziere zu sehen, nur ein Pulk verwirrter und zu Tode erschrockener Soldaten. Dann krachte es ohne jede Vorwarnung erneut, und Wysochi und Trixie wurden von dem herabfallenden Schutt fast begraben. Als sie wieder aufstand, lag der Feldwebel, von einem Ziegel am Kopf getroffen, reglos auf der Straße.
Sie sah auf ihn hinunter. Es war unmöglich, dass ein so kräftiger Mann so einfach wie ein Baum gefällt werden konnte. Er war ein Fels gewesen. Unzerstörbar. Sie sah sich erschrocken um und wusste nicht, was sie jetzt tun sollte … allein.
»Dampfwagen … Dampfwagen der SS«, schrie jemand, und die zitternde Stimme verriet seine Panik.
Doch dann erwachte Trixies angeborener Kampfgeist erneut. »Korporal! Ist hier noch ein Korporal am Leben?«, schrie sie so laut sie konnte, und fast im gleichen Augenblick tauchte ein junger Mann hinter einer kleinen Mauer im Garten einer einstmals prachtvollen Villa auf. Diese war von einer Granate getroffen worden und nur noch eine Ruine. »Wie heißen Sie, Korporal?«
»Karol Michalski.«
»Nehmen Sie sich zehn Mann, Michalski, dazu so viele Brandbomben wie möglich, und platzieren Sie sich mit Ihren Männern da oben auf dem Dach des Hauses.« Sie zeigte mit dem Finger auf ein Gebäude hundert Meter von der Barrikade entfernt. »Dann warten Sie, bis die Panzerwagen unten in der Straße auftauchen, und fackeln sie ab.«
Der Korporal stutzte einen Augenblick, salutierte und befolgte wortlos Trixies Befehl. Als Nächstes sah Trixie einen Soldaten, der auf sie zustolperte und dabei brennende Asche von seiner Hose klopfte. »Und Sie, Soldat, trommeln zwanzig Mann zusammen und verschanzen sich in den oberen Stockwerken des Gebäudes da drüben.« Sie zeigte mit dem Lauf ihrer Pistole auf das Haus neben der Barrikade.
»Nein!«, schrie der Soldat. »Wir müssen vor dem Artilleriebeschuss zurückweichen …«
»Reißen Sie sich zusammen, Mann. Wie heißen Sie?«
»Josef Zawadzski.«
»Wenn wir jetzt davonlaufen, wird uns die SS wie die Hasen abschießen. Wir haben keinen Ort, an den wir uns zurückziehen könnten. Entweder kämpfen oder sterben, etwas anderes bleibt uns nicht.« Allmählich kamen auch andere Männer aus der Deckung, worauf Trixie die Stimme erhob, damit man sie deutlich hören konnten. »Gestern habt ihr geschworen, eure Stadt bis zum letzten Mann zu verteidigen. Und heute könnt ihr zeigen, ob ihr Polen Wort haltet oder ihr nur Schlappschwänze seid.« Schamrot salutierte Zawadzski und begann, seine Männer zusammenzurufen.
Plötzlich trat ein von dem Bombardement völlig verstörter und verwirrter Feldwebel aus einem Keller und ging dazwischen. »Halt! Jeder bleibt, wo er ist. Ich führe hier das Kommando. Sie sind kein Offizier. Wir ziehen uns zurück.«
Es war ein extrem kritischer Augenblick. Die Männer, die ausgeschwärmt waren, um Trixies Anweisungen zu befolgen, hielten inne und sahen unsicher von Trixie zum Feldwebel und wieder zurück.
Sie versuchte zu bluffen. »Ich bin Leutnant Trixie Dashwood.«
»In der FAW gibt es keine weiblichen Offiziere. Ich führe hier das Kommando, und ich befehle …«
Sie kamen nicht dazu zu hören, was der Feldwebel zu sagen hatte. Ein Schuss löste sich aus der Pistole, die Trixie in der Hand hielt, und der Feldwebel sackte mit einem Loch in der Brust zu Boden. Einen Moment war Trixie wie gelähmt angesichts ihrer eigenen Brutalität. Dann aber warf sie alle Zweifel über Bord. Über die moralischen Folgen ihres Handelns würde sie später nachdenken … falls sie dann noch lebte. »Er war ein Feind der Revolution. Ich gebe hier die Befehle«, fauchte sie. »Ich bin Leutnant Trixie Dashwood und habe Anweisung, diese Stellung zu halten, und genau das werde ich auch tun. Sie, Korporal Zawadzski, gehen da oben mit Ihren Männern in Stellung, und wenn die Anglos auftauchen, heizen Sie ihnen tüchtig ein, haben Sie verstanden?«
Zawadzski nickte.
»Der Rest nimmt seine Waffen und geht hinter der Barrikade in Deckung.«
»Und wir?«, fragte eine Stimme links von Trixie.
Als Trixie sich umdrehte, sah sie eine Gruppe von jungen Mädchen, die Älteste war höchstens vierzehn. Waren sie denn nicht viel zu jung, um ohne ihre Eltern unterwegs zu sein? Dann musste Trixie beinahe lachen, sie selbst war nur drei Jahre älter und hatte gerade einen Mann erschossen, weil er sich ihren Befehlen widersetzt hatte. »Ihr tragt die Verwundeten in die Keller und sorgt für sie, so gut es geht. Alle Übrigen nehmen sich jetzt Gewehre und verschanzen sich hinter der Barrikade.«
»Frauen dürfen nicht kämpfen«, wandte einer der Soldaten ein.
Mit einem Blick brachte Trixie ihn zum Schweigen. »Es spielt keine Rolle, ob ein Mann oder eine Frau feuert, für den SS-Mann, den die Kugel tötet, kommt es aufs selbe hinaus. Die SS wird Männer wie Frauen umbringen, daher haben die Frauen dasselbe Recht zu kämpfen wie die Männer.«
Es war einer jener seltenen Augenblicke, wenn es still wird und alle Geräusche und Worte plötzlich verebben. Als gönnte sich die Welt eine Atempause. Als verstummte sie vor einem Grauen, dessen Zeuge sie gleich werden wird. Trixie sah die Männer und Frauen an, die sich hinter der Barrikade aufgestellt hatten, und fragte sich, worauf sie wohl horchten. Sie strengte das gesunde Ohr an.
Da …
In der Ferne vernahmen sie das Knirschen von Stahl auf Pflasterstein, dann das dumpfe Stampfen der Kolben, die lauten Befehle, die durch die scharfe kristallklare Luft des Nachmittags bis zu ihnen hallten.
Ein Junge von zwölf oder dreizehn kam um die Ecke gelaufen und schrie: »Die Anglos rücken durch Southgate vor. Zehn Minuten von hier.«
»Soldaten von Warschau, haltet euch bereit«, rief Trixie.
Jetzt konnten sie nur noch abwarten, und da wurde Trixie plötzlich bewusst, wie einsam man als Kommandant war. Die Frauen und Männer hinter den Barrikaden warteten auf ein Wort von ihr. Trixie ging an der Barrikade auf und ab und rief den blassen Soldaten zu: »Eröffnet das Feuer erst, wenn die Anglos auf fünfzig Meter herangekommen sind. Verschwendet keine Munition. Wenn jemand fällt, übernimmt sein Partner, der kein Gewehr hatte, dessen Waffe. Niemand weicht zurück, niemand ergibt sich. Ich werde jeden erschießen, der die Barrikade verlässt. Jetzt ist eure Zeit gekommen, Bewohner von Warschau, eure Zeit zum Töten ist gekommen.«
Fünf Minuten später holperte der erste Dampfwagen um die Ecke. Die SS hatte die Gummireifen durch Spikes ersetzt, und die Räder rissen ganze Pflastersteine aus der Straße. In Stahl und Dampf gehüllt bahnte sich das schwere Gefährt ächzend und stöhnend einen Weg durch die Straße, langsam, unaufhaltsam auf die Barrikaden zu. Als der Panzerwagen genau gegenüber von ihnen war, blieb er stehen wie ein feuerspeiender Drache, der aus den Tiefen der Terror Incognita ausgebrochen war. Dann setzte er sich mit einem Ruck in Bewegung und nahm Fahrt auf. Offensichtlich hatte er vor, die Barrikade zu durchbrechen. Im Schutze des Ungetüms rückten auch die schwarz uniformierten SS-Sturmtruppen vor. Dann eröffneten zwei auf dem Dach des Panzwerwagens angebrachte Gatling-Kanonen das Feuer. Instinktiv warf sich Trixie zu Boden. Die Kugeln schlugen in einem Haus links von ihr ein. Fenster barsten, Glassplitter regneten auf die Straße. Irgendwo rechts hörte sie einen Schrei. Der Panzerwagen wurde schneller. Er schien unaufhaltsam zu sein, ein Klumpen Stahl, der auf sie zuraste.
»Kommt nur, ihr verdammten Hundesöhne!«, schrie Trixie und errötete. Wie konnte man sich mit ihrer Herkunft und ihrem Rang derart vulgär ausdrücken. Daran war bestimmt dieser Feldwebel Wysochi schuld. Doch als sie sah, welche Wirkung die Worte auf ihre Männer hatte – sie lachten –, sah sie sich ermutigt fortzufahren. »Seht euch sie nur an … diese Ärsche sind so zahlreich, dass selbst ihr Nichtsnutze sie nicht verfehlen könnt.«
Schallendes Gelächter.
Die SS kam immer näher. Achtzig Meter … siebzig Meter … sechzig … fünfzig.
»Feuer!«
Die Soldaten der FAW feuerten aus allen Rohren ihrer veralteten Martini-Henry-Gewehre. Ein Kugelhagel prasselte auf die vorrückende SS nieder. In Handumdrehen stieg eine erstickende Korditwolke in den kalten klaren Winterhimmel auf.
»Rührt euch nicht vom Fleck!«, rief Trixie, als der Panzerwagen gegen die Barrikade prallte. Einen Augenblick fürchtete sie, dass sie nachgeben würde, doch die Tonnen von Erde, Holz und Schutt hielten dem Angriff stand. Jetzt begannen Korporal Zawadzski und seine Männer, auf die SS-Leute zu schießen, die sich hinter dem steckengebliebenen Panzerwagen verschanzten. Einer der Verteidiger fiel mit einem Treffer im Gesicht zu Boden. Trixie riss ihre Pistole instinktiv hoch, zielte auf die vorrückenden SS-Männer und drückte ab. Der Rückstoß der Pistole war gewaltig, Trixie spürte erneut einen durchdringenden Schmerz in dem verletzten Arm, doch sie feuerte mit der Waffe immer wieder auf die vorrückende schwarze Masse, bis das Magazin leer war und sie nur noch ein leeres Klicken hörte.
Es schien aussichtslos zu sein. Die Waffen-SS rollte wie eine riesige schwarze Welle auf sie zu und nahm die Barrikaden mit ihren automatischen Gewehren unter schweren Beschuss. Doch genau in diesem Augenblick warfen der junge Korporal Michalski und seine Männer die Brandbomben herunter und verwandelten den eleganten, von Bäumen gesäumten Ujazdow-Boulevard in ein flammendes Inferno.
»Jetzt!«, schrie sie zwei Jungen etwas zu – in Wirklichkeit waren es noch Kinder, keine zehn Jahre alt –, woraufhin diese todesmutig auf die Barrikade kletterten, um ihre Brandbomben ins Innere der Panzerwagen zu schleudern. Einer wurde von einer Maschinengewehrsalve niedergestreckt, doch dem zweiten gelang es, seine Bombe durch den Sehschlitz des Fahrers zu werfen. Es folgte eine dumpfe Detonation, als die Brandbombe detonierte, und einen Augenblick später vermischte sich das Geräusch stampfender Kolben und knirschender Räder mit den Todesschreien der Mannschaft, die im Innern verbrannte.
Plötzlich schien die Wucht des Angriffs nachzulassen, wie beim Einsatz der Ebbe am Meer, und Trixie sah, dass die SS den Rückzug antrat.
Von den Barrikaden schrie jemand: »Wir haben sie besiegt! Sie hauen ab!«
»Schießt weiter!«, brüllte Trixie, »verdammte Scheiße, knallt sie ab. Tötet so viele von den Schweinehunden wie nur möglich. Macht sie fertig, auf dass sie uns nicht vergessen!«
Und während sie sich ihre Befehle aus der Seele schrie, wurde Trixie bewusst, dass sie niemals im Leben glücklicher gewesen war.
Kamerad Sturmbannführer Hartley stand stocksteif vor Archie Clements Schreibtisch, während der Standartenführer mit seinem Bleistift spielte und ihn zwischen den Fingern der rechten Hand träge vor und zurück rollte. Schließlich hielt Clement inne und blickte auf.
»Also, Sturmbannführer, welche Rechtfertigung haben Sie?«
»Wir sind auf weit größeren Widerstand gestoßen, als wir gedacht hatten, Kamerad Standartenführer. Trotzdem bin ich zuversichtlich …«
»Zu-ver-sicht-lich. Verdammt nochmal, Hartley! Dafür können Sie sich nichts kaufen. Und ich an Ihrer Stelle wär bestimmt alles andere als zuversichtlich. Nein, Sir, ganz und gar nicht. Wenn ich erlebt hätte, wie zweihundert meiner Männer von einer zerlumpten Bande Aufständischer über den Haufen geschossen werden und die übrigen die Beine in die Hand nehmen, würde ich das Wort zu-ver-sicht-lich nicht in den Mund nehmen.«
Hartley schluckte. Die Sonderzulagen und Privilegien, die man als hochrangiges Mitglied der SS hatte, waren nicht zu verachten, aber sie wurden einem erst gewährt, nachdem man einen Eid auf Ehre und Ruhm bis in den Tod geleistet hatte. Und da sich seine Jungs an diesem Nachmittag nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatten …
»Die Polen haben gegen jedes zivilisierte Kriegsrecht verstoßen, sie waren brutal und unmenschlich.«
Clement sah Hartley an, als wäre er von Sinnen. »Soll das ein Witz sein?«
»Nein, Standartenführer, die Polen haben Kinder eingesetzt, die von den Häuserdächern Brandbomben auf unsere Panzerwagen geworfen haben. Und sie haben überall in den Häusern Sprengfallen angebracht.«
»Herrgott nochmal, sieht ganz so aus, als hätten wir es mit Kerlen zu tun, die mit allen Wassern gewaschen sind! Kinder … Sprengfallen … was werden sich diese Rebellen noch alles einfallen lassen? Kraftworte? Obszöne Gesten? Hören Sie mir mit Ihrer Jammerei auf, Kamerad Sturmbannführer. Ich bin es nicht gewohnt, dass meine SS-Jungs wie die Hasen vor einer Bande hergelaufener Penner davonlaufen.«
»Sie sind völlig fanatisch, Kamerad Standartenführer, und sie werden von einem Wahnsinnigen angeführt …« Hartley machte eine Pause und berichtigte sich: »Besser gesagt … einer Wahnsinnigen, Standartenführer.«
Clement horchte auf. »Die Aufständischen folgen einem Weib?«
»Unsere Spionageballons haben gesehen, dass die Verteidigung von einer Frau mit langem blondem Haar angeführt wurde, und ein Gefangener aus Warschau hat es während des Verhörs bestätigt.«
»Hat dieses Weib auch einen Namen?«
»Der Gefangene wusste nicht, wie sie heißt. Bevor er den Löffel abgab, konnte er uns gerade noch sagen, dass es dieselbe junge Frau ist, die den Überfall auf die Schiffe angeführt hat. Dass der polnische Abschaum Frauen wie Männer kämpfen lässt, wundert mich nicht, Standartenführer.«
»Soweit ich sehen kann, hat dieses Weib Ihren Männern Feuer unterm Arsch gemacht. Sonst wären Sie jetzt nicht hier.« Clement nahm einen tüchtigen Schluck Lösung. »Machen Sie, dass Sie wieder in den Sattel kommen, Sturmbannführer. Trommeln Sie Ihre Jungs zusammen. Sie werden jetzt einen weiteren Ansturm unternehmen, und ich werde dafür sorgen, dass unsere Artillerie Hackfleisch aus den Rebellen macht, ehe Sie losstürmen. Sie haben verdammtes Glück, ich will heute nicht nachtragend sein, sondern gebe Ihnen sogar sechs weitere Panzerwagen mit, die soeben eingetroffen sind. Und merken Sie sich eins, denn ich will es nicht zwei Mal sagen müssen: Sie haben den Befehl, die Straßenbarrikaden, die uns den Weg in die Altstadt versperren, noch vor Einbruch der Nacht einzunehmen. Das ist das Mindeste, und wenn die Aufständischen Sie erneut in die Flucht schlagen sollten, Kamerad Sturmbannführer …«, Clement warf Hartley ein eisiges Lächeln zu, »tja, dann muss ich einem SS-Offizier, der so große Worte wie zu-ver-sicht-lich in den Mund nimmt, wohl nicht sagen, was er zu tun hat, nicht wahr?«
Der Artilleriebeschuss dauerte zwei nicht enden wollende Stunden. Während Trixie in einem Luftschutzkeller hockte, hörte und spürte sie die Zerstörung draußen eher, als dass sie sie sah. Sie versuchte, die Detonationen zu zählen, gab aber auf, als sie bei dreißig war und die Einschläge so dicht und so schnell hintereinanderkamen, dass sie sie nicht mehr auseinanderhalten konnte, weil sie zu einem großen lauten Dröhnen verschmolzen. Sie kauerte an die Wand gelehnt, hielt sich beide Ohren zu und wünschte nur, dass das Hämmern endlich aufhörte und sie an einem Ort wäre, an dem sie nicht ständig befürchten musste, lebendig unter dem Schutt begraben zu werden. Zwei lange Stunden kauerte sie in einer Ecke des Kellers, hoffte und betete, dass keine der unzähligen Granaten, die die Anglos auf Warschau abfeuerten, das Haus traf, in dem sie sich verschanzt hatte.
Endlich war es still.
»Raus, raus!«, befahl Trixie und drängte ihre Männer auf die Straße hinaus. »Zurück auf die Barrikaden.«
Erschöpft und widerwillig folgten die Verteidiger ihrem Befehl. Trixie tauchte aus dem Keller auf und blinzelte in der abendlichen Sonne in eine völlig veränderte Welt. Das malerische Warschau von nur wenigen Stunden zuvor gab es nicht mehr, an seine Stelle war eine Landschaft aus brennenden Häusern und verkohlten Ruinen getreten, in der Luft hing ein Gestank nach verbranntem Astral-Äther. Trixie musste würgen und erbrach sich neben der Straße.
Ein Bote – ein kleiner Junge, der die Jacke eines toten SS-Offiziers trug – kam auf sie zugelaufen. »Wer ist der kommandierende Offizier?«, rief er.
»Ich«, antwortete Trixie.
Der Junge sah sie misstrauisch an. »Wer sind Sie?«
»Leutnant Trixie Dashwood, der befehlshabende Offizier der ersten Barrikade am Ujazdow-Boulevard«, sagte Feldwebel Wysochi, der in diesem Augenblick aus einem Bunker torkelte und sich neben Trixie stellte. Er sah fürchterlich aus, aber er war am Leben. Trixie schöpfte neue Hoffnung.
»Wo ist Leutnant Gorski?«, fragte der Melder.
»Er ist tot«, erklärte Trixie und streckte die Hand aus, um die Depesche entgegenzunehmen, die der Junge dabeihatte.
An den befehlshabenden Offizier der ersten Barrikade.
Guten Tag,
es ist von größter Bedeutung, dass die Barrikade bis zum Einbruch der Nacht gehalten wird. Die Verteidigungslinien hinter den Barrikaden sind vom feindlichen Sperrfeuer völlig zerstört worden. Wenn Sie sich ergeben, ist Warschau verloren. Zwischen Ihrer Stellung und dem Stadtzentrum Warschaus gibt es keine Verteidigungslinie mehr. Als Pole bitte ich Sie, keine Mühen zu scheuen, um Ihr polnisches Volk zu verteidigen.
ABBA schütze Sie!
Major Jan Dabrowski
Oberbefehlshaber der Freien Armee Warschaus
»Männer!«, rief Trixie so laut sie konnte den Soldaten zu, die dabei waren, die Barrikaden zu reparieren. »Wir haben eine Botschaft von unserem Oberbefehlshaber erhalten. Wir sollen die Stellung bis zum Einbruch der Nacht halten. Wenn wir fallen, fällt auch Warschau. Aber wir werden nicht zurückweichen und uns nicht ergeben. Ich bin Offizier der Freien Armee Warschaus, und meine Männer werden ihre Pflicht tun.«
Die Kämpfe an diesem Nachmittag wurden noch brutaler und heftiger geführt als beim ersten Mal, falls das überhaupt möglich war. Die SS hatte allem Anschein nach dazugelernt und rückte nun viel vorsichtiger vor, von Haus zu Haus, von Tür zu Tür. Mit Hilfe von Flammenwerfern und Handgranaten nahm sie ein Gebäude nach dem anderen ein.
Außerdem hatten sie jetzt mehrere Panzerwagen als Verstärkung dabei und die Sehschlitze und Schießscharten mit Draht umwickelt, um zu verhindern, dass Brandbomben hineingeschleudert werden konnten. Dieses Mal schien der Vorstoß tatsächlich unaufhaltsam zu sein, doch trotz aller Vorsichtsmaßnahmen und Planung traf die SS in Trixie auf einen Gegner, der ihr in strategischem Denken, Flexibilität und Erfindungsreichtum ebenbürtig war.
Sie schickte Feldwebel Wysochi los, um die Keller der Häuser zu verminen, und ließ sie in dem Moment sprengen, wenn die Sturmabteilungen der SS sie einnahmen. Sie schickte Scharfschützen unter dem Befehl von Korporal Zawadzski los, um den nachrückenden SS-Truppen zuzusetzen, und wies sie an, vor allem die Offiziere und Fernmelder ins Visier zu nehmen. Sie ließ Sprengfallen an den Leichen gefallener SS-Soldaten anbringen, die explodierten, sobald jemand sie bergen wollte.
Doch sie und ihre Männer konnten das Vorrücken nur verlangsamen, es war schier unmöglich, den Vormarsch zu stoppen. In der Abenddämmerung bezogen sechs Panzerwagen am Anfang des Ujazdow-Boulevards Stellung. Sie bildeten die Speerspitze eines weiteren Angriffs auf die Barrikaden.
Korporal Michalski kehrte rußverschmiert und schmutzig von einer seiner Erkundungen zurück und erklärte: »Es ist aus, Leutnant. Da oben stehen sechs Panzerwagen, und außerdem sind an die tausend SS-Hunde aufmarschiert. Sie haben auch Feldgeschütze dabei. Jetzt sind wir dran. Ich glaube, es wäre das Beste, wenn wir uns zurückziehen.«
Trixie warf einen Blick auf die Verteidiger an den Barrikaden. Es waren noch etwa hundertfünfzig übrig, mindestens ein Drittel davon Frauen und ein weiteres Viertel fast noch Kinder. Alle waren erschöpft, durstig und hungrig.
Dann schüttelte sie langsam den Kopf. »Wir können nicht zurückweichen, Korporal. Sie sind immer noch dabei, die Zivilisten aus den Häusern in der Umgebung des Pilsudski-Platzes zu evakuieren. Wenn die Anglos hier durchkommen, wird niemand sie daran hindern können, die Bevölkerung dort abzuschlachten. Wir müssen diese Stellung halten.«
Der Korporal zog die Schultern hoch. »Wie Sie meinen, Leutnant.« Er hielt inne, blickte Trixie in die Augen und salutierte. »Es war mir eine Ehre, unter Ihnen dienen zu dürfen, Miss.« Dann gab er seiner Gruppe aus Jungen und Mädchen ein Zeichen, die daraufhin ihre Brandbomben und die Handgranaten, die sie getöteten SS-Soldaten abgenommen hatten, aufsammelten und Michalski folgten.
Mittlerweile hatte Trixie ihre Mauser gegen eine Webley eingetauscht, die sie einem toten SS-Mann abgenommen hatte. Die Selbstladefunktion erleichterte das Feuern, und sie war auch um einiges präziser. Trotzdem war ihre Handfläche nach einer Stunde vom Rückstoß wund gescheuert, ihr rechtes Ohr so gut wie taub und ihre Finger vom Abdrücken und Nachladen der Magazine voller Blasen und Schwielen. Sie musste an die dreißig SS-Schergen getötet haben, doch offensichtlich nahmen immer sofort zwei neue den Platz desjenigen ein, den sie gerade ausgeschaltet hatte. Und auch die Ränge der FAW wurden immer dünner. Die Barrikaden waren mit zerfetzten und zerstückelten Leichen übersät.
Trixie sah auf ihre Uhr. Erst sechs. Bis Anbruch der Dunkelheit war es noch mindestens eine Stunde. Und mit den Panzerwagen in hundert Metern Entfernung schienen sie keine Chance zu haben, die SS noch aufhalten zu können. Sie brauchten ein Wunder.
Dieses Wunder bewirkte Wysochi.
Wo er so viel Sprengstoff aufgetrieben hatte, war ein Rätsel, aber dem Ausmaß der Detonationen nach zu urteilen, die die beiden gegenüberliegenden Gebäude am Boulevard in Schutt und Asche legten, musste es eine gewaltige Menge gewesen sein. Der Feldwebel hatte gewartet, bis die ersten beiden Panzerwagen auf der Höhe der Gebäude waren, und dann die Sprengladung gezündet. Die Explosion zerriss die Luft, die Erde bebte, die Fassaden der beiden Gebäude flogen heraus, und dann stürzten die beiden Häuser langsam, majestätisch aufeinander zu und begruben die beiden Panzerwagen unter sich.
Die Widerstandskämpfer jubelten kurz auf, doch die Verschnaufpause, die ihnen der Feldwebel verschafft hatte, war nur von kurzer Dauer. Sobald sich der aufgewirbelte Staub gelegt hatte, beobachtete Trixie, wie die SS-Soldaten über den Schutt kletterten. Ohne den Schutz der beiden Panzerwagen gaben sie eine willkommene Zielscheibe ab. Die Polen nahmen sie unter Beschuss, und die Kinder warfen aus den Fenstern der oberen Stockwerke ihre Brandbomben ab. Der Feind verlor Dutzende von Soldaten, trotzdem rückte er immer weiter vor.
Zwanzig hektische Minuten lang stand alles auf Messers Schneide. Der Beschuss durch die SS war gewaltig. So dicht, dass Trixie es nicht wagte, den Kopf über die Barrikade zu heben, um zu sehen, wohin sie schoss. Sie hielt die Pistole durch eine Lücke in der Barrikade und feuerte in der Hoffnung, eine der vielen Kugeln würde ihr Ziel schon erreichen.
Doch mit einem Mal war der ganze Spuk vorbei, wie durch ein Wunder. Als sich die Nacht herabsenkte, hörte man eine Sirene, und dann zog sich die SS erneut zurück. Trixie wagte kaum zu glauben, was sie sah, und sank hundemüde auf die Knie. Im gleichen Moment spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter.
Als sie aufsah, blickte sie in das Gesicht eines jungen Leutnants mit einer grünen Jacke. »Haben Sie hier den Befehl?«, fragte er.
Trixie hatte nur noch die Kraft zu nicken.
»Sie und Ihre Kämpfer sollen sich in die Jerusalem-Allee zurückziehen. Halten Sie sich dicht an den Häusern. Ich werde die Nachhut bilden. Viel Glück.«
Sie spürte, wie Wysochi ihr half, wieder auf die Beine zu kommen. Sie versuchte, den Schutt aus dem Haar zu schütteln, und sah sich noch einmal um. Von den zweihundert Kämpfern am Anfang der Schlacht hatten höchstens fünfzig überlebt. Das war sehr knapp gewesen.
»Wir ziehen uns in die Jerusalem-Allee zurück«, rief sie ihren Männern mit heiserer, ausgetrockneter Stimme zu und wandte sich an den Leutnant. »Danke, Leutnant.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, die Bevölkerung von Warschau hat Ihnen zu danken.«
Sturmbannführer Hartley saß wie betäubt in seinem Zimmer und spielte gedankenverloren mit seinem Glas. Eine fast leere Flasche von Blood Heat’s Finest 20prozentiger Lösung stand auf seinem Schreibtisch, stummer Zeuge seiner Selbstkasteiung.
Er griff nach der Flasche und versuchte, sein Glas zu füllen, doch seine Hand zitterte dermaßen, dass er die rote Flüssigkeit auf dem Tisch verschüttete. Er lallte einen Fluch, zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und versuchte, die Lösung aufzuwischen. Schließlich gab er auf und senkte die Stirn in die erfrischend kalte Pfütze.
Auch ohne sternhagelvoll zu sein hätte er nicht fassen können, wie die Polen – diese schlecht bewaffneten und schlecht ausgebildeten Polen, noch dazu in der Minderheit – seine geliebten SS-Truppen in die Flucht hatten schlagen können.
Er hatte noch nie Männer – oder Frauen! – so kämpfen sehen. Als hätten sie keine Angst vor dem Tod. Er hatte die Unruhen miterlebt, er war ein Veteran, der glaubte, alles durchgemacht zu haben, was der Krieg an Schrecken zu bieten hatte, aber so etwas wie diese polnischen Widerstandskämpfer hatte er noch nie erlebt. Sie wüteten wie Besessene und warfen sich todesmutig in die Schlacht gegen die Sturmtruppen, ohne Rücksicht auf Verluste. Einen Augenblick fragte er sich, ob sie unter Drogen standen oder man ihnen zusätzliche Blutkonserven verabreicht hatte, doch im Innern war ihm klar, wie lächerlich das war. Nur die Verzweiflung setzte derartige Kräfte frei … und die Bestie, die sie anführte.
Wie nannten seine Sturmtruppen diese Frau noch? Lady Death?
Kein Wunder, dass er versagt hatte. Und für einen Versager gab es in der SS nur eins.
Sturmbannführer Hartley sah auf die Uhr. Es war jetzt fast acht. Seine beiden kleinen Söhne würden bereits im Bett liegen. Er legte den an seine Frau adressierten Umschlag vor sich auf den Tisch. Dann griff er nach seiner Mauser und jagte sich eine Kugel in den Kopf.